Kaiser im Lehnstuhl
Eine Kollegin erzählte mir, sie habe an einem Geburtstagsfest des 86jährigen Joachim Kaiser teilgenommen. Im Haus wäre es dem Anlass entsprechend laut zugegangen, die BesucherInnen hätten sich unterhalten, gelacht und so das Haus mit Leben erfüllt. Der legendäre Musikkritiker hingegen sei – ganz unbeeindruckt von all dem Geschehen rundherum – in einem Lehnstuhl gesessen und habe in Stefan Zweigs Autobiographie „Die Welt von Gestern“ gelesen.
Symbolträchtiger lässt sich ein „Bei lebendigem Leib aus der Welt treten“ kaum darstellen als mit einem, der ein Leben lang auf der Suche nach Kunst war und sich am Ende seines Lebens aus der realen Zeit nimmt und im Gedanken dorthin zurückkehrt, wo das eigene Leben seinen umtriebigen Ausgang genommen hat. Das ist im Einzelfall berührend und könnte doch darüber hinaus einen grundsätzlichen Wandel im Umgang mit Kunst – im Fall Kaisers insbesondere mit Musik – zum Ausdruck bringen, der erst im direkten Vergleich von Einst und Jetzt in seinem vollen Ausmaß fass- und begreifbar wird.
„Denn unsere Fähigkeit zum Enthusiasmus war grenzenlos“
Stephan Zweig erzählt in seinen Erinnerungen von seiner Schulzeit in Wien, einer Stadt, die mit ihren Theatern, Museen, Buchhandlungen, Universitäten und ihrer Musik „voll tausendfältiger Anregungen und Überraschungen“ gewesen sei. Während er und sein Mitschüler den schulischen Unterricht als weitgehend langweilig und störend erlebt hätten, wären sie außerhalb der Schule von einer unzähmbaren Neugierde und Leidenschaft gegenüber dem vielfältigen Kulturangebot getrieben gewesen; Eigenschaften, die sich als „eine Art Infektionsphänomen“ zunehmend auf alle seine Mitschüler übertragen hätten. Und so war Zweig mit seinen kulturellen Ambitionen nicht allein, wenn er eine „natürliche Begeisterung für Theater, Literatur und Kunst“ nahezu aller Stadtbewohner konstatiert: „Wie ein Fieber war es über uns gekommen, alles zu wissen, alles zu kennen, was sich auf allen Gebieten der Kunst und der Wissenschaft ereignete….Wir besuchten alle Kunstausstellungen, wir gingen in die Hörsäle der Anatomie, um Sektionen anzusehen…Wir schlichen uns in die Proben der Philharmoniker, stöberten bei den Antiquaren…Und vor allem, wir lasen, wir lasen, was uns zu Händen kam“.
Es mag sein, dass Stephan Zweig seine kulturelle Initiation im Licht seines späteren literarischen Erfolges etwas beschönigt. Und doch weist er in seinem Bericht einer umfassenden kulturellen Durchtränktheit Wiens auf noch zwei weitere bemerkenswerte Besonderheiten hin. Da ist zum einen die Behauptung, dass nicht nur er als Abkömmling privilegierter bildungsbürgerlicher Kreise Kultur als unmittelbaren Lebensinhalt erfahren, sondern dass das kulturelle Angebot als ein „Kollektivbesitz“ viel weitere Kreise in ihren Bann gezogen habe. Zweig schildert in diesem Zusammenhang den untröstlichen Schmerz der Köchin der Familie über den Tod der Burgtheaterschauspielerin Charlotte Wolter. Und da ist zum anderen der unstillbare Hunger nach dem Neuen als Mittel des gegenseitigen Ansporns: „…denn etwas Fremdes nicht zu kennen, das ein anderer kannte, empfanden wir als eine Herabsetzung; gerade das Letzte, das Neueste, das Extravaganteste, das Ungewöhnliche, das noch niemand – und vor allem nicht die offizielle Literaturkritik unserer würdigen Tagesblätter – breitgetreten hatte, das Entdecken und Voraussein war unsere Leidenschaft…Just was noch nicht allgemein anerkannt war zu kennen, das schwer Zugängliche, das Verstiegene, das Neuartige und Radikale provozierte unsere besondere Liebe; nichts war darum so verborgen, so abseitig, dass es unsere kollektive, sich gierig überbietende Neugier nicht aus seinem Versteck herausholte“. Und folglich stürmten der halbwüchsige Zweig und seine Freunde die Konzerte Gustav Mahlers und Arnold Schönbergs und verschlangen Veröffentlichungen damals noch weitgehend unbekannter Autoren wie Rilke, Baudelaire, Whitman oder Valéry, oder besuchten Aufführungen von Gerhart Hauptmann.
