Je heftiger die Migrationsdebatte, desto weniger soziale Gerechtigkeit
Vor einigen Tagen fand in der „Werkstatt der Kulturen“ in Berlin eine Fachtagung zum Thema „Zuwanderung, Engagement und die Öffnung etablierter Kultureinrichtungen“ statt. Ausgerichtet wurde die Veranstaltung vom Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement in Deutschland, das der Frage nach der Relevanz des Kulturbetriebs angesichts der aktuellen demographischen Veränderungen nachgehen wollte.
Ganz offensichtlich konnten die apostrophieren Veränderungen in der Programmgestaltung selbst noch keinen Niederschlag finden. Als Gast aus Österreich kam ich mir fast wie ein Alibimigrant in einer ansonsten sehr homogenen Redner*innen-Liste vor, deren deutsche Namen noch kaum etwas von der propagierten Diversität der Zugänge erzählte.
Dieser Charakter einer zunehmend minoritären „Parallelgesellschaft“, die im Rahmen dieser Fachtagung noch einmal versucht hat, sich unter weitgehendem Außenvorlassen der geänderten sozialen Wirklichkeiten zu verständigen, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Gedanke der „Öffnung“ mittlerweile auch im Kulturbetrieb durchaus angekommen ist. Diese kann freilich auf sehr unterschiedliche Weise erfolgen. Das zeigt ein aktueller Vergleich zweier Theaterproduktionen.
Am Wiener Volkstheater fand in diesen Tagen die Premiere von „Gutmenschen“ von Yael Ronen statt. Geschildert wird ein zunehmend verunsichertes linksliberales Milieu – die „Gutmenschen“ eben – die mit den Folgen eines negativen Asylbescheides eines mit ihnen befreundeten Asylwerbers Yousef Ahmad (real ein Cousin einer Schauspielerin des Volkstheaters) konfrontiert sind. Im Finale tritt Yousef für 30 Sekunden als er selbst auf. Das dürfte er eigentlich nicht, weil er als Asylsuchender gar nicht Erlaubnis hat, zu arbeiten. In das Verlöschen des Lichts am Ende des Stücks meint er lakonisch: „Es wird definitiv dunkler hier“ – und meint damit nicht nur den Theaterraum.
„Gutmenschen“ ist eine Fortsetzung von „Lost and Found“. Diese Produktion war ein erster Versuch der Zusammenarbeit von professionellen Schauspieler*innen und geflüchteten Menschen. Und wurde prompt zum erfolgreichsten Stück des Jahres 2016 gewählt und mit dem Nestroy-Preis bedacht. Die Kritiken von „Gutmenschen“ waren allesamt freundlich, bedauert wurde allenthalben die Preisgabe theaterästhetischer Qualität gegenüber dem überbordenden Engagement aller Beteiligten für die gute Sache. Und es wurde deutlich, dass eine „Öffnung des Theaters“ allein nicht ausreicht, die Lebensbedingungen von Zuwander*innen zum Besseren zu wenden, wenn diese existentiell von „theaterfremden“ und doch im höchsten Maße wirksamen migrationspolitischen Maßnahmen etwa im Bereich des Arbeits- und Wohnungsmarktes, nicht zu reden vom vorenthaltenen Recht der politischen Mitbestimmung abhängig sind.
Ganz anders die britische Produktion von „Julius Caesar“ des Bridge Theatre in London. In dieser Produktion ist „Öffnung“ gar kein Thema mehr; sie ist bereits erfolgt; dementsprechend trifft völlig selbstverständlich eine höchst diverse Truppe auf ein ebenso diverses Publikum und gestaltet einen Abend, der alle Facetten der aktuellen Migrationsgesellschaft spiegelt. Ganz offensichtlich kann sich die Truppe des Brigde Theatres auf ganz andere gesellschaftliche Selbstverständnisse im Melting-Pot London beziehen während in Wien das schiere Auftreten eines „Fremden“ auf der Bühne einer Traditionsbühne noch als eine exotische Ausnahmesituation (mit allen ästhetischen Abstrichen) verhandelt werden muss.
