Kosmopolitismus, Weltgesellschaft und das Dilemma mit der Kultur
Im Rahmen meiner Lehrveranstaltung „Schulwelten“ habe ich zuletzt mit angehenden Pädagog*innen Konsequenzen der aktuellen Migrationsbewegungen und den damit verbundenen interkulturellen Ansprüche in und rund um Schule diskutiert. Dabei berücksichtigen muss ich die weitgehend homogene Zusammensetzung derer, die sich auf eine Lehramtstätigkeit vorbereiten und damit in krassen Gegensatz zur sozialen, ethnischen und kulturellen Durchmischung treten, die sie in der Schule erwartet. In logischer Konsequenz ergab sich einmal mehr ein Gespräch „über“ und nicht „mit“ denen, um derentwillen Interkultur überhaupt zum Thema geworden ist. Die Beiträge bezogen sich im Wesentlichen auf die aktuell medial vermittelten Bedrohungsszenarien in Gestalt von „Senkung des Leistungsniveaus durch Schüler*innen mit Migrationshintergrund“ oder auf eine vermeintliche „Unbeherrschbarkeit von Flüchtlingswellen“, die eine existentielle Gefahr für die europäischen Gesellschaften darstellen würden. Es blieb einem der wenigen Studierenden, die über einen unüberhörbaren Sprachakzent verfügen, vorbehalten, über seine Erfahrungen im Umgang mit syrischen Flüchtlingen zu berichten. Seine Bemerkungen mündeten in die lapidare Frage: „Was wollt ihr denn? Das sind ganz normale, nette Leute“.
Wenn die österreichische Bundesregierung in diesen Tagen die Gefahr einer neuen „Balkanroute“ für Flüchtlinge beschwört, so kann sie sich dabei auf eine politische Erfolgsgeschichte der neuen Koalitionspartner beim Schüren von Ängsten gegenüber denen, die vermeintlich nicht hierhergehören, beziehen. Was immer die Menschen von außerhalb Europas bewogen haben mag, ihre Lebensgrundlagen trotz höchster Gefahr zu verlassen und sich auf eine lebensbedrohende Reise zu begeben, die Antwort der europäischen Renationalist*innen ist einhellig und sie findet zunehmend Gehör bei der Bevölkerung: „Diese Menschen gehören nicht hierher“. Entsprechend müssen ihnen – so die herrschende politische Logik – unüberwindliche Grenzen gesetzt werden.
Gerade auf diese Weise zeigt sich einmal mehr der eklatante Widerspruch einer europäischen Denktradition, die ihre aufklärerischen Errungenschaften gerne als universell geltend behauptet und einer Realpolitik, die diese außerhalb Europas als scheinheilig erscheinen lässt.
Es sind dieselben, die die Balkanroute sperren, die globale Produktionsverhältnisse befördern, die Menschen auf ebendiese Route zwingen.
Was mich in diesem Zusammenhang interessiert, das sind die gegenläufigen Bewegungen, die auf einen wachsenden Widerspruch zwischen der Formierung einer Weltgesellschaft einerseits und den politischen Versuchen, noch einmal kategoriale Trennlinien zwischen einzelnen Gruppen dagegen zu setzen, hinauslaufen. Auf dieser Grundlage haben wir uns weitgehend unkontroversiell auf Lebensbedingungen geeinigt, in denen es zwar selbstverständlich geworden ist, Güter und Dienstleistungen aus der ganzen Welt zu konsumieren und damit in unsere Alltagskultur zu integrieren. Zugleich macht uns die herrschende Politik glauben, sie wäre in der Lage, diejenigen, die diese Güter und Dienstleitungen produzieren, außen vor zu lassen. Dazu gehört auch die kollektive Verweigerung, zur Kenntnis zu nehmen, dass es die genau die Wirkungen eines auf universelle Ressourcennutzung beruhenden Lebensstils sind, die anderswo die Lebensverhältnisse (etwa im Zusammenhang mit dem Klimawandel) nachhaltig verschlechtern und dadurch Menschen zwingen, ihre angestammten Orte zu verlassen und sich auf die große Reise zu begeben.