Es wird sie auch heute noch geben, die jungen Menschen, die sich voll Leidenschaft mit den jeweils aktuellsten künstlerischen und literarischen Strömungen auseinander setzen und Wien wird – zumal von außen – nach wie vor als ein Eldorado eines vielfältigen kulturellen Angebotes gesehen. Was aber für immer verloren gegangen ist, das ist die von Zweig in beredten Worten geschilderte Durchdringung des Lebens mit einer Kulturproduktion, die das Denken und Fühlen breiter Teile der Bevölkerung unmittelbar zu berühren und zu beeinflussen vermochte: „Und was im Theater geschah, betraf individuell jeden einzelnen, sogar den, der damit gar keinen direkten Zusammenhang hatte“. Beste Voraussetzungen also, um junge Menschen in die Welt der Kunst einzuführen und in ihnen als lebensbegleitenden Wert zu verankern.
Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, die Wirkungen einer solchen Begeisterung mit wissenschaftlichen Methoden messen zu wollen; dass Kunst das Leben in all seinen Facetten mitbestimmte, lag völlig auf der Hand. Wie auch anders: die jungen Menschen, die Zweig schildert waren Tag und Nacht mit Kunst; Musik und Literatur befasst. Sie wollten sich dabei in ihren Ansprüchen nicht auf die zumeist trögen Angebote der Schule reduzieren lassen. Ihnen ging es um Mitwirkung am wahren, am echten kulturellen Leben, nicht um das Erreichen irgendwelcher Bildungsziele. Mit auch noch so gut begründeten Argumenten zur Notwendigkeit von Kunst brauchte ihnen (und wohl auch ihren Eltern) niemand zu kommen; sie selbst waren in ihrem Sosein der unmittelbare Ausdruck einer solchen Notwendigkeit.
Das war vor mehr als hundert Jahren. In der Zwischenzeit ist viel passiert; u.a. scheint mit der Vervielfältigung von Lebensentwürfen die unmittelbare Einsicht in die Notwendigkeit dessen, was Menschen wie Zweig (und wohl auch noch Kaiser) als Leidenschaft für die Kunst das Leben überhaupt erst lebenswert hat erscheinen lassen weitgehend abhanden gekommen zu sein. Kurz: Kunst ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Sie ist ein Freizeitangebot unter vielen anderen und bedarf so völlig neuer Begründungszusammenhänge.
Die Konsequenzen erleben wir in den oft verzweifelten Versuchen der aktuellen kulturellen Bildung- und Vermittlungsszenen, im Diskurs der herrschenden (neoliberalen) Wertvorstellungen nachvollziehbare Argumente beizubringen, um das eigene Tun zu legitimieren. Nicht mehr die Leidenschaft für die Sache der Kunst steht im Mittelpunkt sondern das Versprechen auf einen möglichst unmittelbar feststellbaren Nutzen, der sich aus der Beschäftigung mit ihr ergeben sollen. Dabei wird der Kunst eine Funktion zugeschrieben, deren Erfolg nicht mehr darin besteht, sie zu erkennen und zu durchdringen (Zweig und Kaiser hätten sich nicht gescheut, in dem Zusammenhang das Wort „Geist“ zu verwenden) sondern die damit Befassten besser mit den Fährnissen des Lebens umgehen zu lassen (wobei die spezifische Unfähigkeit von KünstlerInnen, das Leben auch nur halbwegs zu meistern, gerne ausgeblendet bleibt).
