Immer wenn sich dunkle Schatten über die Demokratie legen
Das Bedauern der meisten Kunst- und Kulturschaffenden über das Fehlen signifikanter kulturpolitischer Auseinandersetzung im jüngsten Nationalratswahlkampf hielt sich in Grenzen. Selbst als Minister Thomas Drozda mit dem Vorschlag eines bedingungslosen Grundeinkommens für KünstlerInnen um öffentliche Aufmerksamkeit warb, blieben die Reaktionen selbst bei den potenziellen NutznießerInnen mehr als verhalten.
Liegen die Gründe für diese kulturpolitische Diskursverweigerung in der Annahme, dass ohnehin alles so bleiben würde? Oder in einem grassierenden Fatalismus, der sich damit abgefunden hat, dass dem Kunst- und Kulturbereich die gesellschaftspolitische Gestaltungskraft weitgehend abhanden gekommen ist? Oder liegt es daran, dass KünstlerInnen im Dauerstress individueller Profilierung eine solche gar nicht mehr anstreben?
Als ich im Wahlprogramm der Neuen Volkspartei die Forderung nach einer Neubelebung Österreichs als einer „Kulturnation“ gelesen habe, bin ich stutzig geworden, ob dieser Rückzug in eine neue Privatheit des Kunst- und Kulturschaffens in der aktuellen politischen Umbruchsphase die richtige Antwort ist, wenn es darum geht, den Platz von Kunst und Kultur in einer demographisch verfassten Gesellschaft auch in Zukunft zu sichern.
Zynisch könnte man den Kurz’schen kulturpolitischen Wiederbelebungsversuchen der österreichischen Kulturnation die aktuellen Kürzungen der Kunst- und Kulturförderung der schwarz-blauen Landesregierung in Oberösterreich entgegenhalten. Diese Kürzungen müssen als umso einschneidender erfahren werden, als die öffentlichen Mittel in allen anderen Bereichen mit Ausnahme der Flüchtlingsbetreuung erhöht werden. Geht es nach den bisherigen Ankündigungen von Sebastian Kurz, zwölf bis 14 Milliarden Euro einsparen zu wollen, dann spricht vieles dafür, dass das oberösterreichische Modell seine Nachahmung auch auf Bundesebene finden wird.
Wer Kulturnation sagt, meint Demokratieabbau
Meine Vermutung geht dahin, dass mit dem Wiederaufgreifen des Begriffs der „Kulturnation“ dieser tendenzielle Rückzug verschleiert werden will. Zugleich knüpft er reflexhaft an undemokratische Traditionen an, deren hegemoniale Ansprüche die politische Verfasstheit Österreichs wie in keinem anderen Land geprägt haben.
Dazu ein kursorischer historischer Abriss: Vieles spricht dafür, das Entstehen der weltweit einmaligen kulturellen Infrastruktur, die vor allem die Stadt Wien auszeichnet, dem Verlust der militärischen Dominanz der ausgehenden k.u.k. Monarchie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zuzuschreiben. Die Errichtung einer repräsentativen kulturellen Infrastruktur verdankte sich der politischen Notwendigkeit, ein Kompensat der Niederlagen auf dem Schlachtfeld zu schaffen. Ihr kam die vorrangige Aufgabe zu, dem Vielvölkerstaat zumindest symbolisch den Glanz zu erhalten, den er brauchte, um sich als mitteleuropäische Großmacht zu behaupten. Dazu kam der wachsende Bedarf, den nach mehr Autonomie strebenden ethnischen Gruppen einen geistigen Suprematieanspruch entgegenzusetzen, der sich in den großen Kultureinrichtungen manifestieren sollte. Entscheidend aber war die Weigerung des Kaisers, die politische Entscheidungsmacht mit seinen Bürgern zu teilen; in Ermangelung starker Verfassungsgrundlagen fanden diese in der aktiven Teilnahme am kulturellen Leben ein Ersatzspielfeld, in denen sie zumindest symbolisch ihre Distinktionsbedürfnisse befriedigen konnten, die ihnen auf parlamentarischer Ebene verwehrt wurden.
