Kultur und/oder Demokratie
Vor einigen Tagen war ich eingeladen, den Eröffnungsvortrag zur diesjährigen Literaturenquete zu halten, die sich diesmal dem Thema Vermittlung gewidmet hat. Unter dem Titel „Literatur und Gesellschaft – Enquete zur Literaturvermittlung in Österreich“ fanden sich die österreichischen Literaturhäuser zusammen, um sich über die Relevanz von Literatur in der Gesellschaft zu verständigen. Allein der Umstand, dass es in der diesjährigen Ausgabe ein eigenes Panel zum Thema „Jugend, Bildung und Schule“ gab, zeugt davon, dass auch im Literaturbetrieb der Gedanke der Vermittlung angekommen ist.
In meinen Überlegungen versuchte ich angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in Europa einen größeren historischen Bogen zu spannen. Ich habe mich dabei an die 1950er-Jahre zurückerinnert, als ich selbst in die Schule ging und hautnah die Auswirkungen einer restriktiven Kulturpolitik mitbekam. Diese hatte sich haltlos gegen alles „Ausländische“ gewandt und uns weismachen wollen, dass es für unsere Entwicklung schlecht sei, Jazz zu hören oder amerikanische Filme anzusehen. Auch neue Medien wie Comics waren damals verpönt und durften nur verstohlen unter den Schulbänken gelesen werden.
Über eine selbsternannte Elite, die darüber verfügte, was Kultur war und was nicht
Retrospektiv gesehen war es ein überwiegend im katholischen Austrofaschismus sozialisiertes Old-Boys-Network, das dem Staat die Aufgabe zuschrieb, zu dekretieren, was gute österreichische Kultur ist, um diese, wenn es sein musste, auch mit Zwang durchzusetzen. Richard Bamberger, langjähriger Chef des Buchclubs der Jugend, war Wegbereiter eines bis 1965 bestimmenden Gesetzes gegen Schmutz und Schund, um junge Menschen vor kulturellen Irrwegen abzuhalten. Der katholische Autor und Programmdirektor des Österreichischen Rundfunks Rudolf Henz oder der Gründer und langjährige Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Literatur Wolfgang Kraus – um nur einige wenige zu nennen – sorgten für die Durchsetzung einer kulturellen Hegemonie, an der alles, was sonst noch in der Welt passierte, abprallen sollte.
Erst heute wird mir so richtig bewusst, dass diese Form kultureller Unbedingheit auch vor dem Hintergrund eines noch ungesicherten demokratischen Systems zu lesen ist, dessen Stabilität für viele BürgerInnen eines sich nur mühsam „derappelnden“ Nachkriegsösterreichs noch keine Selbstverständlichkeit dargestellt hat. Wie bereits in der ausgehenden Monarchie, als die Teilnahme am Kulturbetrieb als Kompensation für die Verweigerung von politischen Mitwirkungsrechten herhalten musste, sollte offenbar auch nach 1945 das staatliche Hochhalten einer guten, weil österreichischen Kultur darüber hinwegtäuschen, dass Österreich nach mehreren Versuchen diktatorischer Herrschaft noch nicht so richtig in der Demokratie angekommen war. Das erschien umso plausibler, als wesentliche Teile dieses Old-Boys-Networks sich im Verlauf ihrer Karrieren mit anti-demokratischen Herrschaftsformen zu arrangieren wussten und sich in der Frage zwischen demokratischer Vielfalt oder kultureller Einfalt nur zu leicht für die, wenn notwendig auch autoritäre Durchsetzung ihrer kulturellen Dominanzansprüche entschieden haben.
Wir brauchen (wieder) eine durchaus radikale Kulturpolitik
Diese kulturpolitische Haltung sollte sich mit dem Antritt der sozialdemokratischen Alleinregierung 1971 ändern. Die 1970er-Jahre bedeuteten eine nachhaltige Veränderung des Verhältnisses zwischen dem Staat und dem Kulturbetrieb. Bruno Kreiskys Losung zugunsten einer „durchaus radikalen Kulturpolitik“ (Kreisky, Bruno (1977): Die Kultur soll die Welt verändern. Zeitdokumente 10, Wien) stand für einen liberalen Aufbruch, im Rahmen dessen auch bislang kategorisch ausgeschlossene KünstlerInnen eingeladen waren, „ein Stück des neuen politischen Weges“ mitzugehen, um so am gesellschaftlichen Reformprozess mitzuwirken.
Es ist dies die historische Phase des Ausbaus eines umfassenden Kunstfördersystems, das darauf angelegt war, möglichst viele KünstlerInnen zu erreichen. Und so entstand selbst bei kritischen KünstlerInnen die Vorstellung eines „guten Staates“, dessen Aufgabe es sei, für eine möglichst große Vielfalt des künstlerischen Schaffens zu sorgen, eine Zuschreibung, die zumindest in der älteren Generation in abgeschwächter Form bis heute anhält. Gut erinnere ich mich noch an die zum Teil heftigen Auseinandersetzungen zur politischen Bedeutung von Kunst bzw. von Literatur. Im Rahmen der Literaturenquete wurde immer wieder auf den legendären Literaturkongress von 1981 hingewiesen, in dem in Anwesenheit des bereits gezeichneten Regierungschefs Bruno Kreisky nochmals das Verhältnis von Politik und Literatur verhandelt wurde. Dieser Kongress – so meine Vermutung – markiert den Anfang einer wachsenden Entfremdung zwischen Kulturpolitik und Literatur, die in der Zusammenlegung der Kunst- und der Kultursektion zu Beginn des Jahres 2015 seinen letzten Ausdruck gefunden hat. (Dass diese Zusammenlegung von der FPÖ in besonderer Weise begrüßt worden ist sei an dieser Stelle nur angemerkt).