Unter dem Eindruck der Lektüre Stefan Weidners Untersuchung „Jenseits des Westens“ bin ich nochmals auf die Versuche gestoßen, eine solche Disparität zu begründen. Der langjährige Chefredakteur der vom Goethe-Institut auf Englisch, Arabisch und Persisch herausgegebenen Kulturzeitschrift Arte-Tought/Fikrun wa Fann (EDUCULT hat dazu eine Leser*innenbefragung durchgeführt) arbeitet sich darin an Samuel Huntingtons Thesen vom „Clash of Civilisations“ ab.
Dieser hatte vor nunmehr bereits 20 Jahren einen globalen Kulturkampf vorausgesagt, wonach klar unterscheidbare Kulturen, allen voran der Westen, über einen weitgehend in sich geschlossenen Wesenskern verfügen würden, damit über so etwas wie kulturelle Identitäten, die sich im globalen Kontext weitgehend unvermittelt gegenüber stehen würden. Huntington bezog sich dabei zumindest indirekt auf die verhängnisvolle Tradition einer Johann Gottfried Herder folgenden essentialistischen Kulturbestimmung, die in der Folge wesentlich zur Legitimierung eines europäischen/westlichen Vormachtstrebens in der Welt (samt ihren verheerenden kolonialen Wirkungen der Unterordnung außereuropäischer Weltgegenden) herhalten sollte.
Das „Ende der Geschichte“ und das „Ende der internationalen Solidarität“
Wenn im Laufe des 20. Jahrhunderts diesem kategorialen Gegensatz unterschiedlicher Kulturen mit politisch-ideologischen Mitteln entgegen gewirkt werden wollte (etwa mit dem Slogan: „Hoch die internationale Solidarität!“), so zeigte sich mit dem ausgerufenen „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) und dem dazugehörigen Siegeszug eines universellen Wirtschaftsliberalismus eine erstarkende Gegenbewegung in Gestalt einer Renaissance kulturell definierter Ordnungsprinzipien. Deren Protagonist*innen in Gestalt einer neuen Generation von Nationalpopulist*innen legen es darauf an, einmal mehr Menschen nach ihrer Herkunft zu sortieren und voneinander abzugrenzen: Geht es nach Huntington und seinen politischen Apologeten, dann würden „Multikulturalisten das kulturelle Erbe ihres Landes verwerfen und stattdessen ein Land der vielen Kulturen schaffen, will sagen ein Land, das zu keiner Kultur gehört und eines kulturellen Kerns ermangelt“.
Dass diese „Multikulturalisten“ in den letzten Jahren wesentlich dazu beigetragen haben, den Gegenbeweis anzutreten, wonach Menschen unter schiedlicher kultureller, ethnischer oder religiöser Herkunft durchaus friedlich miteinander auszukommen vermögen, bleibt in Huntingtons Befund weitgehend ausgeklammert. Und doch beweisen einzelne Stimmen wie zuletzt die der Schauspielerin Sophie Rois anlässlich der Verleihung des Gertrud-Eysoldt-Rings an sie mit dem simplen Satz: „Man muss sich nicht verstehen, um sich zu respektieren“, dass das Zusammenleben unterschiedlicher Menschen auch ganz anders interpretiert kann.
(Dazu ein Side-step: Dass gerade von der österreichischen Reaktion noch einmal die Bedeutung des Erwerbs der deutschen Sprache zum zentralen Merkmal österreichischer Identität hochstilisiert wird, möchte ich mit der Vermutung beantworten, dass wir bereits in wenigen Jahren über universelle Übersetzungs-Programme (etwa in Form eines simplen Chips) verfügen werden, mit Hilfe derer die Idee von Sprache als zentralem kulturellem Identifikationsmerkmal weitgehend obsolet sein wird.)