Als Kunst (und gleich dazu auch Bildung) hinter den Kulissen der Effizienzforschung verschwanden
Seinen besonderen Ausdruck findet dieser Paradigmenwechsel im Umgang in der Häufung von Beauftragungen von Studien zur Wirkung kultureller Bildung, die möglichst empirisch nachvollziehbar belegen sollen, dass Bildung im Medium der Künste (Literatur, Theater, Musik, bildende Kunst, Tanz, Film, neue Medien) gesellschaftlich zur Zeit als positiv angesehene Effekte vor allem bei Kindern und Jugendlichen hat. (In diesem Zusammenhang hat der deutsche Rat für Kulturelle Bildung jüngst ein eigenes Forschungsprogramm in der Höhe von immerhin 1,2 Mio. Euro aufgelegt, um die Wirkungen von kultureller Bildung auf die Persönlichkeitsbildung besser verstehen zu lernen). Es liegt auf der Hand, dass Zweig den Ergebnissen nur wenig abgewonnen hätte; immerhin hatte er in Bezug auf Schule überhaupt keine Erwartungen, dafür umso mehr in Bezug auf den unmittelbaren Umgang mit der Kunst, und zwar der jeweils neuesten und kontroversiellsten selbst.
Jetzt aber dominiert eine ganz andere Sichtweise auf das, was Zweig umgetrieben hat. Der Wert der Kunst spielt da in der Regel überhaupt keine Rolle mehr (die wenigsten VertreterInnen pflegen selbst Umgang mit Gegenwartskunst und wissen sich auch im Recht, darauf verzichten zu können). Kunst zählt nur insofern als sie als Dienstleisterin in der Lage ist, einer umfassenden Nutzenorientierung zu dienen. Ihrer Logik folgend, kann nur das als werthaltig begriffen werden, was sich als Wirkung darstellen lässt. Dementsprechend rückt das, um das es eigentlich geht (in unserem Fall die Kunst) solange in den Hintergrund bis sie möglichst vollständig von der gewünschten Wirkung verdeckt wird. Kein Wunder, wenn in der Folge nicht mehr von der Kunst, dafür umso mehr von der Qualität der Nachweisbarkeit von Wirkungen die Rede ist.
Eine solche Rede fügt sich wesentlich besser ein in eine aktuell dominierende Effektivitätsforschung in der Kultur- ebenso wie in der Bildungspolitik, die darauf abstellt, induktiv auf der Basis von Schülerleistungen die Effektivität der Institution Schule empirisch zu modellieren. In Analogie zur oben skizzierten Hausse der Wirkungsforschung im Kunstbereich meint auch sie, unter weitgehender Vermeidung einer entsprechenden theoretischen Grundlegung dessen, um was es in der Schule geht, mit der Beschreibung eines nachweisbaren Nutzens dessen, was zunehmend hinter den Kulissen der Forschung verschwindet, das Auslangen zu finden. Um im Bild neoliberaler IdeologInnen zu bleiben, ist dabei das „scheue Reh“ der Bildung längst hinter den Kulissen der Forschungsbühne verschwunden. Dort sind alle vollauf damit beschäftigt, von jeglichen Bildungskonzepten losgelöste und doch klar definierbare Leistungen der SchülerInnen darstellbar zu machen. Ob bei den Lernenden zumindest noch ein Rest an Leidenschaft ausgemacht werden kann, ist da schon lange kein Thema mehr.
Wir nehmen alles – Hirnforschung als Hoffnungsanker und Ausdruck des Verlustes eigenständiger Haltung
Diese Vermeidungsstrategie, noch einmal zum Kern dessen, was einerseits Kunst und anderseits Bildung ausmacht, vorzudringen, erhöht den Bedarf, sich wenn schon nicht aus eigener Kraft so doch mit externer Hilfe zu legitimieren. Als verlockend haben sich zuletzt die Versuche erwiesen, mit trendigen naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Hirnforschung neue Allianzen einzugehen. Als Wissenschaft mit aktuell besonders hohem Prestige soll sie mithelfen, gute Gründe für die Beschäftigung mit Kunst zu finden, die auch von denjenigen verstanden werden, die ansonsten mit Kunst gar nichts am Hut haben. Dass damit auch Kunst ins Fahrwasser eines zur Zeit „en voguen“ Biologismus gerät, der jeglicher kulturellen Äußerung eine möglichst eindeutige physische Zuschreibung zumutet, wird dabei mehr naiv als in vollem Bewusstsein der Konsequenzen in Kauf genommen.
