Könnte es sein, dass ausgerechnet die Irrationalität das Medium wäre, das Kultur und Politik zusammenhält?
Anfang August trafen sich wieder einmal rund 400 Kulturpolitik-Forscher*innen aus der ganzen Welt, diesmal in Tallinn/Estland um ihre aktuellen Forschungsergebnisse auszutauschen. Bereits zum zehnten Mal gab damit der informelle Zusammenschluss iccpr ein kräftiges Lebenszeichen, wenn es darum geht, Kulturpolitik im globalen Vergleich nicht nur zu machen sondern dabei auch darüber nachzudenken, was Kulturpolitik mit welchen Mitteln unter welchen politischen und sozialen Bedingungen zu leisten vermag – und was nicht.
Aus der Sicht der Arbeitsschwerpunkte von EDUCULT, das diesen internationalen Kongress 2006 in Wien ausgerichtet hat, ist der erfreuliche Umstand unübersehbar, dass Themenstellungen wie „participation“, „mediation“ oder „education“ seit dem Beginn der iccpr-Initiative zunehmend an Bedeutung gewonnen haben. Es scheint dies eine, wenn auch vorsichtige Weiterentwicklung diverser kulturpolitischer Schwerpunktsetzungen in Richtung einer stärkeren Berücksichtigung der Nutzer*innen und damit derer, für die der Kulturbetrieb sein Angebot entwickelt. Immerhin gibt es – nicht nur in Mitteleuropa – mittlerweile kaum mehr eine namhafte Kunst- bzw. Kultureinrichtung, die ohne eigene Bildungs- oder Vermittlungsangebote das Auslangen zu finden hoffen, ohne damit ihre gesellschaftliche Relevanz zu verlieren. So war es nur logisch, wenn EDUCULT ein eigenes Panel zum Thema „arts education“ ausgerichtet hat, um so unter den Kolleg*innen einen Austausch zu aktuellen Forschungsergebnissen (Max, Kunst und Spiele, Freie darstellende Künste und Kulturelle Bildung, Kulturelle Schulentwicklung) zu ermöglichen.
Den Anfang der Veranstaltung aber machte der US-amerikanische Sozialwissenschafter J.P. Singh, der sich in seiner Key Note mit den Fragen „What do global cultural flows tell us about our interests and values? And what can we do about them?“ auseinandergesetzt hat. Im Kern ging es ihm um eine Legitimationsstrategie kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschung, die so aus ihrer gesellschaftlichen Randlange befreit werden könnte. Anhand der Zuschreibung von „Kultur“ als einer „Soft Power“ berichtete Singh von einschlägigen sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnissen, wonach Angebote von Kunst- und Kultureinrichtungen wesentlich zu inklusiven Gesellschaften beitragen würden. Sein Plädoyer: Diese Erkenntnisse sollten im Zuge der laufenden Rationalisierungsbemühungen stärker Eingang in die politischen Entscheidungsprozesse finden. Offen bleiben musste bei dieser Argumentation freilich hinreichende Erklärungsversuche, warum just in einer historischen Phase, wo es so viele kulturelle Angebote wie nie zuvor in der Geschichte gibt, die Tendenzen zu einer weltweit wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung unübersehbar sind und was dafür die Ursachen sein könnten.
Die Neue Kulturpolitik und die gute Kultur
Als einen Erklärungsversuch für diesen Widerspruch biete ich die Vermutung an, dass dieser bereits in der Implementierung einer „Neuen Kulturpolitik“ ab den 1970er Jahren angelegt ist. Ihre Protagonisten wie Hilmar Hoffmann oder Hermann Glaser damals waren getragen von einer universell positiven Wirkmächtigkeit von „Kultur“, die als solche in der Lage wäre, die Gesellschaften zum Besseren weiter zu entwickeln. Sie konnten sich dabei auf eine globalen Entwicklung beziehen, im Rahmen derer multinationale Institutionen wie die UNESCO ein Mehr an Kultur als Allheilmittel für nahezu alle gesellschaftlichen Probleme propagierten. Einer darauf basierenden Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik – so der neue Konsens – hätte sich als zentrale Kraft in der Ausgestaltung liberaler und demokratischer Errungenschaften zu verstehen. Und so kam es zur Implementierung einer neuen Generation kulturpolitischer Maßnahmen, die einher gingen mit der Vorstellung einer zunehmenden Rationalisierung (gesellschafts-)politischer Entscheidungsprozesse; begründet auf positivistische Konzepten im Westen einerseits bzw. auf den objektiven Erkenntnissen des historischen Materialismus innerhalb des kommunistischen Blocks, andererseits würden politische Entscheidungen fortan weniger entlang spezifischer Interessen sondern entlang wissenschaftlicher Erkenntnisse getroffen werden.
