Ich bin ein Postmigrant! – Kann ich ein Postmigrant sein?
2004 hatte EDUCULT die Amsterdamer Kulturstadträtin Hannah Belliot nach Wien eingeladen. Amsterdam zeichnete sich bereits damals durch einen Migrationsanteil seiner BewohnerInnen von mehr als 50% aus. Aus diesem Grund war es – jedenfalls für die Amsterdamer – nicht ungewöhnlich, dass Belliot über einen surinamesischen Hintergrund verfügte, während ihr Kollege im Bildungsbereich sich auf türkische Wurzeln beziehen konnte.
Trotz der langen Tradition des reichen Kulturbetriebs, der seine Begründung im Repräsentationsbedarf eines wohlhabenden Amsterdamer Bürgertums findet, war es für Belliot völlig selbstverständlich, ihre Kulturpolitik auch und vor allem an den kulturellen Bedürfnissen der ZuwanderInnen, die ihren Weg aus mehr als hundert verschiedenen Ländern gefunden hatten, auszurichten.
Mit ihren Vorstellungen einer weitgehenden Identität von Kultur- und Migrationspolitik stieß die liberale Politikerin hier in Wien auf weitgehendes Unverständnis. Als wir versuchten, Gespräche zwischen dem bereits damals amtierende Wiener Kulturstadtrat Mailath-Pokorny und der Integrationsstadträtin Sonja Wehsely zu vermitteln, wussten beide mit diesem Ansatz wenig bis gar nichts anzufangen. „Andere Baustelle“ lautete die Antwort, um Amsterdam als eigenwilligen Sonderfall in einem linksliberal verfassten Holland abzutun.
Es hat lange gedauert – aber auch Wien wird anders
Ein paar Jahre und einer Gemeinderatswahl mit bereits stereotyp steigendem Stimmenzuwachs für die Freiheitlichen später ist die Wiener Stadtregierung offensichtlich dabei, ihre damalige Position zu überdenken. Es ist vor allem dem Eintritt der Grünen in die Wiener Stadtregierung zu verdanken, dass sich im Jahr 2010 verabschiedeten Regierungsübereinkommen Sätze wie „Kulturpolitik ist immer auch Integrations-, Sozial-, Jugend-. Frauen- und Bildungspolitik“ (S. 48) finden lassen. Plötzlich sehen die AutorInnen einen besonderen Auftrag in einer „Brückenbaufunktion von Kultur“, wonach Kulturpolitik ihre wichtigste Aufgabe „in einer aktiven Einbeziehung aller kulturellen Identitäten in das kulturellen Leben in Wien“ sieht.
Spät und wohl auch als Ausdruck eines politischen Zufalls einer rot-grünen Regierungskoalition (ich kann mir nicht vorstellen, dass mit den Konservativen ein ähnliches kulturpolitisches Grundsatzpapier hätte vereinbart werden können – und an rot-blau oder blau-schwarz in Wien will ich gar nicht denken) scheint eine politische Haltung zumindest temporär mehrheitsfähig, die bereit ist, den Fehdehandschuh der Rechtspopulisten aufzugreifen und deren Trennungs- und Spaltungsversuchen überzeugende Integrationsangebote entgegenzusetzen.
Das Beispiel Belliot zeigt, dass Kulturpolitik eine wichtige, wenn auch „nur“ symbolische Rolle zukommen kann, wenn das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Herkünften gelingen soll. Bei den ersten Versuchen, das neue Regierungsüberkommen mit Leben zu füllen, wird deutlich, dass die Stadtpolitik nicht bei Null anfangen kann. Notwendig scheint es vor allem, den Vertrauensverlust, der sich in den letzten Jahren in die kulturellen Szenen eingegraben hat, wettzumachen. Die bisherige Weigerung, die Veränderungen der demographischen Zusammensetzung der Wiener Bevölkerung (und damit auch in den Herkünften von KünstlerInnen) in die kulturpolitische Entscheidungsfindung einzubeziehen, hat tiefe Spuren hinterlassen.
So etwa finden es die meisten Kunstschaffenden mit Migrationshintergrund als eine erniedrigende Alibiaktion, dass die Kulturabteilung der Stadt Wien in den letzten Jahren eine Förderabteilung für „Stadtteilentwicklung und Interkulturalität“ eingerichtet hat, die – mit ein paar hunderttausend Euro ausgestattet wurde – Förderungen in Tranchen von max. 5.100 Euro vergibt, während sie in den regulären Förderverfahren als eigenständige KünstlerInnen überhaupt nicht wahrgenommen werden. Dort kommen sie bestenfalls mit klischierten Zuschreibungen als ZuwanderInnen vor, um ihnen so die Chance zu nehmen, als vollwertige Mitwirkende am großen Spiel teilzunehmen.
