Kultur und Apokalypse
Staatsbankrott Griechenlands, Übergreifen der Zahlungsunfähigkeit auf andere EU-Mitgliedsländer, EU am Rande des Abgrunds, Zusammenbruch der Finanzmärkte, Verlust der Ersparnisse, Rezession, Massenarbeitslosigkeit, Unregierbarkeit, Chaos, Endzeit.
Das sind nur ein paar der Schlagwörter der breaking news, mit denen zur Zeit ein umfassendes Gefühl der Unsicherheit und Ratlosigkeit in den europäischen Öffentlichkeiten geschaffen wird. Da ist keiner mehr, der Haltsuchenden noch einmal überzeugende Interpretationshilfen geben könnte, wie sie dieser medial inszenierten Aussichtslosigkeit entkommen könnten, die nicht bereits in der nächsten Stunde falsifiziert erscheinen.
Und so ist es kein Wunder, dass sich die – derart von apokalyptischen Sensationsmeldungen Zugemüllten – auf die Suche nach dem Schuldigen machen. Und der kann zur Zeit nur „Griechenland“ heißen (konkret der in den diversen Talkshows immer wieder herbeizitierte griechische Forstarbeiter, der eine Zulage bekommt, wenn er in den Wald geht). Und so schaut dann das Meinungsklima ist, wenn ich am Rande einer Fachtagung des Projektes Language Rich Europe in Berlin die Ergebnisse einer Meinungsbefragung des Senders n-tv mitbekommen habe, wonach sich aktuell 96% der Deutschen für einen sofortigen Austritt Griechenland aus der Europäischen Union aussprechen würden.
Ja, es brodelt in den europäischen Bevölkerungen und man könnte zur Auffassung kommen, diese Form der Berichterstattung stellte selbst eine Form einer Strategie der Entpolitisierung dar. Immerhin können sich – zumal in Österreich – die rechten Nationalisten genüsslich hinter ihren sreens zurücklehnen und ohne jedes eigene Zutun die Zeit für sich arbeiten lassen. Sie wissen: Ist erst einmal die Stimmung zugunsten einer Haltung des „Rette-sich-wer-kann“ genügend aufgeheizt gehen alle Appelle zur europäischen Solidarität ins Leere.
Daneben geht das Leben irgendwie weiter, auch wenn die Simulation von Alltag zunehmend Mühe macht. Vielleicht hilft ja – so dachte ich – die Teilnahme am Culture Forum, einem von der Generaldirektion Bildung und Kultur organisierten get together von mittlerweile tausend VertreterInnen des europäischen Kulturbetriebs in Brüssel, um Licht ins chaotische Durcheinander zu bringen.
Aber schon die einleitenden Begrüßungsworte führender EU-PolitikerInnen machten klar, dass es hier um eine Inszenierung ging, die vor allem eines deutlich machen sollte: Uns geht das ganze Krisengeschrei überhaupt nichts an. Als TeilnehmerInnen einer Parallelgesellschaft der besonderen Art halten wir die Fahne einer, „Kultur“ hoch, die getragen ist von den Wertvorstellungen eines besseren Zusammenlebens. Auf diese Weise haben wir die Lösung bereits gefunden und sind automatisch vor den Nöten der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise gefeit.
Gesagt, getan: Gespenstisch reihten sich stereotype Wiederholungen von Leerformeln aneinander, nach denen die cultural and creative industries den Weg aus der aktuellen Krise weisen würden. Als hätte sich die Position Europas seit der Verabschiedung der Lissabon-Ziele nicht nachhaltig verschlechtert (und nicht wie ursprünglich angenommen im globalen Ranking der Wirtschaftsstandorte verbessert), beanspruchte hier ein ohnehin nur sehr schwachen ökonomischen Füßen stehender Kultursektor ohne handfeste Belege, den Wirtschaftsraum Europa aus der Defensive zu führen, auch wenn dieser der Politik zunehmend aus der Hand zu gleiten droht.
Zu Tage trat hier nochmals eine spezifische Form der Selbstüberschätzung, mit der der Kulturbereich zunehmend bar jeder kritischen Einschätzung angesichts der geänderten Gesamtverfassung der europäischen Gesellschaften geschlagen scheint. Dies zeigte sich auch an der standhaften Weigerung, sich mit den geänderten politischen Bedingungen, in denen sich der Kulturbetrieb realisiert, zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn kritisch zu analysieren.