In meinem Versuch einer Herleitung bisheriger Debatten um eine Öffnung von Kultureinrichtungen bin ich um den Aspekt der „Willkommenskultur“, die den Sommer 2015 beherrscht hat, nicht herumgekommen. Immerhin verstand sich damals der Kulturbetrieb als eine Avantgarde, wenn es darum ging, unter dem Eindruck der Massenzuwanderung von Flüchtlingen vielfältige Initiativen in Gang zu setzen. Die Motive mögen unterschiedlich gewesen sein und vom Ausdruck einer humanitären Grundhaltung über die Mitwirkung an der Ausgestaltung aktueller gesellschaftspolitischer Trends bis hin zur Nutzung von Incentives im Rahmen neuer öffentlicher Förderprogramme gereicht haben. Auch in Österreich haben eine Reihe von Einzelpersonen als Ausdruck eines breiten zivilgesellschaftlichen Engagements geflüchteten Menschen zumindest temporär Perspektiven gegeben.
Die Öffnung des Kulturbetriebs hat den zunehmenden ausländerfeindlichen Tendenzen nicht Einhalt zu bieten vermocht
Zwei Jahre später müssen wir erkennen, dass all diese Bemühungen nicht ausgereicht haben, den grassierenden Desintegrationstendenzen entgegen zu wirken; stattdessen machen sich allerorten Kräfte in Europa breit, die auf der Klaviatur wachsender Verunsicherung keinen Genierer kennen, auf dem Rücken von freiwillig und unfreiwillig Zugewanderten politisches Kleingeld zu schlagen. Entsprechend dringlich stellt sich die Frage auch für Kunst- und Kultureinrichtungen, welche Rolle sie in den europäischen Gesellschaften, die von einer neuen Welle sozialer Kämpfe konfrontiert sind, zu spielen gedenken.
Manches ist in den letzten Jahren geschehen: So lässt sich eine vorsichtige Trendwende staatlicher Kulturpolitik von der Produktions- zur Rezeptionsorientierung feststellen. Dieser schleichende Paradigmenwechsel ist verbunden mit neuen Auftragsverhältnissen, die Kunst- und Kultureinrichtungen staatlicherseits mehr oder weniger sanft verpflichten, sich um neue, bislang vernachlässigte Zielgruppen zu bemühen. Diese Entwicklung wird von links als Verbesserung der Zugangschancen für sozial Benachteiligte interpretiert, während von rechts die Angriffe auf eine kunstaffin-liberale und mit ihrem Diversitätsgefasel die deutsche Kultur verratende Hautevolee zunehmen. Diese hätte sich in ihren Kulturtempeln auf Kosten „des Volkes“ wohlig eingerichtet. Es wäre höchste Zeit, sie aus ihren privilegierten Positionen zu vertreiben.
In jedem Fall ist es in den letzten Jahren zur Implementierung einer Vielzahl neuer Initiativen im Bereich der Kulturellen Bildung bzw. der Kunst- und Kulturvermittlung gekommen. Diese stellten allesamt darauf ab, die Trägereinrichtungen in ihren lokalen Umgebungen neu zu verorten (und damit pragmatisch den Fortbestand ihrer staatlichen Priorisierung durch Inanspruchnahme von öffentlichen Fördermitteln zu legitimieren). Alle verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass die strukturellen Effekte, die sich aus diesen Bemühungen ergeben haben, als bescheiden eingestuft werden müssen. Nach wie vor kommt der überwiegende Teil der Nutzer*innen (mit und ohne migrantischem Hintergrund) aus wohlhabenden und wohlgebildeten Milieus, während der größere Teil der Bevölkerung keine tiefere Beziehung zum jeweiligen Kunst- und Kulturangebot einzugehen vermag. Nicht nur bei mir nährt diese Asymmetrie die Vermutung, dass der Kulturbetrieb ungeachtet aller demokratischen Gleichheitsansprüche ungebrochen eingebettet ist in konfligierende Machtansprüche, die den einflussreichen Mitgliedern der Gesellschaft die Mitwirkung am kulturellen Geschehen als wohlerworbenes Recht eröffnet während allen anderen der Zugang zu kulturellen Öffentlichkeiten auf immer neue Weise verwehrt wird.