Von wegen gesellschaftliche Vorreiterfunktion des Kulturbetriebs – Künstlernamen und „institutioneller Rassismus“
Viele Betroffene sprechen in diesem Zusammenhang von einem „institutionellen Rassismus“, der KünstlerInnen mit – ganz bestimmten – Zuwanderungshintergründen kaum Chancen gibt, ihre künstlerische Professionalität unter Beweis zu stellen. Statt dessen werden sie – etwa im Theaterbereich entlang ihrer Namen oder ihrer – oft noch dazu falsch interpretierten physiognomischen Eigenarten – als Italiener, Türken oder Nigerianer gerne auf einige wenige Rollen in einschlägigen Milieus als Drogendealer und Kriminelle oder Prostituierte und Zuhälter reduziert.
Themen wie diese sind Gegenstand einer aktuell laufenden öffentlichen Diskussion rund um den Schwerpunkt „Pimp My Integration“, der von der KünstlerInnen-Initiative daskunst und der Garage X im Auftrag der Stadt Wien durchgeführt wird. Mit dem Betriff „Postmigrantische Positionen“ nimmt die Veranstaltungsreihe, die vom 26. Oktober 2011 noch bis zum 10. Februar läuft, Anleihe aus der angloamerikanischen Literaturwissenschaft, die über die beispielhafte Initiative Ballhaus Naunynstrasse in Berlin von Shermin Langhoff (die ab 2014 zusammen mit Markus Hinterhäuser die Intendanz der Wiener Festwochen antreten wird) mit dieser Initiative ihren Weg auch nach Wien gefunden hat.
Sosehr einzelne Produktionen berühren und begeistern, so zeigt sich in den begleitenden Diskussionen immer wieder ein sehr grundsätzliches Problem, das darin besteht zu klären, wovon eigentlich die Rede ist. Kein Zweifel, es gibt eine Reihe – zum Teil sehr guter – KünstlerInnen mit Zuwanderungshintergrund, die innerhalb des bestehenden Kulturbetriebs benachteiligt werden. Andererseits gibt es auch einige sehr gute KünstlerInnen mit österreichischen Wurzeln, die sich nicht durchzusetzen vermögen. Ja, und es stimmt auch, dass der Anteil der WienerInnen mit Migrationshintergrund mittlerweile rund 40% erreicht hat. Wahr ist aber auch, dass nicht nur unter ihnen der Anteil der regelmäßigen BesucherInnen von Musik-, Oper- oder Theateraufführungen gering ist.
Gibt es so etwas wie eine „postmigrantische Theaterszene“ überhaupt und wenn ja, wer oder was soll das sein?
Was ganz offensichtlich nicht nur mich beschäftigt, ist die Frage, ob es zumindest in nuce so etwas wie eine „postmigrantische Theaterszene“ gibt und wenn ja, mit welchen Formen und Inhalten sie sich hinlänglich vom Rest der Theaterlandschaft unterscheidet. Kulturpolitisch wird eine solche theatrale Innovationsgemeinschaft sogar gefordert, wenn etwa der Kultursprecher der Grünen Klaus Werner-Lobo meint, die ZuwanderInnen hätten viele neue Geschichten in die Stadt gebracht; diese fänden bislang nur sehr unzulänglich ihre Repräsentation auf der Bühne und blieben so außerhalb einer breiteren öffentlichen Wahrnehmung. Ein Umstand, den zumindest er ändern möchte.
Es gibt aber auch die gegenteilige Position, vor allem aus der Sicht von KünstlerInnen, die es zumindest ein Stück weit in den Betrieb hinein geschafft haben. Gerade erst entkommen von diskriminierenden Zuschreibungen wollen sie sich nicht schon wieder auf eine Projektion für eine defizitäre Zuwanderergemeinschaft reduzieren lassen; ihr Wunsch ist es, ganz im Gegenteil, das Ghetto (post)migrantischer Zuschreibungen endlich zu verlassen, um mit ihren ausschließlich künstlerischen Qualitäten ihren jeweiligen ethnischen Hintergrund hinter sich zu lassen.
Ein prononcierter Vertreter dafür ist der Theatermacher Nurkan Erpulat, der in Berlin die umjubelte Theaterproduktion „Verrücktes Blut“ (eine Adaption des französischen Films „La journée de la jupe“ mit Isabella Adjani, die gerade im Rahmen einer Neuinszenierung von Volker Schmidt auch in Wien gezeigt wird. In einem Beitrag im Stadtmagazin Falter mit dem Titel „Integrier mich doch am Arsch!“ meinte er: „Ich glaube allerdings nicht, dass es das Thema „Migration“ gibt. Es gibt nur verschiedene Themen, die damit zu tun haben können; Liebe, Verrat und so weiter“ – also alles Themen, die auch in einem nicht-postmigrantischen Theater von hoher inhaltlicher Relevanz sind.
