„Instabilität ist eine Bedingung von Kreativität“ (Peter Bendixen)
In diesen Tagen organisierte das Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft (IKM) ein weiteres Diskursforum Kulturbetriebslehre. Diese jährlich stattfindende Veranstaltung gibt Studierenden des Instituts Gelegenheit, über den Stand ihrer Forschungen zu berichten und über ihre Ergebnisse zu diskutieren. Als Sparringpartner standen ihnen diesmal zwei der vier Autoren der 2012 erschienenen Streitschrift „Der Kulturinfarkt“ Pius Knüsel und Dieter Haselbach zur Verfügung. Der Text hatte vor allem in Deutschland zu heftigen Reaktionen vor allem von Kulturfunktionären geführt, die die vorgebrachten Thesen als Verrat am bestehenden, von Kürzungen der öffentlichen Förderung gefährdeten System ansehen wollten, das es mit allen Mitteln zu verteidigen gälte.
Kulturinfarkt? – Nicht einmal ignorieren!
In Österreich hingegen wurde die durchaus beabsichtigte Provokation seitens des Kulturbetriebs „nicht einmal ignoriert“; mehr als in Indiz dafür, dass hierorts der kulturpolitische Diskurs weitgehend zusammen gebrochen ist und niemand (mehr) glaubt, eine allfällige Wiederaufnahme könnte die Entscheidungen der führenden Akteure in irgendeiner Form beeinflussen. Im Diskursforum überwog die Position, dass hierzulande alles anders ist, dass der „Auftrag des Staates“, seine schützende Hand über den Kulturbetrieb in seiner jetzigen Gestalt zu halten nicht in Frage steht und wir uns insbesondere darüber freuen sollten, dass es den Musikschulen in der Steiermark dank eines konzertierten Lobbyings gelungen sei, drohende Subventionskürzungen abzuwehren. Ob das alles noch unter dem Anspruch eines Programms „Kultur für alle“ verhandelt werden sollte, dessen Ziele seit nunmehr 40 Jahren konsequent verfehlt würden, sei letztendlich egal.
Verblieb als Streitpunkt der Bericht eines bulgarischen Referenten, der beklagte, dass es nach 1989 mit der Einführung der Marktwirtschaft zu einem weitgehenden Zusammenbruch des traditionellen Kulturbetriebs gekommen sei. Sein Befund brachte ihm die polemische Reaktion ein, dass möglicherweise beides nicht möglich sei: Privilegierung des Kulturbetriebs durch ein totalitäres Regime einerseits und die Durchsetzung eines offenen Entscheidungsraums im Rahmen einer freien Marktwirtschaft, in dem – leider – ein überkommendes kulturelles Angebot auf nur geringes Interesse stoße, andererseits.
Eingebettet war die Diskussion in ein Statement des Kulturökonomen Peter Bendixen, der sich zuletzt in seinem Buch „Zivilisationswende – Technischer Fortschritt und Wohlstand unter Stress“ mit den großen Fragen des gesellschaftlichen Wandels beschäftigt hat. In seinen Überlegungen geht er weit zurück in die Frühphase der Aufklärung, die den Anspruch in die Welt gesetzt habe, die menschlichen Angelegenheiten künftig vernünftig regeln zu wollen anstatt durch Religion, Aberglauben oder Offenbarung. Die aktuelle Berichterstattung um die Wahl des neuen Papstes Franziskus mag Zweifel aufkommen lassen über die diesbezüglichen Fortschritte, aber mit dem aufklärerischen Denken kam unwiederbringlich der Glaube an die Kraft der menschlichen Vernunft, die Gesellschaft zu verändern in die Welt und damit das Ziel, das Individuum von den Fesseln der Tradition oder der willkürlichen Autorität zu befreien.
Wider die Entsinnlichung der Vernunft
Entstanden sei ein neues Problem, das nach Bendixen in einer weitgehenden Verengung dessen, was unter „Vernunft“ verstanden werden wollte, bestünde. Betraf die Idee der Vernunft ursprünglich den Menschen in seiner ganzen geistigen und körperlichen Vitalität so mutierte sie zunehmend auf die Vorstellung der Durchsetzbarkeit naturwissenschaftlich erworbener Gesetzmäßigkeiten, die das Bild des Menschen in dem Maße zurichtete als sich sein Handeln alternativlos den darauf beruhenden wissenschaftlichen Erkenntnissen zu beugen hätte. Eine der Konsequenzen lägen in der Trennung von Körper und Geist, die letzterem als Ort der Erkenntnis sakrosankter Naturgesetze die Vorherrschaft über das schier Körperliche einnehmen ließen (ein strukturelles Ungleichgewicht, das in vielfältiger Weise in die gesellschaftlichen Verhältnisse, etwa in den stereotypen Zuschreibungen von „Mann“ und „Frau“ hineinwirken).