Die doppelte Wahrheit der Aufklärung
Auf der Suche nach den Ursprüngen dieses Missverhältnisses hat der britische Literaturwissenschafter Terry Eagleton in „Der Tod Gottes und die Krise der Kultur“ auf einen fundamentalen Widerspruch hingewiesen, der die europäische Aufklärung von ihrem Beginn an begleitet. Eagleton spricht von einer „doppelten Wahrheit“, wonach eine kleine bildungsbürgerliche Elite bereits im 18. Jhdt. für sich in Anspruch genommen hat, universelle kulturelle Werte zu vertreten, während alle anderen von diesem exklusiven Club ausgeschlossen wurden. Statt auch ihnen ihre eigene „Kultur“ als Mittel der Emanzipation zuzugestehen sollten die niederen Stände mit Hilfe von Religion ruhig gestellt werden. Also hatten selbst führende Aufklärer wie Voltaire – einer der reichsten Franzosen seiner Zeit – kein Problem damit, dass Menschen sich auf seinen Latifundien zu Tode schufteten; dass der Gründungsvater der Vereinigten Staaten Thomas Jefferson seinen Wohlstand aus Sklavenarbeit bezog und dass Immanuel Kant in seiner „Physischen Geographie“ ein Loblied auf die weiße Rasse singen durfte:
„Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften. […] Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege.“ (I. Kant, AA IX : Logik – Physische Geographie)
„Kultur“ war immer schon ein Mittel der sozialen Distinktion, das über Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit entschieden hat
Unschwer lassen sich hier die Ursprünge eines kulturellen Selbstverständnisses erkennen, das als mächtiges Mittel der Distinktion im Kampf um Macht und Einfluss bestehende soziale Differenzen bestätigt. Dieser Vernutzung von „Kultur“ zur Schaffung sozialer Distinktionsgewinne für eine von Gott gefügte Elite machte freilich nicht schon immer vor ethnischen und/oder nationalen Grenzen Halt. Die wenigen hocharistokratischen Familien, die damals Europa je nach Kriegsverlauf in immer neuen Konstellationen unter sich aufgeteilt haben, gaben sich kulturell durchaus „transnational“, wenn sich etwa im Wiener Kunsthistorischen Museum bis heute ein Flämischer neben einen Italienischen, einen Spanischen oder einem Französischen Saal reiht und sich ähnliche grenzüberschreitende Konstellationen auch für den Musik- oder Opernbereich nachweisen lassen. Noch im 19. Jhdt. sah es Kronprinz Rudolf als wichtige Aufgabe, im Rahmen einer umfassenden Enzyklopädie die kulturellen Besonderheiten aller Teile des Vielvölkerstaates der k&k Monarchie Österreich – Ungarn zu einem gemeinsamen Tableau zusammen zu führen und damit dem kulturellen Reichtum dieses mitteleuropäischen Reiches einen bibliophilen Ausdruck zu geben.
