Geschichte im Vergleich – Zwischen aufgeregtem Interesse und beharrlicher Amnesie
Der Erste Weltkrieg ist „in“. In diesen Tagen werden die Feuilletons der Nachrichtenmedien von der hundertsten Wiederkehr des Beginns des Ersten Weltkrieges beherrscht. Die Zeitung Der Standard etwa machte sich mit Hilfe seiner LeserInnen auf die Suche nach privaten Photos und veranstaltet eine prominent besetzte Podiumsdiskuskussion zu den Auswirkungen des Krieges auf den europäischen Einigungsprozess.
Den Hintergrund dazu bilden eine Reihe von umfangreichen Studien (siehe etwa Manfried Rauchensteiner, Herfried Münkler oder Christopher Clark), die versuchen, dem politischen Geschehen, das den gesamten Verlauf des 20. Jahrhunderts nachhaltig beeinflussen sollte, neue Sichtweisen abzugewinnen. Das große öffentliche Interesse ist ganz offensichtlich einer Angstlust geschuldet, die die tiefgreifenden Umwälzungen, die mit dem Ausbruch des Krieges sichtbar wurden, in ein mehr oder weniger explizites Verhältnis zu den aktuellen gesellschaftlichen Erschütterungen in mehr oder weniger berechtigte Beziehungen setzt. Besonders weit geht in diesem Zusammenhang Philip Blom in seinem Beitrag im Falter „Das Leben im Hochgeschwindigkeitszug“, wenn er die massenhafte Anwendung neuer Technologien, die Verflachung der Kultur, den Machtgewinn politischer Nationalismen und den allseits grassierenden Konsumismus als gleichermaßen für 1914 wie für 2014 bestimmende Verunsicherungsfaktoren begreift.
Als Grundlage seiner Analyse dient ihm ausgerechnet ein Vortrag des dadaistischen Autors Hugo Balls aus dem Jahr 1917, dem er eine ungebrochene Interpretationskraft zuschreibt: „Der Mensch verlor sein himmlisches Gesicht, wurde Materie, Konglomerat, Tier, Wahnsinnsprodukt abrupt und unzulänglich zuckender Gedanken. Die Welt wurde monströs, unheimlich, das Vernunfts- und Konventionsverhältnis, der Maßstab schwand. Und ein weiteres Element trag zerstörend, bedrohend mit dem verzweifelten Suchen nach einer Neuordnung der in Trümmer gegangenen Welt zusammen: die Massenkultur der modernen Großstadt. Komplektisch drängten die Gedanken und Wahrnehmungen auf die Gehirne ein, symphonisch die Gefühle. Maschinen entstanden und traten anstelle der Individuen. Eine Welt abstrakter Dämonen verschlang die Einzeläußerung, verzehrte die individuellen Gesichter in turmhohen Masken, verschlang den Privatausdruck, raubte den Namen der Einzeldinge, zerstörte das Ich und schwenkte Meere von ineinander gestützten Gefühlen gegeneinander“.
Weil sich diese Beobachtungen leicht auch auf das Heute beziehen ließen, so Blom, sei es für uns ZeitgenossInnen „leichter, als wir denken, die Menschen von 1914 zu verstehen“, die Zeugen davon wurden, wir triviale Ereignisse aus dem Ruder liefen, u.a. weil Staaten demographische Entwicklungen ignorierten und versuchten, Reformbedarf solange auszusitzen, bis sie von der Landkarte gefegt wurden.
Und was ist mit 80 Jahren Bürgerkrieg in Österreich?
Eine der unmittelbaren Konsequenzen des verheerenden Kriegsausgangs für Österreich war die Implementierung eine demokratischen Verfassung und mit ihr das Aufkommen eines Kulturkampfes vor allem zwischen Christlich-Sozialen und Sozialdemokraten, der im Verlauf der Ersten Republik mit zunehmender Härte ausgefochten wurde. In diesem Zusammenhang könnte an ein weiteres tiefgehendes politisches Ereignis erinnert werden, wenn vor nunmehr genau 80 Jahren ein Bürgerkrieg das Land erschütterte, dessen Ausgang den Weg zur Implementierung einer faschistischen Diktatur österreichischen Zuschnitts frei machen sollte. Auch zu dieser historischen Phase gab es zuletzt Versuche der Neuinterpretation vor allem in Form der umfangreichen Monographie von Emmerich Tálos „Das austrofaschistische Herrschaftssystem“. Darin liefert der Politikwissenschafter mit seiner systematischen Darstellung des politischen Systems einen fundierten Beitrag, um die stereotypen Erklärungsmuster, wonach die Austrofaschisten erstens gar nicht so schlimm waren und zweitens gar keine andere Wahl hatten, als angesichts der Bedrohung der österreichischen Eigenständigkeit durch die Nazis alle oppositionellen Kräfte auszuschalten und auf diese Weise die demokratischen Errungenschaften zu opfern.