Zerbricht die Achse zwischen Politik und Kultur?
Daran ändert auch nicht der Umstand, dass die Kulturakteure nolens volens zur Kenntnis nehmen müssen, dass zuletzt eine Reihe europäischer Regierungen die Mittel für die öffentliche Kunst- und Kulturförderung drastisch zurückgefahren hat (ein Verlust, den auch eine geringfügige Erhöhung der nächsten Generation des EU-Kulturprogramms „Creative Europe“ nicht wird kompensieren können).
Meine Vermutung ist es, dass mit diesen Entscheidungen ein political agreement gerade in Ländern wie den Niederlanden und England, die in den letzten Jahren für eine besonders verlässliche Kulturpolitik gestanden haben, außer Kraft gesetzt worden wäre. Dies umso mehr, als dieses agreement der Politik eine wichtige Funktion in der Kulturentwicklungsplanung der einzelnen Länder zugemessen hat, deren Umsetzung heute lapidar auf den freien Markt verwiesen wird.
Weil niemand ernsthaft die Ansicht vertritt, mit den eingesparten Kulturfördermittel würde ein signifikanter Beitrag zur Konsolidierung der nationalen Haushalte geschaffen, liegt die Interpretation auf der Hand, diese Entscheidungen seien in erster Linie neuen Legitimationsstrategien geschuldet. Immerhin kann nationale Politik – durchaus im Einvernehmen mit der jeweiligen Stimmungslage einer zunehmend breiten Bevölkerungsmehrheit – mit diesen, gegen den Kulturbereich gerichteten Interventionen noch einmal die Stärke suggerieren, die sie gegenüber den zunehmend international agierenden Finanzakteuren nicht mehr aufzubringen vermag.
Darüber wurde beim Culture Forum nicht gesprochen. Entsprechend blieb die Frage, ob es sein könnte, dass diese Form der Abwendung von der Kultur ein durchaus kalkulierter Versuch der politischen Klasse darstellen könnte, einen zumindest symbolischen Machtanspruch aufrecht zu erhalten, der in anderen Politikbereichen nicht mehr hergestellt werden kann, unbeantwortet. Und so auch die Frage, ob die grassierende „Entpolitisierung“ der gesellschaftlichen Verhältnisse ihre, für die Betroffenen durchaus unerfreuliche Entsprechung in einem Rückzug der Politik gerade auf Kultur (und allenfalls noch Bildung) findet, wo sie zumindest symbolisch zeigen kann, dass sie noch Einfluss nehmen kann, zumindest in dem sie Kürzungen vornimmt.
Es wäre dies ein Beleg für die schleichende Niedergang von Politik, die es in den letzten Jahren den Finanzjongleuren zunehmend überlassen hat, mit Hilfe von frei flottierendem Kapital für oder gegen den Bestand ganzer Nationalökonomien zu wetten und damit das Schicksal der dort lebenden Bevölkerungen wesentlich nachhaltiger zu beeinflussen als sich das eine ihrer weltanschaulichen Wurzeln entfremdete Politik – jedenfalls in demokratisch verfassten Staaten – nicht mehr vorzustellen vermocht hat. Während die Aktivitäten der privaten Finanzjongleure als politische Akteure überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden, weil sich ihre Drahtzieher hinter einem Schleier der Anonymität zurückzuziehen vermögen (wer kennt ihre Namen, wie transparent treffen sie ihre Entscheidungen, wer hat sie gewählt?) reduziert sich die Funktion der VertreterInnen der traditionellen Politik auf die undankbare (und zunehmend unerfüllbare) Aufgabe, die Transaktionen der verspekulierten Mittel aus den Brieftaschen der BürgerInnen in die Portfolios der Spekulanten sicher zu stellen.
Wenn heute die führenden europäischen PolitikerInnen von einem Gipfel zum anderen hasten, ohne sich noch einmal zu gemeinsamen Aktionen aufraffen zu können, die über die aktuelle Krise des Tages hinausweisen, dann ist der Verlust des Politischen, den Colin Crouch in seiner Analyse „post democracy“ bereits vor einigen Jahren konstatiert hat, in der gesellschaftlichen Realität Europas angekommen. Wir erfahren ihn täglich quasi am eigenen Leib, sobald wir ein Medium zu Hand nehmen, um mit weiteren Bestätigungen unserer defensiv-skeptischen Weltsicht bestätigt gefüttert zu werden.
