
Hauptsache Messen
Messen ist super. Mehr: Messen ist überlebenswichtig geworden. Denn es gibt kein Leben außerhalb seiner Messbarkeit mehr. Unsere Weltwahrnehmung scheint in zunehmendem Maße darauf fokussiert zu sein, was an ihr gemessen werden kann. Was hingegen nicht gemessen werden kann, das existiert nicht. Und sein Nichtvorhandensein wird im Zeitalter umfassender Quantifizierung nicht mehr als ein Mangel bzw. als ein Verlust wahrgenommen.
Kein Wunder also, dass sich nunmehr auch VertreterInnen kultureller Bildung auf den Prozess der Überführung ihres Metiers in möglichst vergleichbare Daten eingelassen haben. Auch sie sind gezeichnet von den Konsequenzen des PISA-Diskurses, die darauf hinauslaufen, Bildung auf einige wenige Daten zu ihrer systemischen Wirksamkeit reduzieren zu sollen. Mit dem Überhandnehmen öffentlicher Zahlenspiele in Form von Rankings meinten selbst ursprüngliche SkeptikerInnen in den Reihen kultureller Bildung nicht länger nachstehen zu dürfen und die Messbarkeit ihres Feldes zum zentralen Überlebensmittel erklären zu müssen.
Im Rahmen internationaler Begegnungen beschäftigte ich mich 2007 erstmals mit der Frage „Ist kulturelle Bildung messbar?“. In einem Beitrag bei einer Tagung in Wildbad Kreuth zu Evaluierungsfragen habe ich zur Rettung des Werts des Unmessbaren auf die besondere „Werthaltigkeit“ von kultureller Bildung hingewiesen. Dabei wollte ich deutlich machen, dass es umfassende, in der Regel historisch gewachsene Wertvorstellungen sind, die – ob wir wollen oder nicht – das, was wir als kulturelle Bildung bezeichnen, wesentlich mitbestimmen, ohne dass dies in der „Bewertung“ einzelner Kennzahlen hinlänglich Ausdruck finden könnte.
Zur Doppelnatur von Arbeit
Ganz offensichtlich bin ich da auf einen unauflösbaren Widerspruch gestoßen, der es verdient, grundsätzlicher verhandelt zu werden. Zu Hilfe gekommen ist mir dabei die klassische Arbeitswerttheorie von Karl Marx. Jetzt weiß ich schon, dass die Marx’sche Analyseinstrumente zum aktuellen Stand der kapitalistischen Produktionsweise nicht eben Konjunktur haben (was nicht heißt, dass „modernere“ Gegenentwürfe bislang besser in der Lage gewesen wären, wirksame Handlungsanleitungen zur Lösung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Krise zu liefern). Und doch scheint sein Versuch der Aufteilung des Arbeitsbegriffes in „zwei Naturen“ nach wie vor überlegenswert. Für Marx war Arbeit zuallererst eine wertschöpfende Form der Gestaltung von Welt (er nannte sie „formgebende Tätigkeit“, die das „Feuer der Arbeit“ nährt), die niemals im Voraus quantifiziert werden kann (und so auch nicht in eine Ware umgewandelt werden kann) und erst in zweiter Linie war ihm Arbeit Ausdruck einer Quantität (in Form verausgabter Arbeitsstunden), die käuflich und so mit einem bestimmten Preis versehen werden kann.
Der spezifische Charakter aktuellen Wirtschaftens läuft darauf hinaus, Arbeit auf seine Natur als quantifizierbare Ware zu reduzieren. Entsprechend bemühen sich alle am Wirtschaftsprozess Beteiligten, Arbeit warenförmig zu machen. Sie alle benutzen ihren ganzen Scharfsinn dazu, Arbeit zu quantifizieren, zu messen und so in Bezug auf ihre Wirkung („Produktion von Mehrwert“) zu optimieren. Und folglich versucht das wachsende Heer der Arbeitssuchenden mit allen Mitteln, seine Arbeitskraft zur Ware zu machen, Lebensläufe zu schreiben und umzuschreiben mit dem Ziel, sich als Anbieter quantifizierbarer Arbeitseinheiten darzustellen. Wen wundert es da, wenn eine darauf bezogene Logik auch auf den Bildungsbereich überschwappt, um das Unmögliche doch noch möglich zu machen, in Vorbereitung auf die Arbeitswelt Bildung in Zahlenkolonnen umzuwandeln.
