Ich, ich, ich oder Als der Krise der Sinn abhanden kam
Meist bemerke ich sie gar nicht; aber diesmal sind sie mir wieder aufgefallen, die gezwungen freundlichen jungen Menschen, die den Passagieren auf dem Weg zum Ausgang mit mehr oder weniger nettem Lächeln die Zeitung „wien live“ in die Hand drücken wollen. Die meisten nehmen sie gar nicht zur Kenntnis und gehen – bereits zugedröhnt von irgendwelchen Werbedurchsagen – an ihnen vorbei.
Weil wir gerade aus Spanien zurückkommen, wo mittlerweile bereits rund 50% der jungen Menschen arbeitslos sind, könnte man meinen, dass die VerteilerInnen es hier in Wien doch noch gut getroffen haben. Sie haben immerhin einen Job. Und doch denke ich mir – wenn ich in die leeren Augen schaue – dass hier nicht in erster Linie der kulturelle Reichtum der Stadt Wien, sondern eine unglaubliche Verschleuderung von menschlichen Fähigkeiten zur Schau gestellt wird. Da werden junge Menschen, die von ihren Eltern mühsam auf den Weg gebracht wurden, die viele Jahre und vielleicht sogar eine Universitätsausbildung hinter sich gebracht haben, auf einen Handgriff reduziert, der auf der Grundlage einer immer wieder verweigerten Kommunikation stattfindet. Und wir finden das mittlerweile ganz normal und gehen weiter.
Es gibt Schlimmeres, werden Sie einwenden. Und in der Tat spricht nichts dagegen, dass auch gut ausgebildete junge Menschen einfache Arbeiten verrichten sollen; es ist die hier demonstrativ vorgeführte Sinnentleerung, die mich die Frage nicht zurückhalten lässt, ob diese Menschen nicht etwas Besseres zu tun haben bzw. zu tun haben könnten oder sollten.
Ich bin, also verdiene ich
Die Vermutung, dass es sich bei dieser Form der Sinnentleerung nicht um einen isolierten Einzelfall handelt, kam mir ausgerechnet in der Sauna des Hotels, in dem ich die Semesterferien mit meiner Familie verbracht habe. Die Zwangsintimität der Situation öffnet ja so manchen Mund und daher ist man als stumm Schwitzender den Logorrhoe getriebenen Ergüssen der übrigen ungeschützt ausgesetzt, auch wenn diese mehr über den Redner aussagen, als diesen lieb sein kann.
Meine Erfahrungen in der Saunakammer lassen sich als Staunen über den Stand kollektiver Ichbezüglichkeit zusammenfassen: In immer neuen Wellen redete jeder von sich, was sie nicht alles gemacht haben, was sie demnächst machen werden, und vor allem, wie sehr sie sich das alles verdient haben und wie sehr es ihnen zusteht. Das ergab einen lauten gemeinsamen Generalbass all dieser Selbstauskünfte: Wir haben etwas zu verteidigen und wir werden es – wenn notwendig – mit den erforderlichen Mitteln tun.
Nun könnte man sagen, eine solche Konzentration auf das eigene Ich und dessen Wohlbefinden ist doch nur zu natürlich für all diejenigen, die intuitiv spüren, dass die wachsenden Verteilungskämpfe drauf und dran sind, ihre mühsam erkämpften Privilegien zu bedrohen. Die Sinnentleerung ergab sich für mich vor allem daraus, dass es außer der stereotypen Wiederholung des Anspruchs „Ich bin, also verdiene ich“ ganz offensichtlich nichts zu sagen gab. Es war mir, als wäre alles, was über die eigene Selbstaffirmation hinauszureichen drohte, in einen dicken Mantel des Schweigens gehüllt.