Kunst als Medium, uns von unserer Kultur zu emanzipieren
Ich gebe zu, nach so viel Kulturessentialismus tut es gut, einen Blick in Bazon Brocks Überlegungen zu „Kulturelle Identität ist Fiktion“ zu werfen. Darin weist er recht unspektakulär nach, dass das, was wir gerne als spezifische „kulturelle Leistung“ verhandeln, in erster Linie der Logik unserer sozialen Natur geschuldet ist. Demzufolge bleibt den heranwachsenden Mitgliedern einer sozialen Gruppe ja gar nichts anderes übrig, als die für die Gruppe verbindlichen kulturellen Regeln zu antizipieren und als Grundlage in die eigene Lebensgestaltung zu integrieren. Wenn aber dieser Prozess der „Enkulturation“ die schiere Grundbedingung dafür darstellt, in die Welt zu kommen, dann spricht wenig dafür, auf die je besonderen kulturellen Bedingungen besonders stolz zu sein; sie sind stattdessen die unabweisbaren Grundbedingungen dafür, dass Menschsein in ihren jeweiligen sozialen Konstellationen hinreichende Überlebenschancen erhalten.
Im Rahmen dieser Essentialität humaner Enkulturation weist Brock der Kunst eine besondere Funktion zu. Diese bestünde nicht darin, die jeweiligen kulturellen Gegebenheiten, in die wir alle nolens volens hineingeboren sind, darzustellen bzw. zu einem Alleinstellungsmerkmal zu überhöhen sondern – ganz im Gegenteil – sie im Prozess der Individualisierung zu überwinden. Ihm zufolge liege die besondere Qualität von Kunst darin, ihre jeweiligen kulturellen Identitätsphantasmagorien hinter sich zu lassen und das Individuum als Mitglied einer Weltgesellschaft ins Zentrum zu rücken: „Kunst stellt ja gerade eine Form der Überwindung von regionalen, religiösen, ethischen, rassischen oder Sprachgemeinschaften zugeordneten kultischen Handlungen dar. Kunst war von vorne herein eine universelle Sprache….Es kann folglich nur eine Kunst geben, so, wie es auch nur eine Wissenschaft (und nicht etwa eine deutsche oder eine französische Physik) gibt“. Mit dieser Definition verweigert Brock die Unterordnung von Kunst unter politische Konzepte der „Kulturnation“, die er als eine „kontrafaktische Fiktion“ denunziert.
Das Ende des Westens ist der Anfang der Weltgesellschaft
Ich gebe zu, dass ich in meinen Überlegungen lange versucht habe, die Universalität des europäischen Konzepts der europäischen Aufklärung mithilfe einer begrifflichen Trennung von Zivilisation und Kultur zu retten. Ganz im Sinn von Bazon Brock, der in diesem Zusammenhang von einer Zivilisierung spricht, die auf der Hoffnung basiere, „dass wir zu akzeptieren lernen, auch nur Menschen wie alle anderen Menschen zu sein“. Ungeachtet der widersprüchlichen Übersetzungsversuche (die z.B. aus Huntingtons ursprünglichem „Clash of Civilisations“ einen „Kampf der Kulturen“ gemacht haben) musste ich aus Stefan Weidners Überlegungen zur Kenntnis nehmen, dass selbst das, was gerne unter universelle zivilisatorische Errungenschaften wie Menschenrechte, Demokratie, Gleichheit von Mann und Frau oder Trennung von Kirche und Staat verhandelt wird, einer jeweils spezifischen kulturellen Interpretation unterliegen.
Dazu kommt die ignorante eurozentrische Haltung, wonach diese Errungenschaften Ausdruck eines spezifisch europäisch/westlichen Fortschrittsanspruchs wären, den es außerhalb der eigenen Grenzen zu implementieren gälte. Wenn in der aktuellen Situation Europas auf verhängnisvolle Weise immer deutlicher wird, wie anfällig politische Entscheidungsträger*innen in Europa dafür sind, um den Preis des eigenen Machterhalts, die Errungenschaften der Aufklärung zu desavouieren (und sich dabei in ihrer ganzen Scheinheiligkeit zu decouvrieren), so haben uns Beobachtungen von Projekten außerhalb Europas davon überzeugt, dass es keinerlei europäisches Primat gegenüber diesen zivilisatorischen Errungenschaften gibt. Stattdessen sind wir gerade außerhalb der europäischen Grenzen auf ein Engagement zur Realisierung vermeintlich spezifisch europäischer Errungenschaften etwa zugunsten der Durchsetzung elementarer Menschenrechte oder demokratischer Mitbestimmungsmodelle gestoßen, die ein ermüdeter europäischer Kontinent im Augenblick weitgehend aus den Augen zu verlieren droht. Dieser Umstand drückt sich auch in den Überlegungen des britisch ghanaischen Philosophen Kwame Anthony Appiah aus, der in seinem Essay „Der Kosmopolit“ aus eigener Anschauung über die Transkulturalität eines globalen Werteverständnisses zu berichten weiß.