Die Dominanz der Warennatur von Arbeit und das Ende des Kapitalismus
In ihrem verzweifelten Wollen, Arbeit zu standardisieren, vergessen ihre Apologeten, dass sie damit die Essenz dessen, was Arbeit (auch) ist, preisgeben: der unendlich vielschichtige Umgang des Menschen mit seiner Umgebung, mit der Welt. Um die daraus resultierende Wirkung zu verdeutlichen, lohnt ein Blick in den Science-Fiction-Klassiker „Invasion of the Body Snatchers“ von 1956. Darin wird die Welt von Aliens angegriffen. Menschen werden von innen her erobert, bis nichts mehr von ihrem menschlichen Geist und ihren Gefühlen übrig ist. Ihre Körper bleiben als bloße Hüllen zurück, die einst einen freien Willen enthielten und nun arbeiten, das alltägliche Leben absolvieren und als menschliche Simulacra, also bloße Zeichen funktionieren, die von den nicht quantifizierbaren Launen der menschlichen Natur befreit sind. Dieses Szenario – jedenfalls in der Interpretation des Wirtschaftswissenschaftlers und gegenwärtigen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis in seinem Plädoyer zur Rettung des Kapitalismus – entspricht etwa dem, was entstehen würde, wenn die menschliche Arbeit vollkommen auf seine quantifizierbaren Anteil reduziert würde, um sie so ins hegemoniale ökonomische Modell einzufügen.
Die Pointe, die Varoufakis mit der Verweigerung, die Doppelnatur von Arbeit anzuerkennen, parat hat, besteht im Befund, dass eine umfassend erfolgreiche Umwandlung jedweder Form von Arbeit in eine quantifizierbare Form notwendig in den Untergang des derzeitig herrschenden Wirtschaftssystems führen muss. Und wie zum Beweis machen sich im Zuge des Übergangs von fordistischer zu postfordistischer Produktionsweise aller Orten Gegenkräfte bemerkbar, die darauf hinauslaufen, verstärkt auch nicht quantifizierbare und doch zutiefst menschliche Anteile in die Weiterentwicklung zeitgemäßer Arbeitskonzepte zu integrieren (siehe dazu auch die Überlegungen bei EDUCULT im Rahmen des Projektes „Unternehmen Kultur“. Arbeitende selbst in traditionellen Branchen sind immer weniger gewillt, sich beliebig zu „entfremden“, damit bestimmte (quantifizierbare) Teilleistungen von ihrer ganzheitlich verfassten Persönlichkeit abzuspalten und je nach Anforderung im Rahmen von Arbeitsprozessen zur Verfügung zu stellen. Sie wollen sich nicht auf quantifizierbare Funktionen beschränken lassen sondern als „ganze Menschen“ gesehen und behandelt werden, um so in gleicher Weise ihre kognitiven, emotionalen und affektiven Anteile auszuleben (dass diese Form der umfassenden Präsenz auch zu neuen, ebenso umfassenden Formen der Auslieferung, ja Ausbeutung führen können, gegenüber denen sich Strategien der traditionellen ArbeitnehmerInnen-Vertretungen bislang als weitgehend machtlos erweisen, soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden).
Freiheit und Unvorhersehbarkeit als zentraler Wert kultureller Bildung
Der Analogieschluss, der sich aus diesen Überlegungen in Bezug auf kulturelle Bildung ergibt, liegt in ihrer ganz ähnlich gearteten Doppelnatur. Immerhin haben wir es auch im Bereich der kulturellen Bildung mit einer Form der gestalterischen Weltaneignung, also mit Arbeit zu tun. Dem generellen Trend folgend unterliegt auch kulturelle Bildung zunehmenden Quantifizierungserwartungen (etwa in der Erwartung eindeutig nachweisbarer Wirkungen). Und natürlich lässt sich eine Reihe von vergleichbaren Datensätzen ermitteln, wenn es etwa um die eingesetzten Ressourcen oder um die beteiligten Arbeitskräfte und die Größenordnungen ihrer Einkommen geht. Schon wesentlich schwieriger wird es, wenn die spezifisch subjektiven Dimensionen und ihren prinzipiellen Unvorhersehbarkeiten angesprochen sind, die sich nicht einfach in Daten fassen lassen.