Meine These besteht darin, dass der zunehmende Bedeutungsverlust des Politischen die Kultur mit sich zu reißen droht. Mehr, eingezwängt zwischen den erpresserischen Drohungen der internationalen Finanzmarktakteure einerseits und den lang eingeübten Forderungen der Kultur nach politischer Aufmerksamkeit andererseits, sind alte Allianzen dabei zu zerbrechen. Konkret ist Politik drauf und dran, sich gegen die Kultur zu entscheiden. Und darüber hätte man auf dem Culture Forum diskutieren sollen, nein müssen.
Die Wirtschaftselite und der Bedeutungsverlust ihres kulturellen Verhaltens
Für das Verhalten der Politik gibt es durchaus rationale Begründungen, wenn ihr auch aus dem Bereich der Wissenschaften eine sinkende Bedeutung von Kultur suggeriert wird. In dem Zusammenhang hat der führende deutsche Elitenforscher Michael Hartmann herausgefunden, dass es bei den CEOs führender DAX-Unternehmen in den letzten Jahren zu einem sifgnifikanten Bedeutungsverlust des eigenen kulturellen Verhaltens gekommen ist.
Gehörte es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Grundausstattung des wirtschaftlichen Führungspersonals, sich für kulturelle Angelegenheiten zu interessieren, so hat sich diese Anforderung zuletzt signifikant abgeschwächt. Diese Haltungsänderung, die lange Zeit als unmittelbare Qualifikationsanforderung verhandelt wurde, kommt gerade bei der nachwachsenden Aufsteigergeneration zum Tragen, für die sportliche Interessen im Vordergrund stehen. Die Teilnahme am kulturellen Leben wird in diesen Kreisen bestenfalls noch als Schrulle einer abtretenden Minderheit akzeptiert.
Das hat unzweifelhaft Auswirkungen auf das kulturelle Selbstverständnis bei einem (ohnehin zunehmend verunsicherten) Mittelstand, der als eigentlicher Träger des Kulturbetriebs – jedenfalls von oben – immer weniger Bestätigung für sein eigenes kulturelles Engagement erfährt.
Vor dem Hintergrund dieser soziologischen Erkenntnisse könnte man die Aufrechterhaltung ökonomischer Argumente zur Begründung kulturpolitischen Engagement vor einem neuen Licht sehen. Es wäre dies der Versuch, den führenden Wirtschafteliten, die sich immer weniger für Kultur selbst interessieren, zumindest noch einmal die wirtschaftlichen Implikationen von Kulturbetrieblichkeit schmackhaft zu machen.
Die Schnelligkeit der weiteren Umwandlung des Kulturbetriebs in Kulturmarktakteure wird zeigen, ob und wenn ja, in welcher Form sich für eine effizienzgetriebene Wirtschaftselite hinreichende empirische Belege aufbereiten lassen.
Wussten Sie, dass die Teilnahme an kulturellen Aktivitäten Ihr Leben verlängern kann?
Es gibt aber auch Bemühungen, die kulturpolitische Begründungslage „nach unten“ zu verbessern. Hier sind es zuletzt vor allem Untersuchungen, die eine Verbesserung der Lebensbedingungen („well being“) durch Kultur in Aussicht stellen. Jüngste Exaltationen in diese Richtung waren durchaus Gegenstand der Diskussionen beim Culture Forum als der italienische Soziologe Pier Luigi Sacco jüngste Studienergebnisse präsentierte, wonach der Besuch von Kulturveranstaltungen zu einer signifikanten Erhöhung der Lebenserwartung (von bis zu 8 Jahren) führen würde. Kurz gefasst: Der Besuch von Konzerten, Theateraufführungen oder Museen macht glücklich, darüber hinaus leistungsbereiter und führt zu einem längeren Leben. Einzige Ausnahme: Die regelmäßige Lektüre zeitgenössischer Lyrik lasse die Lebenserwartungen sinken. An einer Interpretation der Daten würde gearbeitet……
Nach all den Ungereimtheiten ein Hinweis zum Nachhören und Nachsehen zum Schluss: Beim Culture Forum hat der ehemalige Direktor des Reijksmuseums Amsterdam Jan Willem Sieburgh ein kurzes Video mit dem Titel „haleluja 3000“ gezeigt, das ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.
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