Es ist das Überhandnehmen der industriellen Produktionsweise im Verlauf des 19. Jhdts., das der damit verbundenen erstarkenden Konkurrenz einen nationalstaatlichen Ordnungsrahmen aufzuzwingen versucht hat. Ein erstarkendes Bürgertum sah sich dergestalt in der Lage, einerseits das Joch aristokratischer Herrschaft abzuschütteln und sich andererseits als zentraler Machtfaktor zu etablieren. Als solche bemühte sich die neue Elite nicht nur um materielle, sondern auch um immaterielle und damit kulturelle Selbstbestätigung. Dafür wurden auch die Kultureinrichtungen in Dienst genommen, die von manchen bis heute als wichtige Repräsentationsformen nationaler Identität angesehen werden (und erfahren in den rechtspopulistischen Konzepten zur Abwehr fremder kultureller Einflüsse sogar eine Renaissance). Eingezogen wurde damit eine neue Unterscheidungsebene, wonach die nationale Zugehörigkeit bislang unbekannte ethnische und sprachliche Ein- und Ausschlusskriterien vorsah, die die Kulturpolitik in der Folge wesentlich mitbestimmen sollten (Am Beispiel Wiens zu Beginn des 20. Jhdts., das damals noch als ein beispielhafter „Melting Pot“ unterschiedlichster ethnischer Gruppen angesehen wurde, kann die damit verbundene kulturpolitische Verengung beispielhaft verhandelt werden).
Der lange Marsch des Kulturbetriebs in die Demokratie
Als es 1918 zur Errichtung demokratischer Regime kam, standen Kulturpolitiker erstmals vor der zentralen Frage der Öffnung von Kultureinrichtungen. Und sie beschäftigt uns bis heute – und ist bis heute nicht gelöst. Immerhin verspricht die demokratische Verfasstheit der nationalen Gesellschaften einen gleichen und unbehinderten Zugang aller Menschen zum öffentlichen Raum und dessen Mitgestaltung, ungeachtet ihrer jeweiligen Gruppenzugehörigkeiten. Dies betrifft auch den Kulturbetrieb, der sich seither die immer erneuerte Frage gefallen lassen muss, was in ihm mit wem und vor allem für wen verhandelt wird. In Österreich – vor allem im „Roten Wien“ der Zwischenkriegszeit – lassen sich frühe Formen kultureller Bildung nachweisen, wenn selbst führende Künstler-Avantgardisten der damaligen Zeit wie Arnold Schönberg sich an „Arbeitersymphonie-Konzerten“ beteiligten und damit dem Anspruch folgten, bürgerliche Kunst allen Teilen der Gesellschaft und damit auch der Arbeiter*innenschaft zugänglich zu machen.
„Kunst hat doch mit Demokratie nichts am Hut!“
Es ist faszinierend zu beobachten, dass die damit verbundenen Kämpfe um Mitwirkung bzw. Mitbestimmung bis heute andauern. Umjubelte Größen des Kulturbetriebs wie Matthias Hartmann dürfen bis heute lauthals verkünden, sie hätten „mit Demokratie nichts im Sinn“; Theater sei vielmehr der Ort, künstlerische Idiosynkrasien um fast jeden Preis auszuleben, um das zu schaffen, um was es einzig geht: um Kunst. Da mag sich Frank Castorf gerne anschließen, wenn dieser immer wieder darauf hingewiesen hat, dass „Theater ein höfischer Betrieb mit einem Kaiser oder Fürsten an der Spitze sei.“ Sein Erfolgsrezept sei es gewesen, die Volksbühne im royalistischen Sinne selbstherrlich wie ein Kampfinstrument zu führen. Wenn jetzt unter einigem Protest ein internationaler Eventmanager in der Person von Chris Dercon – der in der Tate-Gallery vorgezeigt hat, was es heißt, alle, wirklich alle willkommen zu heißen – die Volksbühne übernommen hat, dann ist immerhin zu hoffen, dass damit auch neue demokratische Standards – notgedrungen Grundlagen einer kapitalistisch ebenso wie universalistisch verfassten Konkurrenzgesellschaft – in das Haus einziehen. Bis dahin steht einige Straßen weiter das Gorki-Theater mit seinem postmigrantischen Gegenentwürfen für eine neue Durchmischung sowohl auf der Bühne als auch im Zuschauerraum.