Unmittelbar zu erleben ist die unterschiedliche Bewertung des Körperlichen und des Geistigen bis heute anhand eines schulischen Lernangebotes, das sich unbeeindruckt von allen ganzheitlichen Lernkonzepten, die die SchülerInnen in ihrer Ganzheitlichkeit ernst nehmen, nach wie vor auf den Kopf als vermeintlich zentralen Ort abstrakter Kognition beschränkt.
Als der Markt zum Naturgesetz erklärt wurde
Ähnlich fatal waren nach Bendixen die Auswirkungen im Bereich des wirtschaftlichen Handels. Spätestens mit den Thesen Adam Smiths zur „unsichtbaren Hand“ sei dem Handeln der Marktakteure eine ebensolche naturwissenschaftliche (und damit alternativlose) Gesetzmäßigkeit zugeschrieben worden, die zu konterkarieren bestenfalls von der Unkenntnis der politischen Akteure zeuge.
Womit wir unversehens in der Gegenwart angekommen wären, in der die geistige Konstruktion des Marktes jedes vernünftige Handeln danach ausrichtet, ob es den ihm innewohnenden Gesetzmäßigkeiten entspricht – oder nicht. Die gesellschaftliche Organisation des Zusammenlebens habe sich nach den herrschenden Marktideologen in erster Linie an den Kriterien von Marktkonformität der zu treffenden Maßnahmen zu orientieren; eine Vorgabe, die vor ein paar Jahren den Ökonomen und langjährigen Leiter der US-Notenbank Alan Greenspan zur Begriffsbildung einer „marktkonformen Demokratie“ hat greifen lassen, in der Wählerwille egal wäre, der darüber entscheidet, wer künftig als Präsident der Vereinigten Staaten gewählt würde weil der „Markt“ dessen politische Entscheidungen wesentlich mehr beeinflussen würde als umgekehrt.
Alternative Suchbewegungen haben begonnen
Die Medien berichten uns mittlerweile in Permanenz von den desaströsen Auswirkungen dieses ebenso verengten wie hypertrophen vermarktwirtschafteten Vernunftbegriffs, ohne dass sich bereits eine fundierte Alternative abzeichnen würde. Die wachsende Verelendung von Menschen auch und gerade in der Wohlstandsinsel Europa, die bislang das auf more of the same beruhende Gesellschaftsmodell mitgetragen haben, deutet darauf hin, dass wir gerade das Ende einer Entwicklung erleben, die in der Tat einer Zivilisationswende gleich kommt, ohne – und das schafft eine bedrohliche Verunsicherung – noch zu wissen, wohin die weitere Reise gehen könnte.
Immerhin finden zur Zeit vielfältige Suchbewegungen ganz unterschiedlicher Reichweite und Nachhaltigkeit etwa im Bereich der neuen sozialen (und auch kulturellen) Bewegungen statt, von denen heute niemand sagen kann, welche davon in welcher Weise geschichtsmächtig zu werden vermag. Auffallend ist, dass sich diese Initiativen vom herrschenden Politikbetrieb, der vollends damit beschäftigt ist die Vorgaben des Marktes zu antizipieren, entkoppelt haben; stattdessen herrscht weitgehende Sprachlosigkeit.
In ihrem Buch „Warum Nationen scheitern“ entwickelt das Ökonomenpaar Daron Acemoglu und James Robinson eine Art Gegenthese zur vermeintlichen Dominanz marktwirtschaftlicher Vernunft. Anhand umfänglicher weltumspannender Analysen rehabilitieren sie eine politischer Vernunft, die auf die aktive Beteiligung der Betroffenen setzt und insbesondere versucht, sich gegen den Wildwuchs der Märkte durch zu setzten. Ihre zentrale Botschaft: Es bedarf einer möglichst breiten Involvierung der BürgerInnen an möglichst allen politischen Prozessen, im Rahmen derer die Regierenden den BürgerInnen Rechenschaft schulden, auf ihre Wünsche reagieren, um nicht nur einer kleinen Elite sondern einer möglichst großen Mehrheit die volle Teilnahme am gesellschaftlichen und damit auch wirtschaftlichen Leben zu ermöglichen.
Die beigebrachten empirischen Belege verdeutlichen, dass sich Prosperität nicht der Einhaltung sich scheinbar naturgesetzlich ergebender Markterfordernisse verdankt, sondern der aktiven Mitwirkung einer möglichst breiten Bevölkerungsmehrheit, so sie in der Lage sind, sich mit möglichst vielen ihrer kognitiv-geistigen aber auch körperlich-.sinnlichen Potentiale einzubringen.