Postmigrantische Positionen als neue, innovative Theaterpraxen?
Im Ergebnis zeichnen sich offensichtlich zwei, in entgegengesetzte Richtungen drängende, Tendenzen ab, die durchaus unterschiedliche kulturpolitische Konsequenzen haben. Die eine zielt auf so etwas wie eine „eigensinnige“ postmigrantische Haltung, die als eine neue Theaterpraxis den traditionellen Theaterbetrieb hinter sich lassen, um die eigenen Ansprüche am besten zu realisieren. Ihr Ziel ist es, bestehende Diskriminierungen durch Solidarisierung in Stärke zu wenden (- ihre VertreterInnen können sich auf die Erfahrungen derjenigen KünstlerInnen beziehen, die vor 30 Jahren vor den verschlossenen Türen des Kulturbetriebs nicht verzweifeln wollten, sondern statt dessen alternative Realisierungsformen in einer sich sukzessive ausformenden Freien Szene gesucht haben).
Diese Haltung wäre offen auch für alle KünstlerInnen mit nicht-migrantem Hintergrund, die im gegenwärtigen Theatermainstream immer seltener einen Spiegel der gesellschaftlichen Realitäten erkennen. Für sie alle würde sich eine neue Arena eröffnen, in der sie sich zugunsten einer neuen Theaterästhetik engagieren könnten. Für die Kulturpolitik bedeutet dies den Aufbau einer geeigneten Infrastruktur, die es den VertreterInnen dieser neuen Kunstrichtung erlaubt, sich innovative Produktionen nicht nur zu wünschen, sondern diese auch zu realiseren.
Die andere Tendenz setzt auf den „langen Marsch durch die Institutionen“. Ihr geht es zuallererst um die Öffnung des bestehenden Betriebs, um die künstlerischen Qualitäten von ZuwanderInnen ernst zu nehmen und ihnen die Realisierungsbedingungen innerhalb ihrer Strukturen zu erleichtern. Damit zusammenhängende Vorschläge für kulturpolitische Maßnahmen reichen von „migrant mainstreaming“ bis zu „Quotenmodellen“, die – vor allem anhand kulturpolitischer Praktiken in England – die Mitwirkung von (post)migrantischen KünstlerInnen zumindest in öffentlich geförderten Einrichtungen, wenn nötig, zu erzwingen. Aber auch hier stellt sich zumindest indirekt die Frage der Zugehörigkeit, wenn sich eine positive Diskriminierung immer nur auf eine Gruppe beziehen kann, die als solche hinlänglich bezeichnet ist.
Die bisherigen Diskussionen rund um „Pimp My Integration“ geben noch wenig Indizien dafür, um voraussagen zu können, welche der beiden Tendenzen sich (mit welchen Konsequenzen) durchsetzen wird. Vieles deutet darauf hin, dass wir erst am Anfang eines längerfristigen Prozesses sind, dessen Ergebnis wesentlich davon abhängen wird, ob und wie es gelingt, den öffentlichen Diskurs nach dem 10. Februar nicht jäh abbrechen zu lassen.
Das Problem könnte aber auch noch ganz wo anders liegen. Die große öffentliche Aufmerksamkeit rund um „Pimp My Integration“ hat den Wunsch aufkommen lassen, die Veranstaltungsreihe über das offizielle Ende hinaus fortzusetzen, vielleicht sogar zu einer ständigen Einrichtung zu machen. Dabei wurde rasch klar, dass das gar nicht so einfach ist, zumal das Reservoir, aus dem ein weiteres Programm geschöpft werden könnte, sich als durchaus überschaubar erweist. Sie plädieren daher in erster Linie dafür, die Nachwuchsarbeit zu verstärken, eine Art Akademie einzurichten, wo postmigrantische KünstlerInnen (durchaus nicht nur SchauspielerInnen und Regisseure sondern auch Dramaturgen) ihre professionelle Ausbildung erhalten.
Und jetzt noch ein Tipp für alle mit kulturellen Bildungsfragen Befassten: Bitte schauen Sie sich das Stück „Verrücktes Blut“ an. Besser kann man die Widersprüchlichkeit von Lehrersein zwischen den Klischees von realem Jugendverhalten und idealen Bildungsinhalten nicht auf die Spitze treiben. Seither wirbeln die Stereotypien in meinem Kopf wild durcheinander und zwingen mich nachgerade dazu, weiter darüber nachzudenken.
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