Das zentrale kulturpolitische Problem, das sich in den letzten hunderten Jahren demokratischer Entwicklung (mit dramatischen Unterbrechungen) immer wieder neu gestellt hat, besteht im Umstand, dass die traditionell „Ausgeschlossenen“ wenig Anstalten gemacht haben, die Türen der verschlossenen Kultureinrichtungen aufzubrechen und ihnen dadurch den lange vorenthaltenen Zugang zu ermöglichen. Es waren in der Regel ihre kultur-politischen Vertreter*innen, die sich im Kulturbereich für sie stark gemacht haben. Dabei haben sich zwei unterschiedliche Stoßrichtungen herausgebildet, die im Zusammenhang mit der zunehmenden kulturellen Ausdifferenzierung der Gesellschaft bis heute handlungsleitend erscheinen.
Zugang zu „Kultur“ oder „eigene Kultur“?
Da ist zum einen die Forderung, allen den Zugang zum etablierten Kulturbetrieb zu ermöglichen und dafür die bestehenden materiellen aber auch immateriellen Barrieren abzubauen. Und da ist die Forderung, die bestehende Hegemonie des bürgerlichen Kulturbetriebs hinter sich zu lassen und stattdessen darauf auf kulturelle Emanzipation zu bestehen. In diesem Verständnis verfügt jede soziale Gruppe (Arbeiter*innen, Jugendliche, Migrant*innen,…) über ihr eigenes kulturelles Ausdrucksrepertoire, das in einer vielfältigen Kulturlandschaft die gleiche kulturpolitische Aufmerksamkeit verdient. Entlang dieser Forderung ist gerade in den 1970er und 1980er Jahren eine neue soziokulturelle aber auch freie Szene entstanden, die sich mit halbherzigen Öffnungsversprechen nicht mehr abspeisen lassen sollte. Stattdessen hat man versucht, sich gegenüber einem zunehmenden selbstreferentiellen Hochkulturbetrieb mit den eigenen kulturellen Ausdrucksformen in Stellung zu bringen. Heute scheint diese Form der schroffen Gegensätzlichkeit weitgehend obsolet; stattdessen hat sich eine neue Form der Permeabilität herausgebildet, die sowohl die beteiligten Künstler*innen als auch das Publikum kulturell mobiler gemacht hat.
Die unterschiedlichen Formen der Auseinandersetzung rund um die Öffnung von Kultureinrichtungen können am Beispiel des Museums paradigmatisch abgehandelt werden. Die österreichische Museologin Regina Wonisch sieht in ihrer Studie „Museum und Migration“ drei zentrale Herausforderungen für Museen als zentrale Orte kollektiver Selbstvergewisserung in demokratisch verfassten Gesellschaften: Gender, Class und Ethnicity.
Wir können unschwer erkennen, dass die letzten hundert Jahre signifikante Veränderungen im diesbezüglichen Gefüge gebracht haben. Und trotzdem sind wir noch weit weg von einer auch nur halbwegs plausiblen Repräsentation der Zusammensetzung der Gesellschaft, in der sich Museen neu zu verorten suchen. Immerhin spricht vieles dafür, dass die traditionelle männliche Dominanz im Kulturbetrieb in den letzten Jahren signifikant abgenommen hat; jüngste Ergebnisse von Kulturmonitorings sprechen sogar davon, dass „die Kultur weiblich geworden sei“. Widersprüchlicher sind da schon die Befunde in Bezug auf Ethnicity, vor allem, wenn wir bereit sind, (post-)migrantische Bevölkerungsteile nicht mehr pauschalierend als homogene Gruppen anzusehen und statt dessen anzuerkennen, dass ihre Mitglieder sich mittlerweile in allen sozialen Schichten der Gesellschaft wiederfinden. Und wir stellen fest, dass sich Menschen mit Migrationsgeschichte in ihrem Kulturverhalten weitgehend konform zu ihrer jeweiligen sozialen Gruppe verhalten, der sie sich zugehörig fühlen (In diesem Zusammenhang fand ich eine jüngste Analyse in der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel „Man spricht Kunst“ sehr aufschlussreich, wenn dieser zum Schluss kommt, dass Museen drauf und dran sind, ihre Funktion als Repräsentationen nationaler Identität aufzugeben und sich stattdessen als Ort der Begegnung für „globale Jobnomaden“ zu empfehlen.