Weltgesellschaft beruht nicht auf Kultur sondern auf dem Recht auf Rechte
Im Bemühen, den sich verändernden realen globalen Machtverhältnissen Rechnung zu tragen, bezieht sich Stefan Weidner auf Hannah Arendt, wonach sich eine Weltgesellschaft nicht mehr auf die Übernahme westlicher Werte begründen lässt sondern auf das Recht alle Menschen des Globus, überhaupt Rechte für sich beanspruchen zu können. Ihm zufolge sind es nicht die Hoffnungen auf eine wie immer ausgestaltete Weltregierung, die in der Lage ist, eine kulturenübergreifende Klammer zwischen allen Erdenbürger*innen herzustellen, sondern die schiere Anerkennung, dass alle Menschen einen Anspruch auf Rechte haben. Wie diese im Einzelfall ausgestaltet werden, bedarf der jeweiligen kulturellen Aushandlung, ohne dass es eine für alle verbindliche Instanz gäbe, die über ein „richtig oder „falsch“ verfügen würde.
Eine sich auf diesen Minimalkonsens berufende „Weltgesellschaft“ (deren Letztbegründung im Übrigen noch einmal eminente Fragen der Rolle der Religionen aufwirft) bedeutet nicht weniger als Konfliktfreiheit bzw. wachsende soziale Gleichheit. Gerade mit der Möglichkeit, über die jeweiligen kulturellen Grenzen hinweg Vergleiche anzustellen (siehe dazu etwa PISA) kann dies sogar zu einer Verschärfung von Ungleichheit führen, wogegen zur Zeit keinerlei politische Instrumente des Ausgleichs vorgesehen sind.
Der Westen produziert exakt die Probleme, die anderswo Menschen dazu zwingt, ihre Heimat zu verlassen
Möglicherweise werden es die schieren Realitäten sein, die den Zwang zur Neuverhandlung der Verhältnisse über die postulierten kulturellen Grenzen hinweg erzwingen werden. In diesem Zusammenhang haben Autoren wie Harald Welzer bereits vor 10 Jahren vor der Gefahr von globalen „Klimakriegen“ hingewiesen. In seinem aktuellen Kommentar in der Süddeutschen Zeitung „Das Zeitalter des Geldes“ weist er nochmals auf die fatalen politischen Fehlentscheidungen hin, wenn Mauern und befestigte Grenzen sowie eine Politik der Angst und der Wunsch nach autokratischen, und das heißt immer gewaltsamen Problemlösungen dafür herhalten sollen, Europa gegen immer mehr Flüchtlinge abzuschotten. Außen vor hingegen blieben die eigentlichen Fluchtursachen in Gestalt von spätkolonial begründetem Landraub, Landverlust, gewaltsamer Vertreibung und die Folgen des Klimawandels. Aktuell hätten 65 Millionen Menschen deshalb ihre Heimat verlassen müssen, wobei auffallend sei, dass arme Gesellschaften immer mehr Flüchtlinge aufnehmen und die reichen (die er erstverantwortlich für die Fluchtursachen macht) immer weniger (welche dramatischen politischen Konsequenzen das haben kann, zeigt sich in der aktuellen Regierungskrise Jordaniens).
In den von immer neuen Rückschlägen gezeichneten Versuchen der Realisierung einer kulturübergreifenden Weltgesellschaft gibt es auch eine spezifisch kulturpolitische Dimension. Diese äußert sich zurzeit besonders im Rahmen der Auseinandersetzungen über Artefakte, die im kolonialen Sammelfuror nach Europa gelangt sind (um hier einen kulturellen Suprematieanspruch zu befestigen). In dem Zusammenhang hat der französische Präsident Emmanuel Macron eine Kehrtwendung angekündigt; Raubgut aus französischen Museen solle zurückgegeben werden, Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy (siehe dazu ihre Veröffentlichung „Die Provenienz der Kultur“) und der senegalesische Wissenschaftler Felwine Sarr sind dafür zu Beratern bei der Restitution von kolonialer Raubkunst ernannt worden.