Es war wohl kein Zufall, dass seine Erkenntnisse – jedenfalls im Vergleich zum aktuellen Weltkriegshype – auch und gerade von Seiten der betroffenen Nachfolgeparteien ÖVP und SPÖ – weitgehend unkommentiert blieben, sodass man zum Eindruck kommen könnte, die Zeit von 1933/34-1938 sei ganz im Unterschied zu 1914-1918 historisch weitgehend geklärt und könne damit als abgeschlossen angesehen werden. Und in der Tat hat der Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische deutsche Reich den Träumen eines genuin österreichischen Faschismus spätestens 1938 ein Ende gesetzt und die ihn repräsentierenden gesellschaftspolitischen Widersprüche unter sich begraben.
Über den Prozess der Versiegelung politischer Gegensätze
Nach 1945 fanden sich Konservative und Sozialdemokraten mehr oder weniger Zähne knirschend in der Bereitschaft zusammen, die alten Konflikte nicht mehr gewaltsam auszutragen sondern sich die junge Zweite Republik zugunsten ihrer jeweiligen Klientel friedlich untereinander aufzuteilen. Eine durch die wirtschaftliche Nachkriegsprosperität ermöglichte bessere Umverteilung („Jeder soll etwas vom Kuchen abbekommen“) sollte es möglich machen, die ideologischen Gegensätze unter einer sozialpartnerschaftlichen und großkoalitionären Fassade zu verräumen bzw. bestenfalls auf vergleichsweisen Nebenschauplätzen wie dem Bildungs- oder Kulturbereich friedlich auszutragen (um damit das eigene Profil weiter pflegen zu können).
Darunter aber wucherten sie weiter, die alten Feindschaften, die mit Hilfe von Symbolen wie dem Portrait des austrofaschistischen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuss, das bis heute in den Räumen des ÖVP-Parlamentsclubs hängt, jederzeit wieder ins politische Bewusstsein gerückt werden konnten. Eine besondere Neigung zur Eruption gab es in den Jahren der ÖVP-FPÖ-Regierung 2000 – 2006, als der damalige Nationalratspräsident noch einmal vom „roten Gsindl“ sprach und zusammen mit dem Justizminister in der Öffentlichkeit Überlegungen anstellte, die oppositionellen Kräfte, die sich angesichts der „Sanktionen des Auslands“ nicht bedingungslos hinter die Regierung stellen würden, wegzusperren.
Diese gelegentlichen Scharmützel konnten immer nur sehr oberflächlich darüber hinwegtäuschen, dass diese Form der sozialpartnerschaflichen Versiegelung und damit verbundenen Tabuisierung der gesellschaftlichen Wiedersprüche zwischen Kapital und Arbeit nicht nur zu einer partiellen Amnesie – siehe die Nichtrezeption von Tálos – führen, sondern zu einer Entpolitisierung von Politik ganz insgesamt, der mittlerweile so etwas wie einen politischen Gestaltungswillen erst gar nicht mehr aufkommen lässt.
Ganz offensichtlich rächt sich – spät aber doch – heute die sukzessive Auszehrung ideologischer Grundsätze, auf denen sich einst die politischen Gegnerschaft begründeten. Statt diese im eines öffentlichen Diskurses weiter zu entwickeln, entschieden sich die politischen Eliten für das große Vergessen und setzen statt dessen auf eine Pragmatik des Machterhaltes, die sicher stellen will, „dass nichts passiert“ und deren VertreterInnen bereit sind, jedes Thema aufzugreifen, das am Boulevard als relevant gehandelt wird.
Vom Proletariat zum Prekariat
Gleichzeitig passiert Vieles, gegenüber dem sich österreichische Politik zunehmend entscheidungsschwach zeigt. So sind die wachsenden Brüche, die auch die österreichische Gesellschaft durchziehen und eine damit verbundene Verunsicherung weiter Teile der Bevölkerung mittlerweile unübersehbar. Sie machen deutlich, dass an die Stelle des Proletariats, das vor hundert Jahren angetreten ist, um seine Rechte zu kämpfen (und vieles davon einzulösen vermochte) heute ein nicht weniger diskriminiertes Prekariat getreten ist, das bislang keine adäquate politische Repräsentation gefunden hat.