Über das Ende der Klassengesellschaft und die „Kulturalisierung“ sozialer Gegensätze
Eine besondere Bedeutung in den Auseinandersetzungen um die Öffnung von Kultureinrichtungen kam traditionell dem Klassencharakter der Gesellschaft zu. Immerhin waren es die frühen Arbeiterbewegungen, die sich im Versuch der Eroberung der politischen Macht für die Überwindung einer – durch den etablierten Kulturbetrieb repräsentierten – bürgerlichen Hegemonie eingesetzt haben. Wenn die Sozialdemokraten in den 1970er Jahren Konzepte des Klassenkampfes für obsolet erklärt haben, so taten sie es mit dem Versprechen, eine umfassende Reformpolitik würde sukzessive zu einer „Vermittelständigung“ der Gesellschaft führen, an der alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen Anteil haben würden. Kulturpolitik verstand sich in diesem Zusammenhang als eine Fortsetzung von Sozialpolitik, um im Rahmen der Weiterentwicklung von Wohlfahrtsstaatlichkeit zu Kulturstaatlichkeit nicht nur materielle sondern zunehmend auch immaterielle und damit kulturelle Mittel zugunsten der Schwächeren umzuverteilen. Interessant – jedenfalls für Österreich – ist der Umstand, dass in diesem Reformkonzept Fragen der Ethnizität kaum eine Rolle gespielt haben. Obwohl auch damals Zuwanderung ein wesentlicher Faktor war, meinte man ganz offensichtlich, dass damit verbundene kulturelle Unterschiede sehr schnell in einem Szenario permanenter wirtschaftlicher und damit sozialer Prosperität soweit relativiert werden könnten, dass sie keine Auswirkungen auf die Gesamtverfassung des Gemeinwesens haben würden.
Je mehr Diskussion um Fragen der Migration desto größer das Ausmaß an sozialer Ungleichheit
Dieses politische Konzept der umfassenden Vermittelständigung muss spätestens mit den Krisenerscheinungen 2008 und den ungenügenden Antworten der Politik für gescheitert erklärt werden. Und in dem Maße, in dem sich die sozialen Differenzen verschärfen, beobachten wir eine Renaissance kultureller Unterscheidungsbedürfnisse, die im Rahmen mannigfacher Verschlagwortungen von „Multikulturalität“, „Interkulturalität“, „Transkulturalität“, „Diversität“ oder „Integration“ auf die politische Tagesordnung gelangen. Vorgetragen wird diese neue Form der „Kulturalisierung“ der gesellschaftlichen Verhältnisse vor allem von rechtspopulistischer und rechtsradikaler Seite, die vermeint, damit diffuse Ängste, die der Soziologe Oliver Nachtwey mit dem Begriff der „Abstiegsgesellschaft“ beschrieben hat, politisch auf ihre Mühlen lenken zu können.
Mit dieser erfolgreichen Strategie der „Kulturalisierung“ wachsender sozialer Unterschiede zeigen sich die Umrisse einer rechten kulturellen Hegemonie, die drauf und dran ist, Konzepte der Diversifizierung durch solche der Marginalisierung derjenigen, denen als parasitierende Zuwander*innen die Hauptschuld an der wachsenden sozialen Verungleichung angelastet wird – zu tauschen. Ein wesentlicher Teil einer solchen Strategie besteht in der Diffamierung des Kulturbetriebs als Hort liberaler Eliten, die mit der Aufrechterhaltung von Diversitätsansprüchen das Volk verraten würden. Nicht eben eine gute Botschaft für all die, denen eine Öffnung des Kulturbetriebs für jene, die außerhalb ihrer Mauern mit immer brutaleren Mitteln diskriminiert werden, wichtig ist.
