
Freiheit zwischen Erfahrung und Erwartung
„Ich möchte nicht mehr gedemütigt werden, wenn ich privat meine Muttersprache verwende, und ich möchte auch mitentscheiden können, ob ich talentiert für meine jetzige Schule bin oder doch eine andere besuchen möchte“, meinte einer der 30 SchülerInnen mit Migrationshintergrund, die in diesen Tagen in der Kooperativen Mittelschule in der Wiener Pazmanitengasse ihre Mehrsprachigkeit unter Beweis stellten. Bereits zum dritten Mal findet der Redewettbewerb „SAG’S MULTI!“ statt und ich bin jedes Mal aufs Neue bewegt von der Fähigkeit, mehr noch vom Mut der jungen Leute, über sich, ihre Lebensumstände und ihre Erwartungen an ein gutes und sinnerfülltes Leben auf so unmittelbare, originelle und eindringliche Art zu sprechen.
Der Wettbewerb steht heuer unter dem Motto: „Lasst uns die Freiheit erobern!“ Dabei treibt die Jugendlichen vor allem der Wunsch an, sich aus den engen, als ungerecht empfundenen, von Erwachsenen erzwungenen Verhältnissen zu befreien und – im wahrsten Sinn des Wortes – ins Freie zu treten.
Naturgemäß widmen sie sich vor allem den persönlichen Beziehungen: Die übrigen Familienmitglieder, FreundInnen oder LehrerInnen spielen eine große Rolle. Aber auch die Lebensumstände ihrer AltersgenossInnen, die zu Kinderarbeit, Kriegführen oder Prostitution verurteilt sind, beschäftigen sie sehr. Da ist eine Generation, in zum Teil sehr schwierigen Verhältnissen, auf der Suche nach sich selbst und die ZuhörerInnen können das, wenn schon nicht hautnah, dann zumindest sprachnah, miterleben. Für mich ist das ein großes Geschenk.
Dass diese Suche auch im Erwachsenenalter nicht aufhört, sondern – durchaus mit Schmerzen – auf immer neue Weise fortgesetzt werden will, macht das jüngste Buch der israelischen Soziologin Eva Illouz mit dem Titel „Warum Liebe weh tut“ deutlich. Eindrucksvoll zeigt sie, dass nicht nur unsere Vorstellungen von Liebe, sondern auch die ganz konkreten Gefühle, die unser Liebesleben bestimmen, wesentlich von den gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit geprägt werden. Entgegen aller Psychologisierungsversuche, die die „Schuld“ in erster Linie in den frühkindlichen Erfahrungen der Betroffenen zu finden hoffen, lassen sich die jeweiligen Gemütszustände keineswegs auf rein individuelle Probleme reduzieren, wie eine Fülle von – gut verkaufbaren – Beziehungsratgebern weismachen will.
Illouz unterlegt ihre Überlegungen zu den aktuellen Beziehungsverhältnissen mit dem Thema „Freiheit“ und bettet damit Berichte von jungen Menschen in eine breit angelegte Gesellschaftsanalyse ein, welche zu erklären versucht, warum es uns in den Versuchen des Miteinanders so geht, wie es uns geht.
Nun findet der Redewettbewerb „Lasst und die Freiheit erobern!“ just zu einem Zeitpunkt statt, in dem der politische und ökonomische Anspruch auf „Freiheit“ drauf und dran ist, Ungleichheit (etwa in der Zunahme von mittlerweile unvorstellbaren Einkommensunterschieden) in einem Ausmaß zu schaffen, das bei immer mehr Menschen das Gefühl der Befreiung in existentielle Verunsicherung umkippen lässt.
Freiheit, Wahl und Bindungslosigkeit
Der Motor dafür heißt „Konsumgesellschaft“, der die Epoche asketischer Arbeitsethik abgelöst hat und nunmehr die Menschen mit einer bislang ungekannten Gewalt zwingt, permanent zu wählen, ohne dass sie in der Lage wären, dafür noch die entsprechenden Entscheidungsgrundlagen herzustellen. Freigesetzt erscheint hier in erster Linie ein ebenso umfassendes wie gefühlsgetriebenes Begehren, das möglichst frei flottierend seine Erfüllung in Vergnügen, Wunscherfüllung und Zufriedenheit sucht. Und es geht um viel; immerhin soll damit das wirtschaftliche Geschehen in Gang gehalten werden. Da trifft es sich, dass es zur Produktionsweise dieser „Wunscherfüllungsmaschine“ gehört, dass sich eine Befriedigung immer nur für den Augenblick herstellen lässt, um sogleich von der nächsten Welle eines unerschöpflichen Begehrens abgelöst zu werden.