Verloren geht bei all dem das Wissen, dass der besondere Reiz der Kunst nicht in seinem Nutzen (und auch nicht in seiner physischen Verortung in einer besonderen Hirnregion), sondern im Ungeplanten und Ungeklärten liegt. Und doch ist es gerade diese Qualität, die die Ahnung eines nicht beliebig vorherbestimmbaren, offenen Lebens aufrechterhält. Angesichts der zunehmend chaotischen Lebensumstände, denen immer mehr Menschen ausgesetzt sind, würde sich Kunst in besonderer Weise eignen, sich mit ihr auseinanderzusetzen und mit ihr das Leben als das zu begreifen, was es ist, als ein unauslotbares, manchmal furchtbares, manchmal wunderbares Reservoir an Möglichkeiten, die Welt und sich darin zu erfahren. Die derzeit beobachtbaren Tendenzen, die der Schule die Funktion einer umfassenden Nutzenmaschine unter effizienzorientierter wissenschaftlicher Beobachtung zuweisen, führen in die fundamental andere Richtung.
Alle Befürworter solch wissenschaftlich gestützter Vernutzungsphantasien seien angesichts der aktuellen Ausstellung über Leonardo da Vincis Schaffen im Rahmen der Mailänder Weltausstellung noch einmal an Tradition erinnert, die sich einer solchen Engführung von Leben verweigert. Immerhin ist es gerade da Vinci, der mit seinem universellen, Kunst und Wissenschaft verknüpfenden Erkenntnisdrang dem Anspruch auf Selbstwert des künstlerischen Schaffens in unübertrefflicher Weise Gültigkeit verschafft: „Nichts festhalten und alles notieren, nichts festzurren und doch jedes Ding der Welt in seiner Eigenart bestimmen“.
Als in seinem Lehnstuhl in der „Welt von Gestern“ lesend, repräsentiert Joachim Kaiser die Erinnerung an ein durchaus eigenmächtiges Old-Boys-Network, die sich – präpotent wie sie waren – in ihrem täglichen Umgang mit Kunst immer schon im Besitz von Kultur wussten (und damit uneingeschränkte Autorität in ihren künstlerischen Urteilen beanspruchten). Über aktuelle Ergebnisse der Wirkungsforschung im Kunstbereich hätten sie rasch ein entsprechendes Urteil übrig und wohl auch der Hirnforschung würden sie den guten Rat geben, bei ihrem Leisten zu bleiben und nicht mit völlig ungeeigneten Mitteln in fremdem Terrain zu wildern.
Und doch: Im Bild des Geburtstagsfestes bleibend, erreicht die selbstgewissen Kulturvermittler von einst das aufgeregte Stimmengewirr nicht mehr, das mit aller Kraft davon abzulenken versucht, dass es den Bezug zu dem verloren hat, was Kunst (und damit auch Bildung) als individueller ebenso wie kollektiver Wert einst ausgemacht hat.
Die Welt Stefan Zweigs ist uns unwiderruflich abhanden gekommen – aber eine neue zeichnet sich nicht ab
Das heißt nicht, dass es heute keine enthusiastischen jungen Menschen gäbe und sie keinen kulturellen Erfahrungshunger mehr hätten. Es ist ein verbindendes kulturelles Selbstverständnis selbst, auf das Zweig noch unmittelbar setzen konnte, das heute in die Brüche gegangen ist und in entsprechend fragmentierter Weise ihre Leidenschaften bestimmt. Also sind ihre Heros nicht mehr die Schönbergs und Rilkes von heute sondern Namen und Genres, von denen BeforscherInnen der kulturellen Bildung (und wohl auch weite Teile des traditionellen Kulturbetriebs) noch nie etwas gehört haben. Also werden wir von ihnen nichts über das kulturelle Selbstverständnis der ihnen Anvertrauten erfahren. Und es ist auch nicht zu vermuten, dass es LehrerInnen (anders als vor hundert Jahren) noch einmal gelingt, die kulturellen Interessen der Lernenden in ihren Unterricht zu integrieren. So könnte es sein, dass wir warten werden müssen, bis einer von ihnen im literarischen Rang eines Stefan Zweig irgendwann in den nächsten hundert Jahren eine weitere Autobiographie schreibt, um zu erfahren, was die jungen Leute heute kulturell umgetrieben hat.
In der Zwischenzeit könnten wir mit der österreichischen Autorin Marlene Streeruwitz für einen Moment innehalten und den Wirkungen ihrer Äußerung nachspüren: „Poesie stellt eine komplexere Wahrheit dar als Wissenschaft“.
Bildnachweis: reading on the roof ©Raul Lieberwirth @ flickr.com
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