Im jüngsten Roman des französischen Autors Michel Houellebecq „Karte und Gebiet“ heißt es, „ein Ascheschleier schien sich über den Geist der Menschen gelegt zu haben“. Dieser lasse das Interesse an so etwas wie „Gemeinsinn“ vergessen. Als wären sie dem Roman entsprungen, agierten die Mitwirkenden dieses Saunaexperimentes als unfreiwillige Zeugen einer auf Autopilot geschalteten „modernen Gesellschaft“, die sich in den starken Worten von Houellebecq „als ein tumbes gefräßiges Monster durch die Zeit wälzt, alles Fremde einverleibt und symbolisch verspeist“, während der dahinterliegende Sinn (bzw. Unsinn) dieser Entwicklung hinter dem apostrophierten Ascheschleier zu versinken droht.
Eigentlich gespenstisch, wie da in Europa ein zunehmend unkoordinierter Transformationsprozess stattfindet, der noch vor wenigen Jahren als undenkbar angesehen wurde und doch die Existenzgrundlagen von immer mehr Menschen nachhaltig verschlechtert, ohne nochmals eine breitere Diskussion zu evozieren, die in der Lage wäre, die Voraussetzungen für eine neue Generation nicht nur von fiskalischen und ökonomischen, sondern von politischen Interventionsformen zu schaffen.
Was bleibt, ist ein kollektives „Rette sich, wer kann“ in und außerhalb der Sauna. Eine gute Grundlage für Houellebecqs rückwärtsgewandte Vorstellungen, wenn er in seinem Roman eine neue Klassengesellschaft entstehen lässt, in der den Vielen der Zwang zukommt, sich durch Abfallberge zu wühlen, um in den ausufernden Banlieues (der Ausdruck kommt von „Bannmeile“) von Paris zu überleben.
Vom Leiden und vom Vergessen
Aber noch sind wir nicht ganz so weit: Bei unserem Spanienaufenthalt erzählte mir eine Kollegin von der Frage ihres 16jährigen Sohnes, wieso es denn möglich sei, dass solche Entwicklungen wie zur Zeit in Griechenland, die so viele Menschen ins Elend stürzen würden, überhaupt stattfinden könnten, wer dafür verantwortlich sei und wie sie verhindert werden könnten? Und sie musste zugeben, dass sie in ihren Erklärungsversuchen wesentlich auf eine veröffentlichte Meinung angewiesen sei, die sie immer häufiger auf das Glatteis einseitiger Zuschreibungen bzw. Stereotypien führen würde. Jedenfalls fühle auch sie sich vor allem verunsichert, ja verängstigt, was es ihr zunehmend schwer mache, einen Sinn in dem, was da gerade passiert, zu erkennen. Ihr bleibe, wie vielen ihrer ZeitgenossInnen, unter der gegenwärtigen Situation zu leiden, und – wenn möglich – die Auswirkungen nicht all zu nah herankommen zu lassen.
Nun war es ja zu keiner Zeit einfach, „die Verhältnisse“ richtig einzuschätzen. Das, was mir so besonders an der aktuellen Situation zu sein scheint, ist die spezifische Ungleichzeitigkeit von Möglichkeits- und Wirklichkeitsform. Das beginnt mit den technologischen Errungenschaften, die uns – wie nie zu vor in der Geschichte – ein ausdifferenziertes Instrumentarium an die Hand geben, die Welt zu erfahren, zu nutzen und sich mit seiner/ihrem Umfeld in sinnstiftende Beziehungen zu setzen.
Und doch haben diese – jedenfalls bislang – nicht zur massenhaften Freisetzung von Subjekten geführt, die bereit und willens wären, mit ihren ausdifferenzierten Persönlichkeitsstrukturen den Sinnhaushalt der modernen Gesellschaften nachhaltig zu bereichern. Ihre Prototypen sitzen stattdessen in der heißen Kammer und erzählen – ausschließlich – von sich.
Für Peter Handke, zugegeben auch er ein perennierender Kulturpessimist, hat die erhoffte Emanzipation des modernen Subjekts nicht stattgefunden. Was er in seinem Roman „Der große Fall“ stattdessen konstatiert, das sind „Typen, nur noch Endverbraucher, Trademarks auf zwei Beinen, Mountainbiker, Jogger, Gerätebenutzer“. Jedenfalls alles andere als gute Zuschreibungen für das Näherkommen an eine Möglichkeitsform, in der sich souveräne BürgerInnen auf die Produktion von sinnstiftender Gesellschaftlichkeit verstehen.
