„Kultur tötet! Tatsächlich!“ („Kultura ubija! Dobesedno!“)
EDUCULT führt zurzeit eine europaweite Recherche zu aktuellen kulturellen und kulturpolitischen Trends durch. Von unseren GesprächspartnerInnen erfahren wir vor allem von massiven Kürzungen der öffentlichen Kunst- und Kulturförderung überwiegend in den krisengeschüttelten Ländern des Südens, die sich bei uns bis in die Massenmedien durchgesprochen haben. Und auch Versuche einer schon überwunden geglaubten Indienstnahme des Kulturbetriebs zur Begründung nationalistischer Politiken – wie sie sich vor allem in Ungarn und Rumänien anhand umstrittener Theaterdirektorenbesetzungen beobachten lässt – haben zu einer breiteren öffentlichen Kontroverse Anlass gegeben.
Dass das traditionelle positive Standing der „Kultur“ auch in Ländern wie Deutschland, das bislang zu den Krisengewinnern gezählt wird, zunehmend unter Druck gerät, konnten wir im Rahmen des Projekts „Ruhratlas Kulturelle Bildung“ beobachten. Immerhin bringt die angespannte Haushaltslage vieler kommunaler Haushalte nicht nur im Ruhrgebiet (in dem mittlerweile rund ein Viertel aller Kinder einem auf öffentliche Unterstützung angewiesenen Hartz-4-Haushalt entstammt) mit sich, dass die Aufrechterhaltung des kulturellen Angebots in Konkurrenz zu anderen öffentlich finanzierten sozialen Dienstleistungen wie Kindergarten, Schwimmbad, Sporteinrichtung, Spital oder Armenhilfe gerät. Und die Entscheidung, ob ein kommunales Mehrspartenhaus sein Angebot einschränken (oder ganz zusperren) oder ob der Schulbetrieb aufrechterhalten werden soll, geht nicht mehr automatisch zugunsten der Kultureinrichtung aus.
An anderer Stelle wäre jetzt der gegebene Zeitpunkt, ein Klagelied gegen vermeintlich kulturlose PolitikerInnen anzustimmen, die – obwohl es im Vergleich ja doch nur um Peanuts geht – immer zuerst bei der Kultur Einsparungen vornehmen würden, ohne darüber nachzudenken, welchen unwiederbringlichen Schaden sie damit den Menschen, der Gesellschaft und wer weiß wem sonst noch allen zufügen würden. Seltener motiviert das Nachlassen des öffentlichen Engagements dazu, neue, glaubwürdige Begründungszusammenhänge zu liefern, warum es angesichts wachsender gesellschaftlicher Probleme und damit gerade jetzt lohnen würde, kulturelle Errungenschaften nicht preiszugeben.
Als das Image von Kultur zu sinken begann…
Besonders hellhörig bin ich im Verlauf eines Interviews mit der renommierten slowenischen Kulturpolitikforscherin Vesna ?opi? geworden, die mir von einer Kontroverse rund um einen Artikel des Universitätslehrers Mi?o Mrkai? in der Zeitschrift Finance mit dem Titel „Kultur tötet! Tatsächlich!“ („Kultura ubija! Dobesedno!“) berichtet hat. Mrkai? spielt darin die Aufrechterhaltung der öffentlichen Förderung für das Kulturzentrum Metelkova in Ljubljana gegen die mangelnde Versorgung krebskranker Patienten aus und kommt zum agitatorischen Schluss, für die vorherrschende Besucherschaft des Metelkova in Gestalt von „Business-Frauen“ hätte „Leiden und Sterben weniger Wert als ein subventioniertes Karaoke im Kulturareal“.
Man könnte die Äußerungen als eine billige Polemik eines frustrierten Ökonomen abtun, der mit dem aktuellen Kunstgeschehen nichts anzufangen weiß und sich solcherart als Ignorant kultureller Errungenschaften zu erkennen gibt. Man kann sie aber auch lesen als ein Symptom für die schwindende Beziehung einer wachsenden Mehrheit der Bevölkerung zur Kunst, die angesichts des drohenden Staatskollaps schlicht andere Sorgen hat, als sich für die bestmögliche Ausstattung des öffentlichen Kulturbetriebs einzusetzen.
