Ja, wir dürfen Fehler machen (lassen), aber wir dürfen dabei keine Fehler machen
Jüngst bei einer Diskussionsveranstaltung zur Förderung kultureller Bildung in der Schule entwickelte Erwin Dorn, Lehrer und pädagogischer Leiter der Projektreihe „I like to move it move it“ die wesentlichen Argumente, die für ein Mehr an Theaterpraxis in und rund um den schulischen Unterricht sprechen. Die größte Zustimmung erhielt er für die Bemerkung: „Beim Theaterspielen dürfen die SchülerInnen Fehler machen“.
Es war, als ginge ein großes Aufatmen durch die Reihen: Endlich traut sich einer die herrschenden Werte, die das System Schule bestimmen, in Frage zu stellen.
Nun gelten diese Werte freilich auch im „wirklichen Leben“, wenn sich in den letzten Jahren ein Erfolgsterror durchgesetzt hat, der Anerkennung mit der Fähigkeit „alles richtig zu machen“ kurzschließt. Und doch verfügen wir über ein tieferes Wissen, dass Fehler die eigentliche Ressource sind, um zu lernen. Die Beschäftigung mit ihnen ist die eigentliche Voraussetzung, sie nicht noch einmal zu machen und uns so weiterzuentwickeln. Was aber soll die Propagierung von „Fehler machen dürfen“ in einer Schule, deren oberster Maßstab die fehlerfreie Wiederholung der Vorgaben der LehrerInnen ist. Wenn das Lernprogramm darin besteht, dass die SchülerInnen, „Fehler“ erst gar nicht hochkommen lassen und wenn sie doch auftreten, dass sie negativ sanktioniert werden?
Jedenfalls hat mir Erwin Dorn Lust gemacht, über „Fehler“ in der Schule intensiver nachzudenken. Dabei sind mir durchaus auch Bedenken gekommen, wenn es darum geht, emphatisch den Zusammenhang von „Fehler machen“ und „Theater spielen“ zu beschwören. Immerhin kann die Behauptung auch als eine unbeabsichtigte Form der Selbststigmatisierung verstanden werden, wenn die Reaktion lautet: Ja, beim Theaterspielen können vielleicht Fehler gemacht werden. Aber dort, wo es um die „Wurscht“ geht, etwa bei der Beschäftigung mit den wirklich wichtigen Lerninhalten müssen Fehler tunlichst vermieden werden, um gute Resultate zu erzielen.
Einer solchen Zuschreibung als Randphänomen schulischen Unterrichts kann nur entgangen werden, wenn es gelingt, die Handlungsanleitung „Fehler machen“ über die engen Grenzen des schulischen Theaterspielens hinaus zu erstrecken. Damit mutierte die Erlaubnis, „Fehler machen zu dürfen“ zu einem zentralen Unterrichtsprinzip einer neuen Lernkultur. Damit würden auch im Mathematikunterricht oder beim Sprachenerwerb die Auseinandersetzung mit Fehlern zu einem essentiellen Bestandteil jeglicher Lernprozesse und es wäre wohl eher eine Frage, wie wir mit Fehlern umgehen, ob wir sie tabuisieren, bestrafen, zulassen oder sie als Ausgangspunkt für nächste Lernschritte zu nutzen.
Dürfen Fehler nur im Kunstunterricht gemacht werden?
Damit wird deutlich, dass die Sache mit den Fehlern und ihr Stellenwert im schulischen Unterricht noch eine sehr grundsätzliche Dimension inne wohnt. Immerhin führt der Kunstunterricht in beispielhafter Weise vor, dass es gar nicht so einfach ist, zwischen fehlerhaften und richtigen Lösungen zu unterscheiden. Entlang der verschiedenen Individualitäten der SchülerInnen und ihren unterschiedlichen Zugängen zu künstlerischen Problemstellungen wird unmittelbar klar, dass es ein richtiges und ein falsches Ergebnis per se nicht gibt. Jede Arbeit ist vielmehr Ausdruck der spezifischen Persönlichkeit des jeweiligen Schülers/der jeweiligen Schülerin, der/die im letzten darüber befindet, ob und in welcher Form sie seinen Maßstäben entspricht. „Fehler“ mutieren dabei zu einem Ausgangspunkt von Verhandlungen, sei es zwischen den SchülerInnen, sei es zwischen ihnen und der Lehrperson, die zwar ihre künstlerisch-pädagogischen Erfahrungen, nicht aber einen objektiven Maßstab von richtig und falsch einbringen kann.
Es gibt mehr als eine richtige Lösung – nicht nur in der Kunst
Der US-Amerikanische Kunstpädagoge Elliot Eisner ist bereits vor Jahren dieser Frage in seinem Buch „Creation of Mind“ nachgegangen. Das Besondere seines Ansatzes besteht darin, dass er nicht nur KunstlehrerInnen, sondern alle LehrerInnen dazu einlädt, der Fundamentaltheologie der exakten Wissenschaften abzuschwören , wonach man alles als eindeutig richtig oder falsch beurteilen kann. Stattdessen empfiehlt er, bei allen Unterrichtsformen und –inhalten Anleihen beim Kunstunterricht zu nehmen, wenn es darum geht, individuelle Bearbeitungen und Lösungen von Problemstellungen zuzulassen und zu akzeptieren, dass es selbst im Mathematik-Unterricht mehrere richtige Ergebnisse geben kann.