Immerhin repräsentiert kulturelle Bildung in besonderer Weise eine „Kultur der Freiheiten“, in der jeder Versuch des Vergleichens tendenziell als Einschränkung und Verlust pädagogischer und/oder künstlerischer Autonomie erlebt wird. Als solche ermöglich sie ideale „Lernzeiten“ für eine neue Generation von ArbeitnehmerInnen, die darauf bestehen, sich mit ihrer ganzen sinnlichen Ausstattung in den Arbeitsprozess einzubringen. Angelehnt an Marx besteht das „Feuer“ spezifisch kultureller Aktivitäten in einem unhintergehbaren Freiheitsanspruch, der sich um den Preis seiner Existenz allen Versuchen verweigern muss, sich in Zahlen pressen zu lassen. Immerhin sind es ja gerade seine nicht quantifizierbaren Anteile und damit die Bereitschaft der Akteure, sich mit allen verfügbaren Persönlichkeitsanteilen auf ein Experiment mit ungewissem Ausgang einzulassen, die erst die Dynamik des Feldes ausmacht. Dieser prinzipiellen Offenheit des Feldes entsprechen übrigens auch alle bisherigen Fehlschläge, kulturelle Bildung für allfällige Vergleiche definitorisch zuzurichten (umso mehr, wenn es um die Verwendung unterschiedlicher Sprachen und ihrer unterschiedlichen Traditionen geht und das gemeinhin verbindende Englisch selbst mit einem Bias behaftet ist, wenn es in besondere Weise marktwirtschaftlich gerichtete Wertvorstellungen (Vorbereitung auf die sogenannten Cultural Industries) transportiert; ein Umstand, der schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Äußerung veranlasst hat, dass „die Regeln des Unbestimmten notwendig unbestimmt“ bleiben müssen.
Die Messer am Werk
Dieser kleine theoretische Vorspann bildet den Auftakt für einen Bericht über das jüngste Treffen einer Gruppe Arts Education Researcher in Utrecht/Niederlande INRAE, denen es ein Anliegen ist, eine international vergleichbare Datenbasis für das Feld zu schaffen (MONAES).
Die Ausgangsfrage, die ich mir vorab und ganz pragmatisch gestellt habe, lautet, ob ein solcher Vergleich überhaupt gebraucht wird und wenn ja, von wem zu welchem Zweck und zu welchem Nutzen darauf basierende Daten verwendet werden. Immerhin gab es bereits eine Reihe von Anläufen wie COMACE, die Compendium-Initiative oder das AEMS-Projekt, das 2011 – 2013 von EDUCULT durchgeführt worden ist. Zu keinem von ihnen sind auch nur halbwegs relevante Nutzungsdaten zu eruieren, geschweige denn Hinweise zur Einbeziehung diesbezüglicher Daten in die jeweilige kultur- und bildungspolitische Entscheidungsfindung.
Die Entstehungsbedingungen lassen sich in der Regel auf wohlmeinende Absichten, mittels dieser Formen der internationalen Vergleichung einen vertieften Fachzusammenhang herstellen zu können, zurückführen. Dazu kommt die Hoffnung, sich anhand international erhobener Vergleichszahlen nationalen Marginalisierungstendenzen zu entziehen und auf der Grundlage eines transparenten Informations- und Erfahrungsaustausches einen Bedeutungszuwachs im eigenen Land zu erzielen.
Modellprojekte als entkontextualisierte Referenzen
Meiner Vermutung nach gibt es angesichts der herrschenden politischen Praxen wenig Grund, diesbezügliche Erwartungshaltungen allzu hoch zu schrauben. Bislang setzen nationale Kultur- und Bildungspolitiken in nur sehr geringem Ausmaß auf objektive Datenerhebungen, wenn es um Fragen der kulturellen Bildung geht. Stattdessen sind es vor allem einige wenige medial gehypte Projekte, wie das venezolanische Modell „El Sistema“, das britische Projekt „Creative Partnerships“ oder der norwegische „Kulturrucksack“, die es schaffen, politische Neugierde zu erzeugen, um in der Folge wahllos in ganz unterschiedliche politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Kontexte implementiert zu werden.