Damit mutierte auch „Kultur“ zu einem scheinbar beliebig rationalisierbaren Gegenstand, dessen positive Wirkungen auf die gesellschaftliche Gesamtverfassung mithilfe objektivierbarer Verfahren nachgewiesen werden könnten. Positiver Nebeneffekt: Kulturschaffende wähnten sich per se auf der „richtigen Seite“ der gesellschaftlichen Entwicklung, um sich so positiv von all denen abgrenzen zu können, die sich gegenüber „Kultur“ (noch) ignorant zeigten.
Heute wird deutlich, dass diese normativen Vorstellungen einer rundum positiven Kulturdefinition breite Teile der Bevölkerung nicht überzeugen konnten. Stattdessen begnügt sich spätestens mit der Durchdringung neoliberaler Wertvorstellungen eine Mehrheit damit, im diesbezüglichen Angebot einen mehr oder weniger attraktiven Bestandteil einer weitgehend kommerzialisierten Freizeitindustrie mit wenig Auswirkungen auf ihrer sonstigen Arbeits- und Lebensverhältnisse zu sehen.
Die neue Irrationalisierung der Gesellschaft in und mit Kultur – Die neue Rechte macht wahr, was die alte Linke vergeblich versprochen hat
Diese Einschätzungen sollten sich erst mit dem Aufkommen neuer politischer Kräfteverhältnisse ändern, denen Betreiber*innen es – unterstützt durch die laufenden Migrationsbewegungen – zunehmend gelingt, „Kultur“ für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Und so können wir heute einen Bumerang-Effekt beobachten, wonach ausgerechnet rechtspopulistische und rechtsradikale Kreise – gegen deren Ahnen eine Neue Kulturpolitik in den 1970er Jahren angetreten ist – drauf und dran sind, den Anspruch auf eine Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik wahrzumachen. Mit einer umfassenden Offensive zur „Kulturalisierung“ sozialer Konflikte gelingt es diesen, kategoriale Differenzen wieder einzuführen und auf dieser Basis kulturelle Zuschreibungen der unversöhnlichen Andersartigkeit in alle Schichten der Gesellschaft zu tragen. Sie entsprechen damit einem wachsenden Sicherheits- und damit verbunden Abgrenzungsbedürfnis, das von Menschen anderer kultureller Zugehörigkeit als gefährdet dargestellt wird.
Spätestens mit der wachsenden Bedeutung von „Fake News“ bei politischen Entscheidungen sollte klar sein, dass wir in eine neue Phase gesellschaftlicher Irrationalität eingetreten sind. Diese Entwicklung hat mittlerweile auch den Diskurs um „Kultur“ in vollem Ausmaß erreicht, mehr, sie widerlegt – spät aber doch – die falsche Grundannahme, „Kultur“ sei per se etwas Gutes und ließe sich darüber hinaus ebenso wie andere gesellschaftliche Sachverhalte beliebig rationalisieren. Stattdessen werden wir heute unsanft auf den Umstand gestoßen, dass „Kultur“ immer schon eine erste Adresse für gesellschaftliche Irrationalität gewesen ist und Kulturpolitik den mehr oder weniger verzweifelten Versuch darstellt, diese Form der Irrationalität zumindest äußerlich zu managen. Man muss dafür nicht die überkommenen politischen Konstruktionsversuche von „Kultureller Identität“ strapazieren, die es darauf anlegen, menschlich-irrationales Verhalten in ritueller Form einzuhegen. Es genügt ein Blick auf jedwedes künstlerisches Schaffen, dessen Essenz darin besteht, über jede Form der rationalen Planung hinauszuweisen und damit humane Gestaltungskraft überhaupt erst zu begründen.
