Hilfe, sie haben uns das Publikum weggenommen!
Der Kulturbetrieb leidet, Hilferuf folgt auf Hilferuf. Und kein Ende der Sorgen in Sicht. Mit dem Regierungsbeschluss, der bis auf weiteres alle öffentlichen Veranstaltungen untersagt, wurde vor allem kleineren künstlerischen Initiativen von einem Tag zum anderen der Boden weggezogen. Und mit einem Schlag wurde die zentrale Bedeutung eines (zahlenden) Publikums deutlich, ohne dass der Betrieb ganz rasch seine Existenzberechtigung verliert.
Die betroffenen Künstler*innen versuchen, ihre Kunst in neuen digitalen Formaten an den Mann bzw. an die Frau zu bringen. Und auch größere Kultureinrichtungen forcieren ihre virtuellen Auftritte, in der Hoffnung, damit ihr Publikum an der Stange zu halten. Während sich allerorts die Hoffnungen auf eine weitere Virtualisierung des Kulturangebotes breitmachen, denken andere bereits darüber nach, welchen Verlust für die Kultur ein solches, plötzlich über uns hereinbrechende Überangebot haben könnte.
Gleichzeitig wird der Ruf nach staatlichen Hilfsprogrammen immer lauter. Sie sollen dafür sorgen, dass sich die Künstler*innen über den aktuellen Ausnahmezustand hinüberretten zu können. Nach dem Ende der Pandemie – so die Erwartung – würden sie wieder in einen Normalbetrieb zurückkehren können. Möglicher Weise aber steht mehr auf dem Spiel. Zur Disposition steht das künftige Verhältnis zwischen Kunstproduzent*innen und Kunstrezipient*innen, vulgo Publikum, das mit der Stilllegung des Betriebs neu verhandelt werden will.
Noch überwiegt eine Logik, die zwar den Verlust des Publikums in den etablierten Räumen beklagt und sich doch darauf beschränkt, dieses in bewährter Manier und unter Zuhilfenahme digitaler Kanäle doch noch irgendwie zu erreichen. Mit dem Angebot, die Kunst nach Hause zu bringen, soll das Publikum bei Laune gehalten werden, auf dass danach jeder/jede in sein/ihr gewohntes kulturelles Verhalten (in erster Linie in der Eigenschaft als zahlende/r Besucher*in) zurückkehrt.
Hinter dieser Hoffnung aber verbirgt sich eine prinzipielle Schieflage, die den Künstler*innen und ihrem Publikum innerhalb des Kulturbetriebs völlig unterschiedliche Wertigkeiten zuweist. In uns allen ist eingeschrieben: Auf der Bühne wird die Kunst verhandelt, um die geht es. Das Publikum ist dazu nur ein (zahlendes) Beiwerk, dem, jedenfalls in Bezug auf das Kunst-Machen keinerlei tiefere Bedeutung zukommt. Im Gegenteil: Kunst wird FÜR das Publikum produziert und nicht MIT ihm.
Und plötzlich fällt das Publikum weg und die die Kunst-Macher*innen kommen um die Tatsache nicht mehr herum, dass ohne Publikum das Machen rasch an ein Ende kommt. Eine Weile noch kann staatliche Förderung die Illusion einer publikumslosen Kunst zwar aufrechterhalten. Mit der Kunstproduktion auf Halde aber wird irgendwann Schluss sein, wenn der Weg zum Publikum für längere Zeit versperrt ist.