Illouz beschreibt anschaulich die Auswirkungen, die sich daraus für die erotischen Anziehungskräfte, die Sexualität und damit für das Liebesleben ergeben, für die jegliche Art der Bindung (oder gar der moralischen Verbindlichkeiten) vor allem bei Männern als eine Einschränkung der jeweils eigenen Freiheit erscheint. Das Ergebnis ist eine zunehmend drückende Spannung zwischen Autonomie und Anerkennung, der auf den derart freigesetzten Individuen lastet.
Besonders hängen geblieben bin ich bei der Vermutung, dass bei der Einbeziehung des Liebeslebens in die „große Transformation“ (Carl Polyani), der umfassenden Ökonomisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, der ästhetischen Ausformung jeglicher Verkehrsformen ganz besondere Bedeutung zukommt. Gerade bei jungen Menschen lässt sich der Schönheitsbegriff in besonderer Weise an ihren Vorstellungen der Körperlichkeit festmachen; für sie sind ästhetische Vorlieben und Beziehungswünsche enger miteinander verknüpft, als gemeinhin angenommen.
Aber auch die VertreterInnen kultureller Bildung nutzen gerne das Argument der umfassenden Ästhetisierung aller Lebensbereiche (ohne freilich die Liebensvorstellungen der jungen Menschen anzusprechen, obwohl in dieser Altersgruppe alles darum kreist), um ihrem Fachgebiet mehr Aufmerksamkeit und damit wohl auch mehr Ressourcen zu widmen. Was damit aber – zumindest auch – bewirkt wird, dazu schlägt Illouz eine neue Seite auf.
Zum Wandel des Schönheitsbegriffs
In ihrer Analyse ausgewählter literarischer Zeugnisse des 19. Jahrhunderts wird klar, dass der Schönheitsbegriff bereits damals handlungsleitend für das Beziehungsleben gewesen ist. Und doch stellt Illouz kategoriale Unterschiede fest, die vor allem darin bestehen, dass der Schönheitsbegriff ursprünglich an das spezifische soziale Milieu gebunden war, der damit gleichermaßen Sicherheit und Zwang (dem zu entkommen oft nicht einmal gedacht werden konnte) repräsentierte. „Schönheit“ war damit eine gleichermaßen körperliche und geistige Eigenschaft, damit eine Synthese von wandelbaren, außengesteuerten Qualitäten wie Mode und Kosmetik und zeitlosen bzw. inneren Haltungen und Wertvorstellungen, die jede Entscheidung präformierten und damit das Begehren regulierten.
Das spezifisch Neue am Schönheitsbegriff der Konsumgesellschaft besteht in der weitgehenden Trennung der inneren und äußeren Qualitäten. Auf diese Weise wurde der Schönheitsbegriff scheinbar von seinen ethischen und sozialen Implikationen befreit, was bleibt ist die schiere Oberfläche; ihr Zweck scheint ausschließlich darauf gerichtet, ein befreites Begehren zu stimulieren.
Ihrem Gegenstand entsprechend handelt Illouz diese Entwicklung anhand der Ästhetisierung des Körpers ab. Diese erfolgte nicht zufällig, sondern entsprechend den strategischen Vorgaben der Kosmetik-, Mode- und Filmindustrie, die damit eine wesentliche Funktion in der Realisierung konsumgesellschaftlicher Verhältnisse übernommen hat. Ihre Verfahren der Entkontextualisierung schufen ganz neue Möglichkeiten, den Körper an sich zu propagieren und zu erotisieren. Entstanden ist damit eine unendliche Bilderflut, die in einem Ausmaß Gefühle nicht nur ausdrücken, sondern überhaupt erst auslösen und auf diese Weise beginnen, ein Eigenleben zu entwickeln, die konkrete Erfahrung und Erwartung auseinanderdriften lässt.
