Jeder/jede ist irgendwie anders
Wien befindet sich zurzeit im Toleranztaumel. Scheinbar alles dreht sich um den Song Contest, den die transgender Figur Conchita Wurst mit ihrem überraschenden Sieg im vorjährigen Durchgang in Kopenhagen ins traditionelle Kulturzentrum im Herzen Europas gebracht hat. Und so tummeln sich auf der Bühne der Stadthalle allerlei Andersartige seien es AutistInnen, Menschen mit Down-Syndrom oder RollstuhlfahrerInnen, die mit ihren musikalischen Mitteln den Beweis dafür liefern, dass das Format in der Lage ist, nachhaltig Brücken zwischen einer event-euphorisierten Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten aller Art zu bilden. Der ultimative Schrei des Publikums nach einem umfassenden Miteinander lässt keinen anderen Schluss zu als: Wir alle sind anders (geworden) und repräsentieren ab sofort die Überwindung überkommener Borniertheiten zugunsten einer umfassend aufgeschlossenen und liberalen Haltung gegenüber jedweder Unterschiedlichkeit. Und es ist einmal mehr die verbindende Kraft der Musik, die uns keine andere Wahl lässt als angesichts eines allgegenwärtigen „Rising Phoenix“ alle diesbezüglichen Stereotypen hinter uns zu lassen. Denn: „Once I'm transformed/Once I'm reborn/You know I will rise like a phoenix/But you're my flame”.
Angesichts dieses kollektiven Gesinnungswandels mochte die Wiener Stadtverwaltung nicht zurückstehen und installierte rasch einige „Toleranzampeln" mit gleichgeschlechtlichen Pärchen, um dem Zeitgeist zu entsprechen; eine Maßnahme, die mittlerweile weltweit wohlwollend zur Kenntnis genommen wird und so drauf und dran ist, den internationalen Wientourismus weiter zu stimulieren.
Scheinbar völlig beziehungslos beschäftigt die österreichischen Medien in diesen Tagen noch ein weiteres Thema in Sachen Andersartigkeit: Weil sich viele österreichische Gemeinden weigern, in Österreich schutzsuchende Flüchtlinge aufzunehmen (und die zuständigen Länder nicht bereit sind, eine gemeinsam vereinbarte Quotenreglung durchzusetzen) hat die Bundesregierung begonnen, in Arealen aufgelassener Militärkasernen Zelte zu errichten, um die Asylsuchenden nicht der völligen Obdachlosigkeit preiszugeben. Gleichzeitig denken die zuständigen Behörden darüber nach, wie es gelingen kann, Flüchtlinge schneller als bisher wieder loszuwerden und wenn notwendig auch gewaltsam außer Landes zu bringen. Diese Form der Übertragung von Flüchtlingsaufgaben an das Verteidigungsministerium liegt durchaus in einem europäischen Trend, der darauf hinausläuft, die Flüchtlingsfrage zu militarisieren und so den wachsenden Flüchtlingsströmen vor allem im Süden Europas auch mit Waffengewalt entgegenzutreten.
Vielleicht hätte sich ja eine syrische Flüchtlingsband dem Voting stellen sollen, um in den Genuss der euphorisierten Brückenbauer zu kommen. Weil sie das aber nicht getan haben, bleiben Flüchtlinge als die anderen Anderen vom Tanz der Toleranz ausgeschlossen. Einen Schlüssel für die so augenscheinlich werdende Ungleichzeitigkeit liefert der Herausgeber Armin Thurnher in der jüngsten Ausgabe des Falter (Falter 21/15, Rubrik „Seinesgleichen geschieht“): „Schwulenfeindlichkeit ist abgehakt, wer sie mit großen Events bekämpft, feiert nur mehr sich selbst….Die (in Wien seit Ewigkeiten regierende) Sozialdemokratie sieht sich auf dem Höhepunkt ihrer Eventkultur, es ist wunderbar, dass sie das Rathaus für den Life-Ball als mittlerweile weltgrößte Aids-Charity öffnet, dem Ruf Wiens als Menschenrechtshauptstadt ist Genüge getan. Bis zur nächsten FPÖ-Kampagne jedenfalls, bis zur nächsten Zeltstadt des Innenministeriums und bis zur Revitalisierung der k.u.k. Kriegsmarine gegen Flüchtlinge in der Adria“.