Aber nicht nur die technologischen Gestaltungsspielräume, auch die Bildungsvoraussetzungen haben sich, ganz besonders in Europa, nicht nur für eine kleine Elite, sondern für weite Teile der Bevölkerungen in den letzten Jahren nachhaltig verbessert. Das hat freilich nicht dazu geführt, dass diese Bildungsinnovationen in offensiver Weise für die Schaffung von überindividueller Sinnstiftung (um nicht zu sagen Politisierung) genutzt würden. Geht es jedenfalls nach dem Essayisten Karl-Markus Gauß, dann gibt es einen gegenteiligen Trend. Er weist in seinem jüngsten Essayband „Ruhm am Nachmittag“ von der Bildung direkt zur Dummheit: „Die alte Elite, das Bündnis von Geld, Bildung und Privilegien, war eine schauerliche Sache. Die neue Elite, das Bündnis von Geld, Dummheit und Korruption, ist nicht weniger widerlich.“
Warum mit Hochtechnologie immer nur Suppe kochen
In jedem Fall haben die verbesserten Bildungsstände nicht dazu geführt, sie für eine neue Generation handlungsleitender Zukunftsvorstellungen zu nutzen. Mit bleibt der Vergleich der erreichten Bildungsniveaus zu hoch aufgerüsteten technischen Geräten, die mittlerweile über eine Vielfalt von Funktionen verfügen und doch – siehe unsere „wien live“-VerteilerInnen – immer nur zum Aufwärmen von Suppe genutzt werden.
Es war Margret Thatcher, die während ihrer Amtszeit als britische Premierministerin den Satz „there is nothing like society“ nicht nur geprägt, sondern auch zum Ausgangspunkt ihres politischen Programms gemacht hat. Ihr zur Seite ist mittlerweile eine Heerschar von Moderne-KritikerInnen getreten, die – siehe Houellebecq oder Handke – davon ausgehen, die Moderne hätte sich zu Tode gesiegt, es sei Zeit für einen neuen Epochenbeginn, der die Frage des jungen Spaniers, wie es zu dem Griechenland-Desaster hat kommen können, erst gar nicht mehr aufkommen lassen wird. Vom Ergebnis konnte ich mich auf den Saunabänken im wahrsten Sinn hautnah überzeugen.
Wie immer das Experiment am offenen Körper, das zur Zeit in Europa hinter dem apostrophierten „Ascheschleier“ verhandelt wird, ausgehen wird, die Auswirkungen, die sich mit einer vorschnellen Verabschiedung von so etwas wie „moderner Gesellschaft“ als kollektives Emanzipationsprojekt (dessen Pathologien zuletzt Axel Honneth nochmals eindrucksvoll in seinem Buch „Das Recht der Freiheit“ analysiert hat) möchte ich mir gar nicht vorstellen.
Sie gibt es freilich nicht umsonst und sie kommt auch nicht von alleine. Als Ergebnis einer immer wieder erneuerten inhaltlichen Ausgestaltung bemisst sich ihre Tragfähigkeit in erster Linie darin, das Interesse der BürgerInnen nicht nur an sich, sondern in gleicher Weise an der Gesellschaft wach zu halten, und damit inwieweit sie bereit sind, sich an der dafür notwendigen Sinnproduktion auch aktiv zu beteiligen.
Vielleicht ist das ja der wichtigste Inhalt des Konzeptes zum „Lebensbegleitenden Lernen“, bei dem sich die Lernenden nicht darauf beschränken, einmal erworbene Bildung als zunehmend fragwürdigen Statusvorteil für den Rest des Lebens zu verteidigen, sondern bereit sind, sich in einem Leben einzurichten, das getragen ist von einem lebenslangen Interesse an dem, was um uns herum passiert, wie es passiert, um dazu eine nachvollziehbare Haltung zu entwickeln.
Dazu könnte Meryl Streep als Darstellerin von Margret Thatcher im Film „The Iron Lady“ das Motto geschrieben haben: „And I am fucking happy to be here.“
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