Somit verdankt sich die Einmaligkeit der österreichischen Kulturbetrieblichkeit, die den späteren Kleinstaat Österreich bis heute als „Kulturnation par excellence“ erscheinen lässt, unmittelbar der Weigerung, den Bürgern (den Bürgerinnen umso mehr) die demokratischen Mitwirkungsrechte am politischen Geschehen zu gewähren. (Eine detaillierte Darstellung dazu findet sich in meinem Band „Kultur und Demokratie“).
Hofmannsthal und die kulturellen Differenzen zwischen Preußen und Österreich
Dass 1918 ein Großteil des imperialen Kulturbetriebs weitgehend unverändert die Transformation in die junge Republik schaffte, hing damals an einem seidenen Faden. In dem Maß aber, in dem der nunmehrige Kleinstaat auf unerwartete Weise mit einem grandiosen kulturellen Erbe beschenkt wurde, stieg die Versuchung, dieses politisch zu nutzen. Besonders deutlich wird das in den damaligen Auseinandersetzungen um die Überlebensfähigkeit des kleinen Österreichs versus den als einzigen Ausweg gesehenen Anschluss an Deutschland. Als eines der zentralen Instrumente dieses Kampfes sollte sich die Konstruktion des „Österreichischen Menschen“ erweisen (eine wunderbare Quelle dazu: Hans Rauscher (2005): Das Buch Österreich. Wien: Brandstätter). Selbst so sensible Künstler wie Hugo von Hofmannsthal, der sich mit Max Reinhardt daran machte, mit den Salzburger Festspielen der nunmehr kleinen, aber dafür aber umso mächtigeren „Kulturnation“ eine attraktive institutionelle Verfassung zu geben, schreckte nicht davor zurück, heute als lustig erscheinende kategoriale Differenzen zwischen dem preußischen und dem österreichischen Menschen herbei zu interpretieren, um damit die Eigenständigkeit Österreichs zu legitimieren. Ich will mir nicht die politischen Konsequenzen vorstellen, die sich aus heutigen Versuchen von verdienten AutorInnen ergäben, vergleichbare Listen von unterschiedlichen Charaktereigenschaften etwa von TürkInnen und ÖsterreicherInnen zu produzieren.
Immer auf rückwärtsgewandte Größe gerichtet, sollte die Kultur dafür herhalten, eklatante Differenzen des jungen demokratischen Systems zu übertünchen und vor allem nach außen ungebrochen eine Einheit vorzuspiegeln, die im Inneren schon längst zusammen gebrochen war. Als besondere Meister dieser Form der Instrumentalisierung sollten sich die Austrofaschisten erweisen, die im Kampf um die Verteidigung der österreichischen „Kulturnation“ ihr eigenes Überleben gegenüber dem Deutschen Reich zu sichern suchten. Es sollte anders kommen. Während die demokratischen Kräfte des Kunst- und Kulturbetriebs ihre Freiheit, in der Folge auch ihr Leben verloren, erwiesen sich andere Teile der zusammengebrochenen „Kulturnation“ als nur allzu willige Mitläufer des totalitären Naziregimes.
Das Konzept der „Kulturnation“ als Mittel zur Herstellung politischer Kontinuität
Umso auffallender erscheint es heute, dass der Gründungsmythos der Zweiten Republik – als sei nichts geschehen – eng mit der Wiedererrichtung der „Kulturnation Österreich“ verbunden werden konnte. Dabei wurden nur zu vorschnell Anleihen an die auf die Zerstörung der Demokratie gerichtete austrofaschistische Ära genommen, wenn etwa der spätere Pen-Club-Präsident
Alexander Lernet-Holenia bereits kurz nach 1945 meinte: „In der Tat brauchen wir nur dort fortzusetzen, wo uns die Träume eines Irren unterbrochen haben, in der Tat brauchen wir nicht voraus-, sondern nur zurückzublicken.“
So sehr die Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit kulturpolitisch als „austriakische Restauration“ (Gerhard Fritsch) kritisiert werden konnte, so beeindruckend ist die Liste der Erfolge, die das Konzept der „Kulturnation“ damals zu verzeichnen vermochte: Immerhin gelang es mit Rückgriff auf das unverhältnismäßige kulturelle Erbe Österreich von der Mitwirkung am Nazi-Terror zu exkulpieren und stattdessen ein rundum positives Image Österreichs als ein Volk der GeigerInnen und SängerInnen in die Welt zu tragen, von dem das Land bis heute zehrt. Mich beeindrucken in diesem Zusammenhang die schieren Zahlenverhältnisse, wenn beispielhaft das an Bevölkerungszahlen zumindest 200mal größere China Österreich als signifikanten kulturellen Player überhaupt wahrzunehmen vermag.