Mit seiner Interpretation liefert Thurnher Indizien für eine Interpretation, wonach es um Andersartigkeit (damit verbundene mehr oder weniger sichtbare Unterschiedlichkeit) gar nicht geht, sondern um deren politische Instrumentalisierung. Wien hat offensichtlich ein wachsendes Interesse daran, sich international als eine weltoffene Stadt zu präsentieren, um sich so aus pragmatisch wirtschaftlichen Gründen einem liberalen (und damit in der Regel kaufkräftigen) internationalen Publikum zu empfehlen. Also was spricht dagegen, im Rahmen einer grandiosen Kitschorgie die herrschenden Geschlechterverhältnisse zum Tanzen zu bringen. Umgekehrt ist es für rechtskonservativ-populistische Kreise ein traditioneller Erfolgsfaktor, sprachliche oder ethnische Unterschiede für die politische Konstruktion scheinbar unvereinbarer Unterschiede zu nutzen und so die Spaltung der Gesellschaft in „Wir und die Anderen“ voranzutreiben. Auch sie können punkten, vor allem bei einer sozial schwachen Klientel, die nur zu gerne bereit ist zu glauben, dass irgendwelche ihnen nicht Zugehörige genau jene Lebenschancen rauben würden, die von sich aus wahrzunehmen sie sich nicht in der Lage sehen.
Vielfalt und Ungleichheit in der Wettbewerbsgesellschaft
Diese unterschiedlichen politischen Strategien bringen mich zur Vermutung, dass Unterschiede innerhalb von Gesellschaften selbst gar kein Problem darstellen, zumal sie für diese konstitutiv sind. Diese beginnen erst dann, wenn die Politik versucht, diese Unterschiede entlang bestimmter Merkmale zu bündeln und zu instrumentalisieren. Dabei kann es durchaus zweitrangig sein, ob die Betroffenen selbst diese Unterschiede als wichtig erachten oder nicht. Mindestens ebenso entscheidend sind die Zuschreibungen, die von außen erfolgen und in Form von mehr oder weniger willkürlich betonter Merkmale an derart Stigmatisierten haften bleiben. Davon berichten uns mehr und mehr Jugendliche, die sich trotz Zuwanderungserfahrung längst als „waschechte“ ÖsterreicherInnen sehen und denen von Homogenitätsindoktrinierten dennoch stereotyp die Schublade für die Anderen, wahlweise „TürkInnen“, „SerbInnen“ oder andere ethnische Gruppen zugewiesen wird.
Bei genauerem Hinsehen verweisen diese Zuschreibungen unmittelbar auf die Charakteristik einer Wettbewerbsgesellschaft. Sie ist auf ein hierarchisches Verhältnis unterschiedlicher Teile angewiesen, die bereit sind, um ihre über- oder untergeordnete Stellung zu kämpfen. Dafür sind (fast) alle Mittel recht. So sehr also Vielfalt durchaus ein Asset darstellt, läuft die gesellschaftliche Dynamik dennoch darauf hinaus, die eine Ausformung höher einzuschätzen als die andere, die eine positiv und die andere negativ zu diskriminieren. Dabei können die Zuschreibungen (und damit die Verortung ihrer TrägerInnen auf der hierarchischen Stufenleiter) weitgehend zufällig erfolgen, wichtig ist ausschließlich, ob und – wenn ja – in welcher Form sie sich politisch und wirtschaftlich instrumentalisieren lassen. Und so kann es – siehe oben – durchaus passieren, dass aktuell bestimmte Formen der sexuellen Andersartigkeit besonders gehypt und so auch politisch privilegiert werden, während gleichzeitig bestimmte ethnische und sprachliche Herkünfte zunehmender Diskriminierung unterliegen. Mit einer medial hochgeschriebenen Zunahme gesellschaftlicher Toleranz hat das eine so wenig zu tun wie das andere. Eher geben die beschriebenen Phänomene darüber Auskunft, wer im Kampf der sozialen Gruppen gerade Oberwasser hat und wer unter zu gehen droht.