„Culture is a Permanent Battle-Field“ (Stuart Hall)
Diese neue, durchaus kulturgetriebene Phase gesellschaftlicher Irrationalität bringt eine sich jung und aggressiv gebende Generation von politischen Akteuren hervor: Nationalist*innen, Populist*innen, Rechtsradikale und andere Verfechter illiberaler und autoritärer Herrschaftsformen, die in der Durchsetzung ihrer Strategien mehr als deutlich machen, dass sie in „Kultur“ kein Mittel der sozialen Inklusion sehen sondern als ihr bevorzugtes Schlachtfeld (Stuart Hall), auf dem – im Versuch der Erringung kultureller Hegemonie – wieder einmal die entscheidenden sozialen Kämpfe ausgetragen werden.
Dabei spielt es offenbar kaum eine Rolle, dass diese neue Politiker*innen-Garde kaum konkrete Vorstellungen einer von ihnen bevorzugten Kultur beibringen. Im Hochhalten eines weitgehend leeren Gefäßes scheint es bislang zu genügen, sich hinlänglich gegen Träger*innen anderer kultureller Ausdrucksformen abzugrenzen. Entscheidend ist ihre Zuschreibung als unversöhnliche Gegner, mit denen kein Frieden zu machen ist, weil ein kulturelles Miteinander für unmöglich erklärt wird. Fast scheint es, als schwinge dabei ein Neidgefühl mit, dass auf „die anderen“ ein intaktes Kulturverständnis projiziert, dass im Zuge gesellschaftlicher Liberalisierung im eigenen Umfeld weitgehend verloren gegangen sei. Dass sie in diesem kulturellen Abwehrkampf auf essentialistische Diversitätskonzepte setzen können, die ehedem fortschrittliche Kräfte in ihrem Anspruch auf Anerkennung ihrer kulturellen Besonderheit gelernt haben, gegen einen sie diskriminierenden Mainstream ins Treffen zu führen, gehört zu den Perversionen dieses kulturpolitischen Dramas (mit einem solchen linken Identitätsverständnis und seinen negativen Auswirkungen für die Wiedergewinnung gemeinsamer politischer Ziele hat sich der US-amerikanische Politologe Mark Lilla intensiv beschäftigt).
Der Markt als erste Adresse gesellschaftlicher Rationalisierung?
In seinen Überlegungen bezog sich J.P. Singh wiederholt auf Adam Smith‘ Prinzip der „unsichtbaren Hände“, das dafür sorgen würde, dass marktwirtschaftlich verfasste Gesellschaften im permanenten Ausgleich von Angebot und Nachfrage eine immer weitere Rationalisierung ihrer Verkehrsformen erfahren würden. Die Literatur zur Falsifikation dieser Theorie (bzw. ihrer verkürzten Interpretation) in Zeiten des Neoliberalismus ist mittlerweile Legion und doch ermöglicht ihre immer wieder erneuerte Verklärung bis heute aufgrund ungleicher gesellschaftlicher Interessenslagen weiterhin verheerende volkswirtschaftliche Entscheidungen (siehe dazu etwa Stephan Schulmeisters Analysen).
Mit Blick auf die wachsenden Tendenzen einer Zunahme gesellschaftlicher Irrationalität sind wir möglicherweise bei John Hobbes und seinem Leviathan besser bedient, der die prinzipielle Unberechenbarkeit menschlicher Existenz in seinem Naturzustand und dem daraus resultierenden Zwang zu ihrer, wenn notwendig auch gewaltsamen Einhegung durch Staat und Recht zum Nutzen aller in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt.
Übertragen auf die heutigen Verhältnisse können wir durchaus einen Rückfall in gesellschaftliche Naturzustände, in dem das Recht des Stärkeren wieder zum ersten Maßstab wird, konstatieren. Um dieses besser durchsetzen zu können, haben die Vertreter*innen einer „rechten Wende“ die Vorteile erkannt, diese in ein kulturelles Kleid zu fassen. Und so erfahren wir eine neue gesellschaftliche Segmentierung in unterschiedliche ethnische, religiöse, kulturelle und soziale Gruppen, die aufgehetzt werden sollen, um gegeneinander anzutreten. Rational ist daran nur, dass es damit einzelnen Gruppen gelingt, die Durchsetzung ihrer Interessen soweit zu verschleiern, dass sie von Mehrheiten als „alternativlos“ angesehen werden. Konkret kann dieses Verfahren zur Zeit in Österreich studiert werden, wo es die regierende Koalition aus konservativen und rechtspopulistischen Kräften darauf anlegt, jedes politische Thema mit dem Hinweis auf die Migrationsgefahr zu kulturalisieren und so die wachsende soziale Ungleichheit im eigenen Land zu verschleiern. Die Stellung des Kulturbetriebs als zentrales Medium gesellschaftlichen Fortschritts, wie das Hofmann und Glaser vorgesehen haben, ist dabei völlig aus dem Blick geraten.