Die unterschiedliche Wertigkeit zeigt sich u.a. daran, dass dem Publikum aus Künstler*innen-Sicht ein prinzipiell defizitärer Charakter zugesprochen wird. Als solches ist es einem permanenten Lernanspruch ausgesetzt: Die Eltern sollen ihre Kinder von klein auf kulturelles Verhalten beibringen, die Schule soll die notwendigen kulturellen Kompetenzen vermitteln. Und auch danach soll im Rahmen von vielfältigen Kunst- und Kulturvermittlungsprogrammen weiter gelernt werden, um möglichst viel über die Kunst und die Kunstschaffenden zu wissen, um so irgendwann würdig zu werden, ihre Kunst adäquat erfahren zu dürfen. Weil sich aber das Kunstschaffen permanent weiterentwickelt, muss sich das Publikum permanent weiterbilden, um nicht in den Geruch der Ignoranz zu geraten. Nur so ist es möglich, sich sukzessive in die privilegierte Gruppe derer einreihen zu dürfen, die mit dem Label eines kundigen und zugleich dankbaren Publikums ausgezeichnet wird. Es erweist sich also für ein Publikum als konstitutiv, sich für Künstler*innen und ihre Hervorbringungen möglichst umfassend zu interessieren. Als solches ist es einem permanenten Lernprozess unterworfen (was durchaus lustvoll sein kann), um das adäquat wahrnehmen und erfahren zu können, was vom Betrieb gerade als kunstrelevant verhandelt wird.
Ganz anderes bei den Künstler*innen. Ihr erster Auftrag ist es nicht, sich für ihr Publikum zu interessieren und dabei möglichst viel und immer wieder neu zu lernen. Ihre Aufgabe besteht in erster Linie in der Fähigkeit, Kunst zu machen. Ihr Lernen bezieht sich auf den Erwerb spezifischer künstlerischer Techniken. Darüber hinaus wenden sie sich auf der Suche nach den in ihnen künstlerischen Potentialen nach innen, beschäftigten sich mit sich selbst bzw. arbeiten sich an ihresgleichen ab, in der Hoffnung, damit ein unverwechselbares künstlerisches Profil zu gewinnen. Dass sie mit ihren höchsten individuellen Ambitionen immer schon ein Produkt von außen kommender gesellschaftlicher Erwartungen sind, kann da zur zu leicht ausgeblendet werden. Und so auch die Verfasstheit des Publikums und damit derjenigen, für die sie Kunst machen. Das alles spielt bei ihren künstlerischen Ambitionen in aller Regel keine oder wenn ja nur eine sehr untergeordnete Rolle. Ganz im Gegenteil, dieses würde ja nur bei der mühsamen Suche der eigenen künstlerischen Identität ablenken bzw. dieses korrumpieren.
Das aber bedeutet, dass Künstler*innen in der Regel von ihrem Publikum nichts wissen, mehr, nichts wissen wollen oder gar wissen dürfen und so in Bezug auf ihre Adressat*innen nur über wenig Lernerfahrung verfügen. Mit dem Publikum soll sich der nicht künstlerische Teil des Betriebs beschäftigen, z.B. die Marketingabteilungen, deren Aufgabe darauf reduziert wird, die Häuser irgendwie voll zu bekommen (und sei es durch die Akquisition von „sozial benachteiligten“ Menschen, wenn es denn sein muss). Das Kunst-Machen sollte davon möglichst unbeeinflusst bleiben.
Und so wird auch nach der Schließung des physischen Betriebs Kunst einfach weiter produziert und per Internet in die virtuelle Welt versandt. Es werden sich schon Menschen finden, die sich das anhören oder anschauen wollen. Aus marktwirtschaftlicher Sicht aber entsteht hier ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage: Da folgt ein Angebot weitgehend seiner eigenen Logik. Es wird geschaffen, ob es dafür Nachfrage gibt oder nicht, die als solche gar nicht im Detail erhoben, geschweige denn analysiert wir. Die daraus resultierende Unwissenheit paart sich gerne mit einem gerüttelten Maß an Überheblichkeit, wonach die alleinige Schuld fehlender Nachfrage bei den (potentiellen) Nachfragern selbst läge. Ihnen wird zu wenig Interesse am bestehenden Angebot attestiert, um auf diese Weise wenn schon nicht eine moralische („ihr lasst die Künstler*innen im Stich) so doch kulturelle Abwertung erfahren (dazugehörige Zuschreibungen changieren zwischen „kulturlos“, „bildungsfern“ und „ignorant“)…….
Den Blogbeitrag in voller Länge und weitere Publikationen von Michael Wimmer finden Sie auf Michael Wimmers Kulturservice!
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Bild: Pexels: “filming-gopro-livestream-tripod“/ Will. CC BY-NC-SA.
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