Dazu kommt ein zunehmender, vor allem von global agierenden Finanzakteuren geschaffener Druck von außen, die sich in ihrem Durchsetzungswillen immer schamloser über demokratische Legitimationserfordernisse hinwegsetzen (siehe dazu etwa die aktuelle Diskussion rund um den von neoliberalen Kräften angezettelten „Wettbewerbspakt“, dessen Realisierung zu einer nachhaltigen Verschlechterung der Lebensverhältnisse vieler ÖsterreicherInnen führen würde), ohne dass österreichische Politik dem ein eigenständiges Konzept politischen Handelns entgegen zu setzen vermag. Dass das die führenden Köpfe in den Regierungsparteien auch gar nicht mehr wollen, haben sie mit der Bestellung eines in Sache völlig unerfahrenen Jungpolitikers zum Außenminister eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Seine Aufgabe reduziert sich in Ermangelung jeglicher diplomatischer Expertise darauf, mit seinen guten Sympathiewerten im Inland zu punkten.
Und da ist zum anderen die sinkende Bereitschaft der Bevölkerung, sich in dieser Form des Politikmachens noch einmal wieder zu erkennen (die Zustimmung zu den Großkoalitionären ist seit den 1950er Jahren von über 90% auf zuletzt knapp über 50% gesunken).
Anlässlich des beharrlichen Schweigens anlässlich der Veröffentlichung des Buches von Tálos vermute ich, dass mit dem Thema „Austrofaschismus“ in Österreich nach wie vor ein beträchtlicher Konfliktstoff zwischengelagert wird, der mehr mit der derzeitigen Erstarrung des politischen Systems zu tun hat, als uns eine zeitvergessene Öffentlichkeit weismachen möchte. So verständlich es ist, dass eine technokratische Politik nicht an ihre Wurzeln erinnert werden will – schließlich sollen „keine alten Wunden aufgerissen werden“ – so verweist die Verweigerung, historische Bezüge herzustellen, ungewollt doch auf eine zentrale Ursache dafür , dass heute die Energien zur politischen Erneuerung gegen die grassierende Demokratiemüdigkeit weitgehend aufgebraucht erscheinen.
And the winner is…
Als große Nutzerin dieser Form der Entwertung eines historischen Bewusstseins erweisen sich rechtspopulistische Kräfte, die sich auf diese Weise nicht nur als die Retter des kleinen Mannes, sondern gleich auch als Retter der von der EU gefährdeten nationalen Souveränität präsentieren. Immer wieder mit nationalsozialistischem Gedankengut liebäugelnd, können sie sich auf die allgemeine Geschichtsvergessenheit berufen, wenn sie sich als einzige einfache Erklärungen für einen Weg aus der Krise anbieten. Als solche empfehlen sie sich als durchsetzungsstarke Kraft, die sich kraftmeierisch nicht nur gegenüber den ideologisch ausgedünnten Altpartien, sondern darüber hinaus auch gegen eine selbstläufig gewordene Brüsseler Bürokratie zu profilieren vermag.
Während ein anderer Politologe, Anton Pelinka anlässlich der 125-jährigen Wiederkehr der Gründung der SPÖ „keinen Hoffnungsschimmer“ mehr sieht, ermutigt der Philosoph Konrad Liessmann zu einer „Wiedergewinnung des Politischen“, um hundert Jahre nach der ersten großen Verunsicherung noch einmal als glaubwürdiger, die Geschehnisse (mit-)bestimmender Akteur ernst genommen zu werden.
Dies wäre eine der Voraussetzungen, um – wie in den 1970er Jahren erstmals zaghaft erprobt – neue Allianzen mit der Zivilgesellschaft als mittlerweile einzigem Anwalt sozialer Diskriminierung und so auch mit vielen KünstlerInnen und Kulturschaffenden zu erproben, die heute auf dem steinigen Weg durch die Marktwirtschaft politisch weitgehend heimatlos geworden sind.
Sie könnten aber – siehe das Beispiel Island, wo nach der großen Krise der Punkmusiker Jon Gnarr mit befreundeten Künstlern eine eigene Partei gegründet und mit ihr eine Regierung gebildet hat – das politische Geschäft übernehmen. Ob eine solche Alternative die diffusen Befürchtungen auch bei uns in Österreich, einem Land mit einer allzu langen autoritären Vergangenheit, zu beruhigen vermögen, sei dahingestellt.
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