Der Kulturbetrieb, die Beharrungskräfte und ihre Wirkungen
Das tut – so die Analyse von Vesna ?opi? – in eigentlich überraschender Weise der erst vor wenigen Tagen angelobte neue Kulturminister Uroš Grilc, der als wesentliche Priorität die Sanierung des Staatshaushaltes angekündigt hat. Seine kulturpolitischen Beweggründe erscheinen noch vage, auch wenn sie sich deutlich von denen seiner VorgängerInnen absetzen. Diese hatten sich für eine umfassende Modernisierung des slowenischen Kulturbetriebs (der sich bislang im Unterschied zu anderen postkommunistischen Ländern weitgehend unverändert in die neuen kapitalistischen Zeiten hinübergerettet hat) ausgesprochen, waren mit ihren Bemühungen aber immer wieder an den Beharrungskräften der traditionell gewachsenen Selbstverwaltungsstrukturen abgeprallt.
Ein ganz ähnliches Phänomen konnten wir in diesen Tagen in Wien anlässlich einer Konferenz von Opera Europa und Reseo, eine Initiative, die sich vor allem mit Opernpädagogik beschäftigt, studieren. EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso adelte die Veranstaltung mit einer Eloge auf das Phänomen Oper als europäisches Integrationsmittel par excellence, wenn er meinte „Nichts ist europäischer als die Oper“. Die nachfolgende Diskussion führender Wiener Operndirektoren, die nicht müde wurden, von der Musikbegeisterung Österreichs zu schwärmen und diese am Umstand ausmachten, dass zumindest fünf Leute Staatsoperndirektor Dominique Meyer gefragt hätten, ob der Tenor Jonas Kaufmann den Parsifal singen würde oder nicht, machten Barrosos Aussage zur gefährlichen Drohung. Mit stereotyp wiederholten Anekdoten, wonach selbst Taxifahrer Anteil am traditionellen Kulturgeschehen nehmen würden, suggerieren offenbar die führenden Vertreter des Kulturbetriebs sich gegenseitig ihre anhaltende Bedeutung in der Hoffnung, damit noch einmal vergessen machen zu können, wie sehr sie sich mit ihren aristokratischen Attitüden bereits von der Mitte der Gesellschaft entfernt haben (In der Diktion Barrosos erzählen sie damit ungewollt mehr über den prekären Zustand des europäischen Einigungsprojekts als ein zunehmend isoliertes Eliteprojekt als ihnen lieb sein kann).
Womit wir bei einer Typik eines in die Jahre gekommenen öffentlichen Kulturbetriebs wären, die man in Slowenien beispielhaft studieren kann. Und so steigt aus den Nebeln einer Rhetorik zur allumfassenden Wichtigkeit von „Kultur“ eine überkommende Betriebsstruktur auf, die sich weitgehend selbst genügt. Voll mit den eigenen Anliegen beschäftigt nimmt sie die dramatischen Veränderungen ihres Umfeldes bestenfalls peripher zur Kenntnis, um der Kulturpolitik die ausschließliche Aufgabe zuzuweisen, ihren möglichst unveränderten Bestand zu sichern. Und so bleibt offenbar dem neuen slowenischen Kulturminister kein anderes Mittel, als sich seine Wichtigkeit bestätigen zu lassen, in dem er den Erwartungen des Betriebs bestmöglich zu entsprechen versucht.
Die Aufrechterhaltung einer solchen statischen Beziehung zwischen Politik und Betrieb ist freilich mit zunehmenden negativen Konsequenzen verbunden. Da ist zum einen die wachsende Hermetik des Betriebs, die einer nächsten Generation ambitionierter junger KünstlerInnen die Chance nimmt, gestalterisch mitzuwirken und ihre Dynamik für die betriebliche Weiterentwicklung zu nutzen. Weil sie als potentielle Konkurrenten angesehen werden, bleibt ihnen der Zugang zu jedweden Ressourcen möglichst erschwert. Ihnen kommt die Rolle der potentiellen Störenfriede zu, die tunlichst außen vor bleiben sollen. Entsprechend sind sie darauf verwiesen, sich außerhalb dieser geschützten Werkstätten einen Platz auf den wachsenden Kulturmärkten zu erobern, eine Tätigkeit, die nicht gerade dazu ermutigt, noch einmal als Verteidiger öffentlicher Kulturpolitik aufzutreten (dass sie damit genau jener Verbetriebswirtschaftlichung des Kulturbetriebes zuarbeiten, gegen den öffentliche Kulturpolitik als wertortientierte Martkkorrektur ursprünglich angetreten ist, sei hier nur am Rande erwähnt).
Der Kulturbetrieb und die Emanzipationskraft des Kapitalismus
Und da sind zum anderen die Reaktionen eines Publikums, an deren Bedürfnissen dieser erstarrte Betrieb zunehmend vorbeiproduziert. Die längste Zeit funktionierte die kulturpolitische Legitimation einer nachhaltigen Privilegierung des öffentlichen Kulturbetriebs mit Anspruch einer „Kultur für alle“, der vor allem im Rahmen schulischer Bildung in den Köpfen und Herzen der Bevölkerung verankert werden sollte (auch und gerade in der kommunistischen Ära).
