Konkurrenz frisst Gerechtigkeit
Viel wird zurzeit – zumindest im österreichischen Radiosender Ö1 – vom diesjährigen Projekt „Into the City“ der Wiener Festwochen berichtet – eine Art Outreach-Projekt in und um die Quellenstraße in Wien Favoriten, einem traditionellen Arbeiterbezirk, der für sich genommen die viertgrößte Stadt Österreichs bilden würde. In Zusammenarbeit mit der Gebietsbetreuung Stadterneuerung errichtet „Into the City“ im Rahmen der Festwochen ein temporäres Festivalzentrum rund um – wie es im Internetauftritt heißt – einer „überraschenden Dichte an türkischen Imbissen, Friseuren, Beauty-Parlours und Handy-Shops“.
Die erhofften BesucherInnen der zahlreichen Konzerte, Workshops oder Ausstellungen sind nicht unbedingt ident mit dem traditionellen Festwochenpublikum, dessen Kern von ein paar tausend Afficionados gebildet wird, die im Mai und Juni von einer Veranstaltung zur anderen hetzen, um sich als eine eingeschworene Gruppe über das aktuelle Theater- und Musikleben auf dem Laufenden zu halten. Für die meisten von ihnen ist der Bezirk Favoriten – obwohl nur ein paar hundert Meter entfernt – ganz weit weg, zumal die meisten BesucherInnen dort nicht wohnen und die konkreten Lebensverhältnisse der dort Lebenden nicht den Weg in eine breitere Öffentlichkeit finden bzw. nur sehr selektiv wahrgenommen werden. Dazu haben im Vorfeld die OrganisatorInnen von „Into the City“ recheriert und herausgefunden, dass sich von mehreren hundert veröffentlichten Berichten zur Quellenstraße in den letzten Jahren der überwiegende Teil auf die Schilderung von Kriminalität und Gewalttaten beschränkt hat.
So ist es wahrscheinlich nicht verwunderlich, dass zum Team von „Into the City“ unter anderen eine Anthropologin gehört, deren Aufgabe es ist, Feldforschung zu betreiben – hoffentlich nicht nur in der Absicht „Kultur nach Favoriten“ zu bringen als eine Öffentlichkeit für die kulturellen Besonderheiten in diesem Bezirk zu schaffen.
Dazu trifft sich, dass ich letzte Woche zu meinem Habilitationskolloquium an der Universität für angewandte Kunst Wien eingeladen war, das sich dem Wunsch der Kommission gemäß mit der Aktualität des Konzepts „Kultur für alle“ beschäftigen sollte. Gelegenheit für mich, in den theoretischen Grundlagen rund um Hilmar Hoffmanns Veröffentlichung „Kultur für alle. Modelle und Perspektiven“ aus 1979 zu kramen.
Auffallend war da für mich zuallererst, dass den Vorstellungen von Hoffmann und Co. der Kultur eine ganz besondere gesellschaftspolitische Funktion zugewiesen wurde. Ihr war es ganz konkret zugedacht, nicht nur das Freizeitangebot zu bereichern sondern darüber hinaus die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Bevölkerung zum Besseren zu wenden. In einem Dreischritt von der Rechtsstaatlichkeit über die Sozialstaatlichkeit zur Kulturstaatlichkeit war es der Kulturpolitik zugedacht, nicht nur materielle sondern auch immaterielle Güter nach den Prinzipien von Gleichheit und Gerechtigkeit umzuverteilen. Kulturpolitik als Handlungsanleitung auch für andere Politikbereiche wie Bildung, Soziales, Justiz oder Beschäftigung würde à la longue allen Menschen die Chance eröffnen, nicht nur am Angebot des Kulturbetriebs sondern darüber hinaus an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens gleichberechtigt teilzunehmen – in der Erwartung, damit auch die Kluft zwischen der Inneren Stadt und Favoriten zu schließen.
Kurz: Kulturpolitik wurde politisch gedacht und sollte dazu beitragen, bislang benachteilige Gruppen (als solche wurden zum damaligen Zeitpunkt vor allem die sozialdemokratischen Kernwählerschichten identifiziert) in das gesellschaftliche Leben zu integrieren und damit das gemeinschaftliche Leben auch mit kulturellen Mitteln gerechter zu gestalten.
Nicht dass es diese Bestrebungen heute nicht mehr gäbe. Diese aber sind – so scheint nicht nur mir – konfrontiert mit einem grundsätzlichen Wandel des gesellschaftlichen Wertehaushaltes, der immer weniger auf Gleichheit und Gerechtigkeit sondern auf Ungleichheit und Konkurrenz setzt. Dies ist vorrangig einer kapitalistischen Dynamik geschuldet, die ihre Energie immer schon mehr aus der Differenz denn aus Integration bezogen hat. (Zumindest das haben die Rechtspopulisten gut erkannt, wenn sie sich zum einen als Wortführer der Leidtragenden von wachsender Verungleichung gerieren und gleichzeitig mit der Kulturalisierung sozialer Widersprüche eben diese Verungleichung weiter vorantreiben.)
Unter dem Label von „Neoliberalismus“ erleben wir zurzeit einen Generalangriff auf die europäische Sonderform von Sozialstaatlichkeit. (Ein Angriff übrigens, der von den „Chicago Boys“ in den USA seinen Weg genommen hat und wohl auch als Bestandteil eines globalen Wettbewerbs interpretiert werden muss, der – wie sich angesichts der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise gut beobachten lässt, den führenden Kräften jenseits des Atlantiks die Chance gibt, von den eigenen Problemen abzulenken.)