Die angesprochenen Formen sozialer Organisation finden unschwer ihre kulturelle Entsprechung. Dem oft missinterpretierten Charakter des „Kulturellen“ als Mittel der Inklusion ebenso wie der Exklusion folgend, eignen sich kulturelle Zuschreibungen besonders gut zur Festschreibung gesellschaftlicher Hierarchien. In dem Maß, in dem kulturelle Zuschreibungen als naturhaft verhandelt werden, erscheint es ähnlich schwer, diese zu ignorieren wie eine Rückenmarkslähmung. Dazu kommt die hohe Verführungskraft, sich ihrer zu bedienen, wenn es etwa darum geht, soziale Widersprüche, die politisch nicht aufgelöst werden können oder wollen, als kulturelle zu determinieren und so als prinzipiell unverhandelbar darzustellen. Und schon sind wir bei kulturspezifischen Argumenten, warum sich migrantische Jugendliche besonders häufig in Sonderschulen (die in offiziellen Dokumenten wie den Nationalen Bildungsbericht gleich auch als besonders „belastete Schulen“ ausgewiesen werden) finden oder warum die Integration einiger weniger Flüchtlinge, die einen anderen kulturellen Hintergrund repräsentieren, zur Aufrechterhaltung eines gedeihlichen Zusammenlebens Alteingesessener mit allen Mittel bekämpft werden muss (als ob sich die unterschiedlichen kulturellen Zugehörigkeiten der Alteingesessenen sich im Streitfall nicht ebenso leicht gegeneinander in Stellung bringen ließen).
Kulturelle Differenz als End- und nicht als Ausgangspunkt eines gesellschaftlichen Diskurses
Es ist fraglich, ob auf Grundlage permanenter Auseinandersetzung um Oben oder Unten, um Drinnen oder Draußen die Idee kultureller Vielfalt, wie sie sich derzeit darstellt, als positiver Wert erhalten bleiben kann. Es ist eine zentrale Konsequenz universeller Wettbewerbslogik, dass auch die europäischen Gesellschaften immer unterschiedlicher und folglich ihre Mitglieder immer andersartiger werden. Dementsprechend besteht die (kultur-)politische Herausforderung nicht mehr darin, diese weiter zu forcieren, sondern eher darin, eine adäquate Antwort auf das Spannungsverhältnis zwischen den KäuferInnen von Louis-Vuitton-Luxusgütern und der Tätigkeit einer chinesischen Reinigungskraft zu finden.
Auffallend ist in dem Zusammenhang der Umstand, dass ausgerechnet der Kulturbetrieb diese dramatischen Veränderungen bestenfalls an seinen Rändern antizipiert; mehr, dass seine gegenwärtige Produktionslogik diesen Tendenzen fundamental widerspricht. Ein Indiz dafür sind die Forschungen von Doris Ruth Eikhof und Chris Warhurst, die in ihrem Beitrag aus 2013 „The Promised Land? Why social inequalities are systemic in the creative industries“ eindrucksvoll belegen, welche Strategien der Kulturbetrieb unternimmt, um unter sich zu bleiben und dadurch kulturelle Vielfalt nur nicht zu fördern, sondern um diese zumindest im eigenen Bereich zu verhindern.