In dem Maße, in dem der Kapitalismus emanzipative Kräfte freisetzt, veränderte sein Regime auch das Kulturverhalten. Immer weniger Menschen fühlen sich von einer kulturpolitischen Rhetorik einer „Kultur für alle“ angesprochen. Sie wollen selbst entscheiden, was für sie kulturell relevant ist und richten ihr Nutzungsverhalten danach aus. Dementsprechend führt die traditionelle Betonung der Angebotsorientierung zunehmend ins Leere mit dem Ergebnis, dass sich schlicht immer weniger Menschen dafür interessieren, was der öffentliche Kulturbetrieb zu bieten hat und sich auch so verhalten.
Kulturelles Verhalten und die Macht der Dauer
Dazu eine kleine Rechnung: Die beiden Marktforschungsinstitute Integral und T-Factory haben in diesen Tagen die Ergebnisse einer breit angelegten Studie über die Lebenswelten Jugendlicher zwischen 14 und 29 Jahren veröffentlicht. Demnach verbringen Jugendliche im Schnitt 275 Minuten täglich mit dem Internet.
Wenn Sie diese mehr als vier Stunden an Lebenszeit pro Tag vor dem Bildschirm ins Verhältnis setzen zu einer oder zwei Wochenstunden Bildnerische Erziehung oder gar zu einem jährlichen Besuch einer repräsentativen Kultureinrichtung, wodurch – glauben Sie – wird das kulturelle Verhalten stärker und nachhaltiger beeinflusst? Die Frage an den Kulturbetrieb gerichtet: Um wie viel eindrücklicher und prägender muss die Wirkung des Angebotes des Kulturbetriebs sein, um den Erfahrungen in diesen neuen kulturellen Räumen etwas Überzeugendes entgegensetzen zu können?
Österreich ist anders – Über die unendliche Vermehrung des traditionellen Kulturbetriebs
Mangels öffentlichem Diskurs kann ich nicht sagen, ob sich österreichische KulturpolitikerInnen mit diesen Fragen überhaupt auseinandersetzen und wenn ja, zu welchen Schlussfolgerungen sie kommen. Stattdessen erreicht die Öffentlichkeit zuletzt immer wieder Meldungen zur Eröffnung neu-alter Kulturbetriebe, sei es die Wiedereröffnung der Kunstkammer, der Bau des Festpielhauses Erl oder die Eröffnung des Musiktheaters in Linz, die für nächstes Wochenende vorgesehen ist.
Die Entscheidungen um letzteres Prestigeprojekt haben sich lange hingezogen. (Dass seine Realisierung sich über einen von der oberösterreichischen FPÖ angeheizten Volksentscheid hinwegsetzt, macht den Betrieb nicht unbedingt zum Ausdruck der aktuellen Direkte-Demokratie-Ansprüche). Dass es zu einem Zeitpunkt (just am ehemaligen Standort eines Spitals) eröffnet wird, an dem selbst große Musiktheater in Italien bedroht sind, mangels öffentlicher Finanzierung ihren Betrieb einzustellen, macht den fundamentalen Widerspruch deutlich, dem die Widmung von 150 Mio. Euro (ohne laufende Betriebskosten) für die Errichtung eines kulturellen Repräsentationsbaus aus dem Geist des 19. Jahrhunderts in einem krisenhaften Europa innewohnt (Immerhin werden mit diesem Bau die Grenzen europäischer Solidarität auf kulturellem Gebiet bewusst. Die Dichotomie hier Neubau dort Schließung und damit die Haltlosigkeit von Barrosos Zuschreibung von Oper als Ausdruck der europäischen Idee, zu der traditionell auch die Solidarität zählt, unmittelbar manifest).
Noch ist meines Wissens kein Zeitungsartikel in Linz erschienen, der die Kosten für das Musiktheater gegen sich verschlechternde Leistungen im Gesundheitsbereich am Standort aufrechnet. Das Haus verspricht ein vielfältiges künstlerisches Angebot, allein seine architektonische Ausgestaltung will erst nicht verhehlen, dass es sich zuallererst dem Geist einer (besseren) Vergangenheit verpflichtet weiß. Umso mehr werden die Betreiber gute Argumente im Hier und Heute finden müssen, welchen Beitrag zu einer gelingenden Kultur des Zusammenlebens sie in Linz, in der Region und darüber hinaus in einem Europa, das zur Zeit einem epochalen auch kulturellen Wandel unterliegt, zu leisten vermögen. Ansonsten drohen slowenische Verhältnisse.
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