Das koloniale kulturelle Erbe als Ausgangspunkt für „Global Sharing“
Wenig verwunderlich, wenn diese Form der Relativierung kultureller Dominanzvorstellungen der kolonialen Siegermächte nicht vor den Überlegungen der Ausgestaltung des Humboldt-Forums in Berlin, das dazu einladen möchte, „Die Verflechtungen in der Welt zu erkennen, Fremdes im Eigenen und Eigenes im Fremden entdecken“. Während ihre Protagonisten versprechen, ihre Schätze nicht nur in Berlin zu zeigen sondern damit auch in die Ursprungsländer zu gehen, bleibt die Frage unabweisbar, wem die im kolonialen Kontext wie immer erworbenen Artefakte gehören und folglich für welche Form der kulturellen Identitätsbildung sie künftig stehen sollen. Während sich bei einer jüngst veranstalteten UNESCO-Konferenz die offiziellen Vertreter*innen Afrikas dafür ausgesprochen haben, dass die Artefakte „in der Hand derer bleiben (müssen), die sie geschaffen haben“, weil sie „eine Seele haben,… und einen Schlüssel für unsere Identität“ darstellten, kommt einer der führenden afrikanischen Intellektuellen Archille Mbembe zu einem etwas anderen Schluss. Mit seinem Plädoyer für eine „Neue Kultur des Teilens“ spricht er sich dafür aus, diese Artefakte aus einer engen Bezugnahme auf kulturelle Identitätsansprüche zu befreien und sie stattdessen einer Weltgesellschaft zu überantworten, an der alle in gleicher Weise Anteil haben sollten.
Die besondere Provokation Mbembes in seinem Plädoyer eines gemeinsamen Weltkulturerbes, in das auch all das integriert werden soll, was der Westen einst seiner spezifischen kulturellen Kontexte beraubt hat, hat freilich eine Konsequenz, die wesentlich weitreichender ist, als die Beantwortung der Frage, wer in welcher Form über welche Artefakte zu verfügen vermag. Sie hat unmittelbare Auswirkungen auch auf den Status von Menschen, die sich dergestalt als gleichwertige Mitglieder einer Weltgesellschaft zu erkennen geben und so immer weniger bereit sind – aus welchen Gründen immer – an den Grenzen einer politisch verordneten kulturellen Identitätsbildung Halt zu machen (Zur Erinnerung: Es waren die europäischen Kolonialmächte, die in weiten Teilen der Welt nationale Grenzziehungen je nach herrschenden Machtkonstellationen vorgenommen haben, die bis heute kriegerische Auseinandersetzungen samt – siehe Syrien – allen Facetten der kulturell motivierten Menschenverachtung vor Ort evozieren. Und es sind ihre Nachfolger*innen in Gestalt europäischer Grenzschützer*innen, die im Abwehrkampf gegen wachsende Migrationsbewegungen diese Praxis heute, etwa in Afrika, mit avancierten Mitteln fortsetzen).
Wir werden uns an den Umstand gewöhnen müssen, dass die Leidtragenden dieser politischen Fehlentwicklungen diesseits und jenseits oft völlig willkürlich gezogener Grenzlinien ganz ungeachtet ihrer jeweiligen kulturellen Besonderheiten – genauso wie die zur Diskussion stehenden Kunstwerke als Teil eines gemeinsamen globalen Kulturerbes – ohne viel Wenn und Aber Teil einer transnationalen Gemeinschaft und damit von uns allen sind. Tun wir es nicht, wird uns ein – nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa bereits für undenkbar gehaltener – erneuter Ausbruch an kriegerischer Gewalt rasch eines Besseren belehren.
Es ist dem einen Studierenden in meiner Lehrveranstaltung vorbehalten geblieben, die mit der Idee einer Weltgesellschaft verbundenen Verhältnisse als das zu erkennen, was sie sind: als Teil einer neuen Normalität des Miteinander über alle kulturellen Grenzen hinweg.
Bild: „Spencer Tunick the Colorist“ von Bernard Goldbach / CC BY 2.0
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