„Kulturnation“ als unvergleichliche kulturpolitische Erfolgsgeschichte
Diese einmalige kulturpolitische Erfolgsgeschichte des Kulturnation-Konzeptes nach außen (die weltweit jeglichen Vergleich entbehrt) ging einmal mehr mit den späten Wirkungen einer im Austrofaschismus sozialisierten politischen Elite (siehe dazu den aufschlussreichen Band von Emmerich Talos und Florian Wenninger (2017): Das austrofaschistische Österreich 1933 – 1938), die im Beharren auf ständestaatliche Traditionen nichts weniger im Sinn hatte, als den demokratischen Geist einer wiedererstandenen Republik zu stärken. Als besonders Leidtragende sollte sich eine damals junge und kritische KünstlerInnen-Generation, die in temporären Subkulturen zu überleben trachtete, erweisen.
Dies sollte sich erst mit dem Beginn der Kreisky’schen Reformoffensive signifikant ändern, die kulturpolitisch die „Durchlüftung des altdeutsch geprägten Wohnzimmers Österreich“ (Gerhard Roth) versuchte. Wenn sich Bruno Kreisky und sein Kulturminister Fred Sinowatz immer wieder für eine „durchaus radikale Kulturpolitik“ aussprachen, so hatten sie nichts weniger im Sinn als die Prolongation einer überkommenen „Kulturnation“. In Zeiten von „Mehr Demokratie wagen“ erübrigten sich diesbezügliche Vorstellungen, umso mehr als sich ihre Begründungsversuche im Zuge wachsender Internationalisierungstrends des Kunst- und Kulturbetriebs ad absurdum führen sollten.
Haben sie aber nicht. Ein – wenn nicht der zentrale – Grund liegt im mit dem Aufstieg Jörg Haiders zunehmend kontrovers geführten Zuwanderungs- und damit verbundenen Diversitätsdiskurs. Spätestens mit dem Eintritt Österreichs in die Europäische Union sollte dem letzten klar geworden sein, dass die EU als eine Wirtschaftsunion den freien Verkehr von Geld, Waren und Dienstleistungen inklusive dem freien Verkehr von Menschen über die nationalen Grenzen hinweg ermöglicht und befördert. Das ergibt über kurz oder lang eine neue Zusammensetzung der nationalen Gesellschaften, die sich nicht mehr über eine gemeinsame Kultur der darin sesshaften Bevölkerung zu erkennen vermögen. Vielmehr ist es gerade die Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen, die moderne Nationen und ihren besonderen Charakter auszeichnet.
Kulturelle Diversität als Gebot einer transnationalen Wirtschaftsunion – „Kulturnation“ als Angebot zur Zelebration von Weltfremdheit
Zumindest Teile dieses Personenverkehrs erfolgte nicht freiwillig, sondern war das Ergebnis kriegerischer Auseinandersetzungen, die die davon betroffenen Menschen zwang, auch in Österreich Zuflucht zu nehmen. Für sie alle gilt ungeachtet ihrer je besonderen kulturellen Hintergründe die Europäische Menschenrechtskonvention, die an dieser Stelle noch einmal in Erinnerung gerufen sein soll:
„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ (Bundesgesetzblatt 132/9)
Wenn aber ein kultureller Pluralismus eine der Grundbedingungen der EU-Mitgliedschaft Österreichs darstellt, so könnte man meinen, erübrigten sich – zumal von einem amtierenden Außen- und Europaminister – diesen widersprechende Überlegungen zur Revitalisierung eines bereits in die Archive der Geschichte verschobenen Kulturpolitikkonzepts.