Die soziale Stellung beeinflusst das Nutzer*innen-Verhalten mehr als die ethnische Zugehörigkeit
Auf der Grundlage dieser – an der Stelle nur andeutbaren – gesellschaftspolitischen Veränderungen deuten die wenigen Daten zum Nutzer*innen-Verhalten darauf hin, dass Ethnizität und soziale Stellung enger zusammenhängen, als gerne angenommen: Vieles spricht dafür, dass es eher die sozialen als die spezifisch ethnischen Hintergründe sind, die das kulturelle Verhalten bestimmen. Zu diesem Befund gehört auch, das Zuwander*innen alles andere als eine homogene Gruppe darstellen; sie sind stattdessen in allen Schichten der Gesellschaft angekommen, wobei zusätzlich zu berücksichtigen ist, dass zum Teil hoch und höchst gebildete Zuwander*innen einem massiven Dequalifizierungsdruck ausgesetzt sind. Nach wie vor bestimmen Haushaltseinkommen und Bildungsabschlüsse wesentlich das kulturelle Verhalten (und damit die Möglichkeiten und Grenzen von Öffnungsversuchen). Dazu kommt der ausgeprägte Wunsch, sich in der jeweiligen Einrichtung unter „Ähnlichen“ wieder zu finden, um sich so nicht Fremdheitserfahrungen gegenüber einer anderen sozialen Gruppe aussetzen zu müssen. Ob überhaupt ein spezifisches Nutzer*innen-Verhalten von geflüchteten Menschen angenommen wird, sei an dieser Stelle dahin gestellt. Stattdessen ist eine besondere Vorsicht in der Abgabe von Versprechen des Kulturbetriebes angesagt, wenn zumindest elementare Probleme wie Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt, Gesundheits- und Sozialleistungen oder Bildung und Spracherwerb im Vordergrund stehen.
Es spricht wenig für die Aussicht, dass ausgerechnet Kultureinrichtungen einen wesentlichen Beitrag zur Änderung der sozialen Verhältnisse zu leisten vermögen. Sie sind stattdessen Spiegelbilder eben dieser Verhältnisse und schaffen eine symbolische Ebene, für die sich daraus ergebenden Probleme zu sensibilisieren. Auf ihrer Suche nach einer diesbezüglichen Relevanz lassen sich unterschiedliche Dimensionen ausmachen:
Da ist die inhaltliche Auseinandersetzung, wenn Kultureinrichtungen gefordert sind, zur Erweiterung und Vertiefung von Narrativen der Migrationsgesellschaft beizutragen und dadurch die Programmvielfalt zu vergrößern. Auch formal lassen sich Weiterentwicklungen nachzeichnen, die eng an das gebunden sind, was wir unter „Kunst“ verhandeln: Dazu gehören interdisziplinäre Konzepte ebenso wie neue Möglichkeiten der Partizipation, die auch Nichtkünstler*innen erlauben, am Kunstgeschehen nicht nur passiv sondern auch aktiv teil zu haben. Eine wesentliche Dimension stellen alle Programme der Kulturellen Bildung sowie der Kunst- und Kulturvermittlung dar. Das besondere Problem dabei besteht in der aktuellen Personalrekrutierung, wenn die meisten in diesem Feld Tätigen einen bildungsbürgerlichen Hintergrund einbringen und sich damit schwer tun, mit anderen sozialen Gruppen informiert und glaubwürdig zu kommunizieren. Hinzuweisen ist auch noch auf die Entwicklung einer Reihe neuer Formate von Kultureinrichtungen, die mit Outreach- oder Proms-Aktivitäten versuchen, die Anbindung an die konkreten Lebensumstände derer zu ermöglichen, mit denen sie eine kulturelle Beziehung eingehen möchten. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang das europäische Projekt „Brokering Migrants‘ Cultural Participation“, das Kultureinrichtungen ein Selbstevaluierungstool an die Hand gibt, mit dem sie ihre Positionierung im demographischen Gefüge reflektieren können.