Das betrifft insbesondere das Frauenbild, dessen Ideal einer sexualisierten Schönheit zur Grundlage einer auf permanente Erneuerung gerichteten Begehrensproduktion mutiert ist, deren hauptsächliche Antriebskräfte von Mode, Film, Werbung, Musik und Kosmetik gespeist werden. Bewirkt wurde so ein Wandel von Schönheit zu „Sexyness“, der sich im Wesentlichen auf körperliche, sprachliche und kleidungsbezogene Codes bezieht, die dem Konsumismus eingeschrieben sind (um auf diese Weise die bestehende Geschlechterungleichheit mit ebenso unbewusst wie unmittelbar wirkenden Mitteln fortzuschreiben).
Die Bedeutung ästhetisch geformter Oberflächen als unerschöpfliche Gefühls- und Begehrensproduzenten
Wenn in der laufenden Schulentwicklung „Individualisierung“ ganz groß geschrieben wird, dann bleibt oft unausgesprochen, welch großer Anspruch für die derart Individualisierten damit verbunden ist. Ihnen kommt die Aufgabe zu, ihr Selbst als unstillbare BegehrensträgerInnen immer wieder neu zu erfinden und dabei auch noch die Lust, permanent alles selbst „frei“ entscheiden und auswählen zu können, aufrecht zu erhalten. Dieser Generalanspruch macht nur zu leicht vergessen, dass diese, auf ihre – den traditionellen Bindungskräften entkleidete – Subjektivität zurückgeworfenen Individuen die Angst beschleicht, in dieser Woge der ästhetischen Reizüberflutung den Fuß aus eigener Kraft nicht mehr auf den Boden der Realität zu bekommen.
Verkauft wurde diese Entwicklung freilich als eine umfassende Befreiung, mit einigem Recht, wenn seither im Prinzip alle – über die sozialen, ethnischen, religiösen oder sonstigen Grenzen hinweg – am Markt der schönen Produkte und Dienstleistungen teilnehmen können, vorausgesetzt sie haben die materiellen Mittel dafür. Aber wir haben es nach wie vor mit einem Markt zu tun, auf dem der Austausch von Gütern zwischen Anbietern und Nachfragern verhandelt wird.
Dabei aber kommt der Ästhetisierung noch einmal eine besondere „Funktion“ zu. Immerhin geht zumindest die klassische Wirtschaftstheorie davon aus, dass das Marktverhalten von rationalen Entscheidungen der MarktteilnehmerInnen zur Nutzenmaximierung geprägt sei. Nun waren die Märkte wohl schon immer durch ein gerütteltes Maß an Irrationalität geprägt; das nunmehrige Ausmaß der Ästhetisierung weist aber möglicherweise über diese Art von Fehleranfälligkeit hinaus, weil es die Irrationalität nicht nur in Kauf nimmt, sondern zum vorrangigen Handlungsprinzip – jedenfalls auf der Seite der NachfragerInnen – erklärt.
Und so werden potentiellen KonsumentInnen, mit dem Versprechen mit Hilfe des Kaufs von Waren alle Träume und Phantasien realisieren zu können, um auf diese Weise der ewig bohrenden Frage nach der eigenen Identität näher zu kommen, die Grundlagen rationaler Entscheidungsfindung entzogen. Und in der Tat, vieles spricht dafür, dass von Begehren getriebene Konsumaktivitäten immer weniger von rationalen Überlegungen, sondern von einer imaginären Vergnügungssuche, um nicht zu sagen, von einer zunehmend verzweifelten Zerstreuungs- und Vergnügungssucht angetrieben wird.
Wie überwinden wir das „ästhetische Stadium“?