Die Zeit der neuen Erzählungen bricht an
Um diese für einen gemeinsamen politischen Prozess zu gewinnen, verlieren die alten Versprechungen der wirtschaftlichen und damit auch die politischen Eliten, etwa auf weitere Wachstumsschübe und damit verbundene weitere Forcierung des Massenkonsums zunehmend an Glanz. Zu sehr hat sich in weiten Teilen der Bevölkerung die Meinung verfestigt, mit diesem Gesellschaftsmodell das Ende der Fahnenstange erreicht zu haben. Umso deutlicher rückt der Anspruch auf gerechte Umverteilung der vorhandenen Ressourcen in den Vordergrund.
Wie aber könnte ein neues, auf dem ursprünglichen Verständnis von Vernunft beruhendes Gesellschaftsmodell aussehen? Der Politikwissenschaftler Ulrich Brand, der sich seit vielen Jahren mit Alternativen zum herrschenden Kapitalismusmodell beschäftigt, hat jüngst im Falter dazu ein Interview gegeben.
Der Titel dazu: „Wir brauchen eine neue Story“. Und in der Tat deutet vieles darauf hin, dass die Aushandlung künftiger politischer Regeln, die nicht ausschließlich von der Wirtschaft vorgegeben sind, einer neuen (vielleicht vieler neueren) Erzählung, die attraktiv genug erscheint, um BürgerInnen gegen ihren zunehmenden Widerwillen gegen das politische Establishment zu motivieren, sich in neuer Weise am politischen Geschehen zu beteiligen.
Kultur als Erinnerungsort des unvorhersehbar Lebendigen
Was das alles mit dem Kulturbetrieb zu tun hat? Sehr viel, wenn Kultur mehr sein will als der Betrieb einzelner Kulturunternehmen. Als solche verweist die Geschichte des Begriffs auf die besondere Fähigkeit, dem zunehmend verhängnisvollen Machtanspruch einer instrumentellen Vernunft die unvorhersagbare Vielfalt des Lebendigen gegenüber zu setzen. Als solche sind seine Ausdrucksformen oft chaotisch, widersprüchlich, jedenfalls gegen die Vereinnahmung durch einen platten Fortschrittsglauben gerichtet, dessen Proponenten ihre spezifischen Interessen hinter vermeintlich unabänderlichen, weil gesetzmäßig vorgegebenen Entwicklungsszenarien für alle zu verbergen suchen. Und so könnte insbesondere der Kulturbereich noch einmal zu einer Instanz mutieren, die die Idee des unberechenbar Lebendigen wach und Zukunft offen hält und damit den Glauben, dass sich die Verhältnisse (wenn auch oft unerwartet) ändern können.
In diesem Sinn habe ich mich spätestens mit diesem Diskursforum gefragt, ob nicht auch der österreichische Kulturbetrieb einer neuen Erzählung bedarf. Auch und gerade weil die unmittelbar am österreichischen Kulturbetrieb Involvierten darauf beharren, eine der letzten verbliebenen Kultur-“Inseln der Seligen“ (Zitat Papst Paul VI. aus dem Jahr 1971) verteidigen zu müssen.
Das Problem bleibt, dass die Realitäten eines immer größeren Teils des Bevölkerung aus ganz unterschiedlichen Gründen von dieser Insel abdriftet und so – wie wir es auch immer drehen und wenden – der Anspruch der Veränderbarkeit auch die Pforten des Kulturbetriebs klopft.
Und so ließen sich über das Diskursforum hinausgehende Fragen stellen, etwa welche Rolle der Kulturbetrieb bei der Konkretisierung der von Bendixen angesprochenen Zivilisationswende spielen könnte, allenfalls auch sollte? Ob der Kulturbetrieb bereit und in der Lage wäre, institutionelle Instabilität zugunsten der Forcierung neuer, kreativer Lösungen zuzulassen? Ob und wenn ja welche Allianzen mit neuen sozialen Bewegungen geschlossen werden könnten, um sukzessive eine neue Erzählung auch im Kulturbereich greifbar und auch spürbar zu machen? Oder aber ob sich der Betrieb erst einmal auf Beharrung versteift, um sich gegen eine weitere Verschärfung des Veränderungsdrucks von außen zu wappnen?
Kunstmuseum gegen Filmmuseum – das nenn ich Brutalität
Viel spricht für ein vorläufiges „Ja“ in Bezug auf die letzte Frage. Zu verstrickt präsentieren sich die Akteure in ihre internen Angelegenheiten, um wahrzunehmen, dass sich ihre Umwelten zur Zeit dramatisch verändern. Und so können wir das Match Kulturgoliath gegen Kulturdavid entlang der Glückwunschbotschaft des Direktors des Filmmuseums an den Direktor der Albertina unmittelbar miterleben. Und sicher sein, dass fürs Erste von dort keine Impulse zur „Zivilisationswende“ zu erwarten sind.
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