Bereits die schwarz – blaue (bzw. später orange) Bundesregierung 2000 bis 2006 hatte sich in der Rückkehr zum Klischee der rückwärtsgewandten Kulturnation versucht. Neben dem – seit den 1950er Jahren bewährten – Entzug öffentlicher Fördermittel an kritische Kunst- und Kulturschaffende übten sich führende Kulturpolitiker in einem grandiosen Salto rückwärts anlässlich der 250sten Wiederkehr von Mozarts Geburtstag 2006. Als aber die Autorin Elfriede Jelinek 2004 den Literaturnobelpreis erhielt, legte es der damalige Kulturstaatssekretär Franz Morak persönlich darauf an, die Verleihung als Teil einer gezielten, gegen Österreichs kulturelle Eigenart gerichteten Kampagne (als Teil davon er Elfriede Jelinek mit ihrer expliziten Kritik an den österreichischen Zuständen zu denunzieren versuchte) erscheinen zu lassen. Dass sich für diese Zeit auch eine signifikante Steigerung der Fremden- und Ausländerfeindlichkeit in der österreichischen Gesellschaft nachweisen lässt, versteht sich angesichts der damals vorgebrachten kulturpolitischen Konzepte fast schon von selbst.
„Kulturnation“ als All-inclusive-Reiseangebot in eine vermeintlich bessere vordemokratische Vergangenheit
Schwarz-Blau hat durchaus erkennen lassen, wohin die kulturpolitische Reise in die Vergangenheit führen kann, vor allem wenn kulturelle Minderheiten Gefahr laufen, noch einmal unter die Räder eines staatlich verordneten Kulturbegriffs zu kommen. Ungeachtet dessen ist mittlerweile auch in Österreich in einer neuen Phase des Miteinanders von Menschen unterschiedlichster Herkunft angekommen.
Während aber ein zunehmend kosmopolitisch ausgerichteter Mittelstand in der Lage ist, die Vorteile einer nicht mehr auf einen politischen Nenner bringbaren kulturellen Vielfalt zu schätzen, wächst die Zahl derer, die um ihre Zukunftschancen bangen und – in bewährter Weise – ein Ersatzfeld suchen, auf dem sie sich zumindest symbolisch wiederfinden können. Dies umso mehr, als es den rechtskonservativen Kräften gelungen ist, den Zuzug und seine vermeintlich zersetzenden Wirkungen auf die österreichische Gesellschaft zur Causa prima zu machen.
Was also liegt näher, als nach diesem Wahlsieg überkommene Grandiositätsvorstellungen in Gestalt der „Kulturnation“ wiederzubeleben und dem eigenen Elektorat entsprechende Reiseangebote in eine vermeintlich bessere Vergangenheit zu unterbreiten. Dies erscheint nur konsequent, wenn die KoalitionsverhandlerInnen schon jetzt davon sprechen, schmerzhafte Einschnitte in die wohlfahrtsstaatlichen Errungenschaften vornehmen zu wollen. Dies wird materiell vor allem diejenigen treffen, die staatlicher Alimentierung am meisten bedürfen. Statt konkreter Schritte zur Verringerung sozialer Ungleichheit werden sie mit dem Konzept der „Kulturnation“ mit der Zusicherung eines sicheren Hafens eindeutiger Zugehörigkeiten abgespeist. Zugleich können mögliche Schuldige bezeichnet werden, die als „Kulturfremde“ dazu beitragen würden, die hehre Idee einer alle Zugehörigen verbindende „Kulturnation“ zu unterlaufen. Dass bei der Gelegenheit auch gleich der zunehmenden Skepsis des Wahlvolkes gegenüber den demokratischen Errungenschaften entsprochen wird, kann aus der Sicht des rechten Lagers im Versuch der Stärkung autoritärer Tendenzen als zusätzliches Asset angesehen werden.
Wie die Geschichte zeigt, kann Österreich in der Nutzung von Kultur als Einschluss- ebenso wie als Ausschlussmittel außerordentliche Erfahrungen einbringen. Dass damit historisch immer auch die Drohung der Entdemokratisierung und Entsolidarisierung verbunden war, könnte uns nachdenklich machen.
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