Abschließend sei noch auf einen Widerspruch hingewiesen, der möglicher Weise auf eine Relativierung der Euphorie gegenüber bürgerschaftlichem Engagement hinausläuft. Immerhin zeigen die aktuellen rechtspopulistischen Tendenzen, dass nicht jedes bürgerschaftliche Engagement per se die Gesellschaft zum Besseren zu wenden vermag. So sind es gerade die „Identitären Bewegungen“, die Praktiken der außerparlamentarischen Opposition der 1970er Jahre aufgreifen, nicht um etablierte Kultureinrichtungen zu öffnen sondern zu desavouieren.
Die Freiheit der Kunst als Wegweiser eines freien bürgerschaftlichen Engagements in der postindustriellen Gesellschaft
Dazu gehört auch der Hinweis, dass die Beschäftigung mit Kunst wohl auch in Zukunft gefährlich bleiben wird. In dem Maß, in dem sich „Kunst“ innerhalb und außerhalb des Kulturbetriebs als ein Format begreift, das jedes Format übersteigt, kann über seine möglichen gesellschaftlichen Wirkungen a priori keine Aussage getroffen werden. „Kunst“ kann uns Möglichkeiten an die Hand geben, die Welt zu erkennen und in experimenteller Weise Möglichkeitsräume eröffnen, um sich damit auseinanderzusetzen, wie sie sein könnte. Um das aber tun zu können, sollten wir vermeiden, die „Kunst“ mit Aufgaben welcher Art auch immer zu belasten, die sie nicht zu leisten vermag. Sie entfaltet ihre Wirkung erst dann, wenn sie keinem Zweck (auch nicht dem der Öffnung von Kultureinrichtungen) unterworfen ist sondern sich – im wahrsten Sinn – „frei“ entfalten kann (Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Das gilt – mit Oscar Wilde – nur für die „Kunst“ selbst und nicht für den/die „Künstler*in“. Diese/r ist und bleibt ohne seine/ihre spezifische gesellschaftspolitische Kontextualisierung ein Phantom).
Apropos „frei“: Vieles spricht dafür, dass die aktuelle Diskussion der Öffnung von Kultureinrichtungen der Klärung einer noch weiteren Voraussetzung bedarf. Immerhin beziehen sich weite Teile ihrer strategischen Überlegungen auf eine Fortschreibung von Grundannahmen einer industriellen Gesellschaft. Und doch könnte es sein, dass wir uns bereits mitten in einer postindustriellen Gesellschaft befinden, in der fundamentale Wertvorstellungen wie die Dominanz der (Lohn-) Arbeitsgesellschaft außer Kraft zu geraten drohen. Und so deuten sich am Horizont zwei gegensätzliche Szenarien ab, deren eine darauf hinaufläuft, dass die künftige Automatisierung zu einer massenhaften Verelendung arbeitsloser Menschen führen wird (die alles andere als Lust darauf haben werden, sich mit „Kultur“ zu beschäftigen). Die andere aber lässt die Hoffnung auf eine weitgehende Befreiung des Menschen von den beengenden Zwängen der Lohnarbeit aufkommen.
Das aber hieße, dass schon in den allernächsten Jahren eine neue Generation von Menschen (aus allen sozialen, ethnischen und kulturellen Milieus) auf den Plan tritt, die den Sinn des Lebens nicht mehr in der Mitwirkung an der Lohnarbeitsgesellschaft sondern in freier und aktiver Aneignung von Welt sehen. Das aber bedeutet eine ungeahnte Zunahme an kultureller Arbeit – eine Vision, für deren Realisierung der Kulturbetrieb in herausragender Weise geeignet erscheint. Mit diesbezüglichen Angeboten innerhalb und außerhalb seiner örtlichen Strukturen könnte der Kulturbetrieb seine traditionelle Stellung als gesellschaftliche Derrieregarde zugunsten einer Avantgarde bei der Ausgestaltung einer auf Freiheit und solidarischem Handeln bezogenen Kulturbürgerlichkeit (Oliver Scheytt) in einer von den Zwängen der traditionellen Arbeitswelt befreiten postindustriellen und doch demokratisch verfassten Gesellschaft überwinden.
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