In einem jüngsten Alpbach-Talk zu „Vielfalt im Kulturbetrieb: Ein Mythos?“ stellten die beiden DiskutantInnen, zum einen Edeltraud Hanappi-Egger, Diversitätsforscherin und designierte Rektorin der WU-Wien, und Matti Bunzl, designierter Direktor des Wien Museums, speziell dem österreichischen Kulturbetrieb einen schlechten Befund aus. Während Hanappi-Egger über den aktuellen Stand des Diversitäts-Managements im Wirtschaftsbereich referierte, verwies Bunzl auf seine Erfahrungen in den USA, die er nunmehr versuchen wolle, auch für das Wien Museum als ein Haus für möglichst alle soziale Gruppen Wiens mit ihren selbst- oder fremdzugeschriebenen kulturellen Attributen produktiv zu machen (dabei wurde einmal mehr auf die legendäre Ausstellung „Gastarbajteri“ verwiesen).
Bei seinen Erklärungsversuchen unterschied Bunzl zwischen einer liberalen und einer radikalen Haltung des Kulturbetriebs. Der liberale Zugang würde sich im Wesentlichen darauf beschränken, das äußere Erscheinungsbild der jeweiligen Einrichtung bunter und entsprechend der aktuellen Vielfalt nach außen hin schillernder zu gestalten. Das würde weder an der inneren Produktionslogik noch am Programmangebot wesentliches verändern. Der radikale Zugang hingegen würde dazu führen, dieser neuen Vielfalt für eine umfassende institutionelle Veränderung zu nutzen und so den Kulturbetrieb von seinen überkommenen Homogenitätsanspruch zu befreien. Vereinfacht gesagt: Sowohl Form als auch Inhalt des Kulturellen stünde zur Disposition, der kulturpolitische Anspruch bestünde darin, eine neue Produktions- (und Rezeptionslogik) zu entwerfen und umzusetzen, die noch einmal in der Lage ist, die Ausdifferenzierung kultureller Vielfalt hinreichend auch institutionell abzubilden.
In Österreich gibt es noch Entwicklungspotential
Die ersten Einschätzungen, die das aktuelle europäische Projekt „Brokering Migrants‘ Cultural Participation“, das EDUCULT aktuell mit einer Reihe österreichischer Kultureinrichtungen durchführt, lassen darauf schließen, dass speziell in Österreich noch ein weiter Weg zurückzulegen ist (Reaktion einer schwedischen Kooperationspartnerin zur österreichischen Situation: „Dort waren wir im Diskurs vor zehn Jahren!“).
Zurzeit weist wenig darauf hin, dass über vereinzelte kulturpolitische Zurufe an den Kulturbetrieb hinaus, sich doch vermehrt um sozial Benachteiligte (gemeint sind vor allem migrantische – weil besonders leicht zuschreibbar –, kulturell andersartige Gruppen) zu kümmern, neue Akzente gesetzt werden. Stattdessen sollen Conchita Wurst und FreundInnen als ästhetischer Ausdruck dessen herhalten, was die kulturelle Vielfalt Wien, Österreichs und warum nicht gleich ganz Europas ausmacht; bei so viel Toleranz darf dann schon mal die russische Repräsentantin ausgepfiffen werden, ganz so als wäre die Sängerin Polina Gagarina gerade höchstpersönlich in die Ukraine einmarschiert.
Nächstes Jahr wird wieder eine andere Sau durch das Dorf getrieben, die uns für die Dauer eines Events vergessen machen soll, dass wieder ein paar tausend Flüchtlinge ersoffen sind, weil sie anders sind.
Bildbeschreibung: Unter dem Titel "EUROART im MQ" wurden im Rahmen des Eurovision Song Contest 2015 von KünstlerInnen 40 Sitzmöbel des Museumsquartiers gestaltet. Jedes Möbel repräsentiert eines der Teilnehmerländer am ESC. In den ersten Tagen der Ausstellung im Hof des MQ waren die Objekte frei zugänglich und wurden von PassantInnen als Sitzgelegenheit verwendet. Mittlerweile trennt ein Absperrband die Kunstwerke von schmutzigen Fußsohlen. Nach der Ausstellung werden die Möbel zugunsten von Nachbar in Not für die Erdbebenopfer in Nepal versteigert. © EDUCULT
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