Dazu kommt der Umstand, dass die kultur-, die bildungs- oder die jugendpolitische Entscheidungsfindung sehr unterschiedlichen Traditionen folgt (ihre VertreterInnen interpretieren und nutzen Daten schon auf Grund unterschiedlicher Definitionen, Sprachregelungen, konzeptiven Zugängen und Implementierungsstrategien ganz unterschiedlich) und wir noch weit davon entfernt sind, kulturelle Bildung als ein Politikfeld in seinem eigenen Recht etabliert zu haben.
Auch der Umstand, dass wir zwar in und um Schule über die besten Datenlagen verfügen, deren Bedeutung im Vergleich zum informellen Sektor (über den in seiner Eigenschaft als kulturelle Sozialisationsinstanz bislang kaum verlässliche Daten vorliegen) zunehmend im Abnehmen begriffen ist, trägt nicht unbedingt dazu bei, ein über die Ressortgrenzen hinweg auch nur halbwegs verlässliches Datenkorsett zu schnüren.
Arts Education Research als Übersetzungsleistung
Die Veranstaltung in Utrecht stellte eine gute Möglichkeit dar, noch einmal grundsätzlich über das Verhältnis zwischen der kulturellen Bildungsszene selbst, ihrer Beforschung und der sie betreffenden politischen Entscheidungsfindung nachzudenken. Immerhin besteht die Gefahr, dass die drei Bereiche zunehmend auseinander driften und dabei ihren je eigenen Logiken gehorchen. Umgekehrt scheinen mir die Möglichkeiten – internationaler Datenvergleich hin oder her – nicht ausgelotet, wenn es darum geht, sich aufeinander zu beziehen und sich gegenseitig zu stärken. Dabei könnte insbesondere der angewandten Forschung eine vermittelnde Funktion zukommen, deren Aufgabe darin besteht, Übersetzungsleistungen zwischen der prinzipiellen Unauslotbarkeit des Feldes einerseits und der Erwartung der Politik nach seiner „Messung“ (auch angesichts des wachsenden Konkurrenzdrucks innerhalb unterschiedlicher Politikfelder, die angeblich nur die Sprache der Zahlen verstehen) andererseits zu überbringen.
Und was ist eigentlich das Problem?
Die KollegInnen aus Deutschland und den Niederlanden scheinen im Moment wild entschlossen, mit Hilfe eines Fragebogens noch dieses Jahr einen ersten Aufschlag für eine neue Runde einer umfassenden internationalen Vergleichbarkeit zu versuchen. Umso dringlicher mein Rat, Vergleichbarkeit nicht als einen Fortschritt per se anzusehen, sondern sich zuerst darüber zu verständigen, worin eigentlich das Problem liegt, das man hofft, mithilfe einer verbesserten Vergleichbarkeit zu lösen.
Mein diesbezüglicher Vorschlag in Utrecht ist darauf hinausgelaufen, sich den Status an Wohlfahrtstaatlichkeit in ausgewählten Ländern genauer anzusehen, um Korrelationen mit dem Status kultureller Bildung herstellen zu können. Immerhin steht zu befürchten, dass sich das wachsende Heer derjenigen, jeglicher Perspektiven beraubter jungen Menschen, die vom bestehenden Netz an Wohlfahrtstaatlichkeit nicht mehr aufgefangen werden, derartig ins Abseits gestellt sieht, dass sie nur mehr wenig Bereitschaft mitbringen werden, sich an Programmen kultureller Bildung zu beteiligen. Sie fühlen sich auch so schon verarscht genug.
Aber das ist möglicherweise ein anderes Thema, das die Forschungs-Community mit der Herstellung von Vergleichsdaten eher zu kaschieren sucht, denn zu lösen.
Bildhinweis: bei dem Titelbild des Blogs handelt es sich um eine interaktive Grafik mit Länderinformationen zur kulturellen Bildung, die auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung angeschaut werden kann.
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