Mit solchen Konzepten wird der Primat der abstrakten Logik, der scheinbar objektiv messbare Leistungen der SchülerInnen von ihren Persönlichkeiten zu trennen versucht, in Frage gestellt. Und in der Tat würde sich die volle Wirkung des Satzes: „Es dürfen Fehler gemacht werden“ erst dann ergeben, wenn er nicht nur entlang des Sonderfalls „Theater spielen“ sondern im Rahmen einer umfassenden Neuausrichtung schulischen Lernens und die damit verbundenen Wert- bzw. Bewertungsvorstellungen verhandelt werden müsste.
Anregung dafür könnten jüngste Konzepte von „Divergent Thinking“ liefern, die darauf hinauslaufen, neben der Vermittlung abstrakter kognitiver Fähigkeiten auch andere, persönlichkeitsstiftende Dimensionen wie Intuition, Subjektivität, Emotion, Vorstellungskraft, Kreativität oder Ganzheitlichkeit im Rahmen der Unterrichtspraxis zu berücksichtigen.
Neben dieser positiven Aufladung des „Fehler machens“ zur Verflüssigung der aktuellen institutionellen Starrheit von Schule gibt es aber auch noch andere bedenkenswerte Facetten. Immerhin stellt „Fehler machen“ per se noch keine große Leistung dar. Folgt man vielmehr der etymologischen Bedeutung – wie im Goethe-Zitat am Anfang angedeutet – dann verweist der Begriff des „Fehlers“ auf etwas, das fehlt, auf ein Irren, auf einen Mangel. Nun können SchülerInnen und LehrerInnen (oder auch KünstlerInnen) im Rahmen des Unterrichts ja durchaus unterschiedlicher Meinung sein, ob etwas fehlt und wenn ja, was. Um diese Frage zu klären, würde ich mir eine, auf gegenseitiges Vertrauen beruhende Kommunikationskultur zwischen allen Beteiligten wünschen, im Rahmen derer „Fehler“ überhaupt erst einmal erkannt, angesprochen und so für die Weiterentwicklung des gemeinsamen Lernprozesses genutzt werden können.
Ich habe zu viele Schultheaterstücke gesehen, die irgendwie nett waren, ohne den angesprochenen Lernprozess aus Fehlern zu repräsentieren. Stattdessen waren sie Ausdruck einer Unfähigkeit, mit – zum Teil ganz offensichtlichen – Fehlern umzugehen. Was ich vermisst habe, war eine kritische Haltung gegenüber den eigenen Fehlern als eine notwendige Voraussetzung um einen geschärften künstlerischen Anspruch zu entwickeln. Selbst bei gutwilligstem Zusehen bleibt der Eindruck, dass es sich ja „nur“ um Schultheater handelt, bei denen man eingeladen ist, aus pädagogischen Gründen über Fehler hinwegzusehen und -zuhören.
Diese Form des „Leben-lernens mit Fehlern“ halte ich nicht für einen wünschenswerten Ausdruck einer neuen Lehr- und Lernkultur sondern in erster Linie als ein Zeichen pädagogischer Hilflosigkeit. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an ein Streitgespräch zwischen dem Choreographen Royston Maldoom und zwei LehrerInnen im Film „Rhythm is it!“. Während die LehrerInnen versucht haben, ihre SchülerInnen in ihrer Fehlerhaftigkeit zu verteidigen, bestand der Künstler Maldoom darauf, ihnen das abzuverlangen, was in ihnen steckt. Und in der Tat waren die meisten der teilnehmenden SchülerInnen mit dem Erkennen von Fehlern bereit, über ihren Schatten zu springen.
Bei LehrerInnen hätte ich schon gerne, dass sie wissen, was sie tun
Noch mehr Zurückhaltung habe ich freilich bei der Verteidigung von Fehlern bei den LehrerInnen und darüber hinaus bei den Mitgliedern der Schulverwaltung. Ja, wir sind alle fehlerhaft und beweisen dies jeden Tag. Aber die tagtägliche Beschäftigung mit Kindern und jungen Menschen (die im Übrigen auf der Übergabe der Erziehungsverantwortung von den Eltern auf die LehrerInnen beruht) setzt eine besondere Verantwortung dieser Berufsgruppe voraus, keine, die SchülerInnen beschädigenden, Fehler zu machen.
Und da kann ich es als Elternteil nicht als einen Wert erkennen, wenn LehrerInnen im Umgang mit den ihnen anvertrauten SchülerInnen eigenes fehlerhaftes Verhalten zur Norm erklären. Ganz im Gegenteil erwarte ich vom System Schule, dass es in seiner langen Tradition hinreichende Instrumente entwickelt, um diesbezügliche Fehler möglichst früh zu erkennen bzw. zu vermeiden. Und weil wir alle – neben einer Mehrzahl hoch professionell agierender und zugleich empathiefähiger LehrerInnen – auch solche kennen, die ganz offensichtlich gravierende Fehler machen und trotzdem immer wieder auf SchülerInnen losgelassen werden, spricht vieles dafür, dass im Umgang mit Fehlern in und rund um Schule noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.
Auf der Ebene der Schulpolitik und –verwaltung erhält die Thematik noch einmal eine weitere Dimension. Wir werden mittlerweile täglich von der Fehlerhaftigkeit des traditionellen Schulsystems informiert. Trotzdem verharren weite Teile der Politik und Verwaltung in einer anhaltenden Pattstellung um Zweck der Verteidigung ihrer Interessen. Wir wissen es und lassen es zu, dass die Blockierer schwerwiegende Fehler zu Lasten der jungen Generation begehen, deren Lebenschancen sich damit nachhaltig verschlechtern.
Und begründen die eigene Apathie nach der x-ten medialen Wiederholung, dass in den Verhandlungen zur Reform des Schulwesens wieder nichts weitergegangen ist mit dem Argument: „Ist eh alles nur Theater“.
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