Mir fällt in diesem Zusammenhang der Versuch des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard ein, die Existenz des Menschen in drei Stadien zu beschreiben. Als ursprünglichste Stufe erscheint ihm das „ästhetische Stadium“. In ihm würde der Mensch ganz in der Unmittelbarkeit sinnlicher Empfindung leben, die ausschließliches Motiv und Ziel seines Handelns sei. Dabei sei er zu einer unreflektierten Existenzform verurteilt, die verhindere, mit sich ins Klare zu kommen. Daher rühre auch die besondere Form der Verzweiflung, in der der Mensch spüre, dass er nicht er selbst, sondern in Äußerlichkeiten gefangen sei. Es bleibe dem Voranschreiten in ein „ethisches Stadium“ vorbehalten, sich vernünftig zu verhalten und dabei Verantwortung für sich selbst und die Welt zu übernehmen.
Die Assoziation liegt nahe, dass die gegenwärtige Phase der Ästhetisierung aller Lebensbereiche auf der Akzeptanz eines massenhaft auftretenden „homo consumens“ (Erich Fromm) beruht, der – mit Hilfe der verlockenden Angebote der Kulturindustrie – gelernt hat, rationale Entscheidungsgrundlagen hinter sich zu lassen und sich stattdessen unter Aufbieten seiner ganzen Unmittelbarkeit im „ästhetischen Stadium“ einzurichten, und dieses, wenn schon nicht als Befreiung, so doch als einzig mögliche Existenzform erkannt hat.
Dieser Prozess wurde und wird noch immer in erster Linie als eine Befreiung erlebt, die darauf gerichtet ist, bisher tragfähige ethisch-moralische Bindungen zu schwächen. Vor dem Diktat dieser Form der marktwirtschaftlichen Befreiung der Gefühle zur Herstellung massenhafter Unmittelbarkeit mit ästhetischen Mitteln bleibt unterbelichtet, dass es sich dabei – zumindest auch – um eine Form der Enteignung sozialer Verbindlichkeiten handelt. Nur mehr den wenigsten ist bewusst, dass in diesem Setting jeder Freiheitsgrad, der gewonnen wird, die Grundlagen zerbrechen lässt, in denen Freiheit gelebt werden kann.
Auch SchülerInnen sind unteilbar – erst das Zusammenwirken von Gefühl und Verstand schafft Befreiung
Im Aushalten dieses fundamentalen Widerspruchs – darauf hat Illouz mich unsanft gestoßen – kommt der ästhetischen Verfasstheit zentrale Bedeutung zu. In Bezug auf die Beschäftigung mit ästhetischen Fragen im schulischen Kontext bedeutet das einmal mehr Abschied zu nehmen von der isolierten, allenfalls kompensatorischen Funktion von Kunst und Kultur im Unterricht. Gerade wenn Schule sich nicht schuldig machen will, an einer weiteren Ausschaltung rationaler Überlegungen mit Hilfe ästhetischer Mittel mitzuwirken, bedarf es neuer Formen der Zusammenschau, die oben skizzierte Zusammenhänge erkenn- und verhandelbar machen. Rationalität und Emotionalität sind untrennbar verbunden, sie bedingen einander, ungeachtet der Beschäftigung mit spezifischen Unterrichtsinhalten, um Lernen zu ermöglichen.
Die Existenz der vermeintlich ausschließlich auf Rationalität fußenden Unterrichtsinhalte (und damit Unterrichtsgegenstände) ist eine Illusion. Und umgekehrt zwingt die ästhetische Überformung uns an das, was ästhetisch der Fall ist, nicht nur mit emotionalen, sondern auch und gerade mit rationalen Mitteln anzunähern.
Kierkegaard weist einen Weg, wenn es darum geht, die ungleichen Gewichtungen von Ästhetik und Ethik wieder besser ins Lot zu bekommen. Es ist das Mittel der Ironie: Indem sich der Mensch zu sich selbst ironisch, also distanziert, verhält, kann er auf neue Weise auf sich und seine Lebensumstände schauen – und beginnen, sich damit zu beschäftigen, sich aus diesen zu befreien.
Die TeilnehmerInnen am diesjährigen „SAG’S MULTI!“-Wettbewerb machen es uns vor. Sie verfügen über eine Menge an Ironie, können über sich (und andere) lachen und weinen. Gerade deswegen sind sie in der Lage, gleichermaßen bewegend und vernünftig über sich und die Welt zu reden, um damit den Anspruch aufrechtzuerhalten, sich von fremd verschuldeten Zwängen zu befreien, ohne auch gleich ihr eigenes Fundament zu zerstören.
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