Die arbeits- und perspektivlos – ja man muss dieses Wort wieder in den Mund nehmen – Verelendenden vor allem im südlichen Teil Europas wissen davon ein Lied zu singen. Wenn aber vor den Augen der Betroffenen die Grundlagen von Sozialstaatlichkeit zerbröseln und sie auf diese Weise immer mehr vom gesellschaftlichen Reichtum abgeschnitten werden, dann hat das – jedenfalls dem Konzept von „Kultur für alle“ folgend – auch gravierende Auswirkungen auf das kulturelle Verhalten.
Immerhin sollte sich „Kulturstaatlichkeit“ – in den 1970er Jahren noch als eine historische Notwendigkeit gedacht – auf einem funktionierenden Sozialstaat erheben, der sicherstellt, dass die materielle Güterverteilung gerecht erfolgt. Wenn aber offensichtlich wird, dass die verbleibenden Versatzstücke von Sozialstaatlichkeit immer dysfunktionalere Wirkungen zeigen, warum sollte das im Bereich der Kulturstaatlichkeit dann völlig anders sein?
Man braucht nicht nur nach Salzburg und dem neureichen Seitenblicke-Publikum der dortigen Festspiele schauen, um unmittelbar wahrzunehmen, wie es auch im Kulturbereich mehr denn je ungleich zugeht. Ja man könnte sogar sagen, dass das herrschende Paradigma wachsender Verungleichung mit dazu beiträgt, die einseitige Priorisierung einzelner Kunst- und Kultureinrichtungen (die den überwiegenden Teil der öffentlichen Förderungsmittel verschlingen) durch den Staat für einen kleinen elitären BesucherInnenkreis nur mehr deswegen funktionieren, weil wir gelernt haben, Ungleichheit zu akzeptieren.In diesem Zusammenhang sind Initiativen wie „Hunger auf Kunst und Kultur“ wichtige Erinnerungsformen daran, wie es sein müsste/könnte – aus kulturpolitischer Sicht hingegen stellen sie einen Tropfen auf den heißen Stein sozialer Diskriminierung dar.
Und wenn wir uns mit dem Akzeptieren schwer tun, gibt es ja jetzt die Beruhigungspille des freien Eintritts in die Bundesmuseen für alle jungen Menschen unter 19 Jahren in Österreich, die vor allem den MuseumsdirektorInnen in mehrjährigen mühsamen Verhandlungen abgetrotzt werden mussten.
Eine Bestätigung dieses Befundes findet sich – jedenfalls aus deutscher Sicht – ganz aktuell im 2. Jugend-KulturBarometer „Zwischen Xavier Naidoo und Stefan Raab….“ des Deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung und des Deutschen Zentrums für Kulturforschung. Zentraler Satz: „In den letzten Jahren hat sich Interesse der jungen Leute für Kunst und Kultur in der Fläche kaum verändert“. Berücksichtigt man die vielfältigen Programmangebote zu kultureller Bildung, die in den letzten Jahren aufgelegt worden sind, dann ist das ein recht ernüchternder Befund, der nur durch die Vorstellung abgemildert werden kann, wie das Ergebnis wohl ausgefallen wäre, wenn diese Angebote nicht durchgeführt worden wären.
Auffallend ist, dass diese Ergebnisse zur Nutzung im Gegensatz zu einer beträchtlichen Ausweitung des kulturellen Angebotes stehen. Noch nie stand einem so reichen Angebot von „KunstundKultur“ ein so hohes Ausmaß an Desinteresse gegenüber. Da scheint das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage einigermaßen aus dem Lot geraten zu sein. Es kann aber auch sein, dass immer größere Bereiche der Kulturnutzung (weil gar nicht unter dem Label „Kultur“ sondern „Freizeit“ firmierend) mittlerweile aus dem Blick öffentlicher Kulturpolitik geraten sind.
Der neue Musikchef der Wiener Festwochen Markus Hinterhäuser hat in einem Radiointerview noch einen anderen Blickwinkel zum Thema „Kultur für alle“ eingebracht. Immerhin waren die theoretischen Apologeten noch unmittelbar konfrontiert mit den Auswirkungen der sogenannten 68er Revolution. Hinterhäuser sprach in dem Zusammenhang von der großen Bedeutung der Musik, vor allem der Popmusik als so etwas wie das kulturelle Substrat des damaligen sozialen Erneuerungswillens.
Ich hab mich daraufhin auf die Suche nach Musikrepertoire der aktuellen Protestbewegungen gemacht – und muss zugeben, dass ich nicht so recht fündig geworden bin (die vermeintliche Protesthymne „Asamblea“ hat mich nicht wirklich vom Stockerl geworfen). Und die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ fragt gleich überhaupt, ob die Manifestationen in erster Linie Material für die Kulturwirtschaft liefern würden, wenn Modestrecken mit Protestlern in High Heels und ein MTV-Casting für Occupy-Wall-Street-Demonstranten die öffentliche Diskussion dominierten (siehe Artikel).
Mehr Zuversicht gibt mir da schon der jüngste Sieg Francois Hollandes, der in seinem Wahlkampf den klaren Willen hat erkennen lassen, für die Weiterentwicklung von Sozialstaatlichkeit in Frankreich und darüber hinaus in Europa zu kämpfen. Wir werden sehen, ob sich auf einem europäischen Rekonstruktionsversuch von Sozialstaatlichkeit nochmals so etwas wie eine „Kulturstaatlichkeit 2.0“ wird errichten lassen. Der Stand der kulturpolitischen Diskussion, die sich angesichts eines zum Teil massiven Rückzugs der öffentlichen Hand vor allem auf die Verteidigung des Bestehenden beschränkt, lässt vorerst nicht allzu viel Hoffnung aufkommen.
Uns bleibt vorerst ein notwendig voyeuristischer Besuch in der Quellenstraße – und ich kann ihn nur sehr empfehlen.
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