Die Konsequenzen für Kulturpolitik
Die unmittelbaren Konsequenzen vor allem für staatliche Kulturpolitik und damit wohl auch für Kulturpolitikforschung sind nicht unbedingt erfreulich. Vieles spricht für eine weitere Schwächung dieses Politikfeldes im Verhältnis zu anderen (aktuell ist es die alles dominierende Migrationsfrage). In Ländern wie Ungarn können wir zudem beobachten, wie Kunst- und Kultureinrichtungen wieder an eine engere politische Leine genommen werden, um so sicher zu stellen, dass von dort aus neo-autoritäre und illiberale Herrschaftsformen nicht kritisiert werden. Dazu gehört auch eine inhaltliche Neuausrichtung der schulischen Curricula, die kulturelle Bildung stärker an identitätsbildenden und damit alles Fremde ausgrenzenden Nationalstolz ausrichten. Auf diese Weise erleben wir ebenso die Rückkehr zu überkommenen Geschlechterverhältnissen wie die Infragestellung wissenschaftlicher Weltbilder (etwa in Form eines engeren Zusammengehens von Kirche und Staat mit dem Ergebnis einer neuen Konjunktur des Kreationismus). Aber auch die weitgehende Überlassung des Kulturbetriebs an die Gesetze des Marktes ist beobachtbar, wenn mit einigem Recht angenommen werden kann, dass Nutzer*innen in schweren und verunsichernden Zeiten traditionelle, auf Unterhaltung fokussierte Inhalte bevorzugen und nur in beschränktem Ausmaß künstlerisch irritiert werden wollen.
Partizipation sollte mehr sein als eine Mitmach-Fassade
Für die kulturpolitische Diskussion, die – wie eingangs erwähnt – eine durchaus erfreuliche Entwicklung in Richtung mehr Partizipation und Cultural Governance unter Einbeziehung aller Stakeholder in die Entscheidungsprozesse genommen hat, ergeben sich damit unerwartete Herausforderungen: Wie wollen wir künftig mit Mitsprache fordernden Gruppen umgehen, die ihren Irrationalitäten freien Lauf lassen, sich autoritärem Gedankengut verpflichtet fühlen und es darauf anlegen, „Kultur“ für die Durchsetzung neuer gesellschaftlicher Hierarchien zu nutzen? Oder wie vermeiden wir, dass „Kultur“ zum alles entscheidenden Ein- und Ausschlusskriterium mutiert, dass den einen eine partizipative Stimme gibt während sie diese anderen verweigert.
Man muss dabei nicht gleich dem Architekten und Gesellschaftskritiker Markus Miessen folgen, der von einem „Albtraum Partizipation“ spricht; es genügt, „Kultur“ wieder als das wiederzuerkennen, was es ist, als ein gefährliches und entlang unterschiedlicher Interessen umkämpftes Terrain, das erst in seiner jeweiligen politischen Rahmung seine volle Bedeutung gewinnt. Und da sich diese in den letzten Jahren dramatisch verändert haben, spricht vieles dafür, das auch für Kulturpolitik bzw. Kulturpolitikforschung zu behaupten.
Folgt man den meisten der Präsentationen, so hat der Sektor die Dramatik des aktuellen politischen Umbruchs nicht nur in Europa noch nicht wirklich erkannt. So anregend der eine oder andere Beitrag vor allem zum relativ neuen Thema „Digitalisierung und Kultur“ auch war, so entstand doch der Gesamteindruck, dass das Feld der Kulturpolitikforschung noch von anderswo bereits weitgehend falsifizierten Kulturvorstellungen ausgeht und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den genuin politischen Implikationen, die den Kulturbereich auf eminente Weise beeinflussen, vermeidet. Wir werden sehen, ob sich das auch noch für die nächste iccpr-Konferenz, die 2020 in Kyoto/Japan stattfindet, wird sagen lassen.
P.S.: Ganz persönlich freut es mich, davon berichten zu dürfen, dass in einer Sitzung des Scientific Committee von iccpr in Tallinn Aron Weigl als neuer Geschäftsführer von EDUCULT als ständiges Mitglied in das Leitungsgremium aufgenommen wurde.
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