Funktioniert hat dieser massive Ausbau der staatlichen Kunstförderungspraxis auf der Basis einer weitgehenden Konsolidierung des demokratischen Systems. Es hielt ganz offensichtlich in einem durch und durch katholisch-konservativ geprägten Land der Bewährungsprobe der sozialdemokratischen Regierungsübernahme stand, ohne die bewährten Instrumente der Konfliktaustragung im Rahmen der Sozialpartnerschaft noch einmal grundsätzlich in Frage zu stellen. Auf der Grundlage einer solchen demokratischen Konsolidierung sollte den KünstlerInnen die Aufgabe zukommen, die liberale Weiterentwicklung der österreichischen Gesellschaft zu gewährleisten, die sich mit der Förderung auch von kritischen ZeitgenossInnen als eine offene Gesellschaft empfehlen wollte.
Die Rechtspopulisten auf dem Weg der Wiedererringung der kulturellen Hegemonie
Lange Zeit erschien die liberale Weiterentwicklung des Landes als ein unumkehrbarer Prozess, an dem auch das Wiedererstarken der nationalistischen Kräfte innerhalb der FPÖ ab 1986 vorerst nur wenig zu ändern vermochte. Heute wissen wir, dass wir uns getäuscht haben, wenn eben diese Kräfte drauf und dran sind, direkt und indirekt (in dem sich die Regierungsparteien darin zu übertrumpfen trachten, die FPÖ-Losungen zu übernehmen) die liberalen Errungenschaften der letzten 30 Jahre einem Neoautoritarismus zu opfern, der zunehmend hegemoniale Ansprüche stellt.
Beispielhaft für die europäische rechte Szene zitiere ich aus dem Parteiprogramm der deutschen Partei AfD: „Die Ideologie des Multikulturalismus, die importierte Strömungen auf geschichtsblinde Weise der einheimischen Kultur gleichstellt und deren Werte damit zutiefst relativiert, betrachtet die AfD als ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als soziale Einheit. Ihr gegenüber müssen der Staat und die Zivilgesellschaft die deutsche kulturelle Identität als Leitkultur selbstbewusst verteidigen.“ Und ich fühle mich unmittelbar erinnert an die guten alten Zeiten der 1950er-Jahre, als die führenden Kulturpolitiker (Frauen gab es damals noch nicht im kulturpolitischen Geschäft) gemeint haben, alles abwehren zu müssen, was von außen kommt (und bei der Gelegenheit gleich auch alles, was sie im Inneren als Ausdruck einer degenerierten Lebensweise zu denunzieren vermocht haben).
Die wesentlichen Unterschiede zu den 1950er-Jahren bestehen nicht nur in einer bislang unbekannten Vielfalt des künstlerischen Schaffens, dem der Wahlkämpfer Gerd Wilders in den Niederlanden (einem vormaligen liberalen Aushängeschild Europas) zusammen mit der Aufhebung der Religionsfreiheit drauf und dran ist die staatliche Förderung zu entziehen. Sie bestehen auch in einem historisch einmaligen Wandel der demografischen und damit ethnisch-religiösen Zusammensetzung der europäischen Gesellschaften, die mit den grassierenden Tendenzen der Renationalisierung zur Disposition stehen.
Es braucht an dieser Stelle nicht im Detail wiederholt werden, dass die seit 2008 schwelenden ökonomischen und damit finanzpolitischen Krisenerscheinungen den Reformoptimismus der europäischen Gesellschaften nachhaltig negativ beeinflusst haben. Umso wichtiger ist es, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es deren Konsequenzen waren, die zu einer nachhaltigen sozialen Verungleichung der europäischen Gesellschaften geführt haben, die heute immer mehr Menschen ins soziale Abseits (und damit in die Fänge rechtspopulistischer Blender treibt). Nur so ist erklärbar, warum dieselben MigrantInnen mit ihren jeweiligen kulturellen Besonderheiten, die in den 1970er und 1980er-Jahre weitgehend friktionsfrei den Rand der europäischen Gesellschaften bevölkert haben, nunmehr als vermeintlich Hauptschuldige der aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen ins Visier populistischer AgitarorInnen geraten.
Auffallend erscheint mir, dass die Erneuerung des Anspruchs auf kulturelle Hegemonie eines rechten Lagers (eine Entwicklung, deren Tragweite die Kulturpolitik der Regierung bislang nicht einmal in Ansätzen antizipiert hat) auf verhängnisvolle Weise einhergeht mit einer grassierenden Demokratiemüdigkeit, die immer mehr und dabei nicht nur KrisenverliererInnen umfasst, welche die Wiedererrichtung autoritärer Herrschaftsformen wenn schon nicht als erstrebenswert so doch als in Kauf zu nehmen erscheinen lässt.
Damit haben wir es unversehens mit einer Wiederauflage der Verhältnisse der 1950er-Jahre zu tun, in denen sich allgemeine Demokratieskepsis mit konservativer Kulturdominanz gepaart haben, während KünstlerInnen ebenso wie Nicht-KünstlerInnen, denen eine auf Vielfalt gerichtete liberale Verfasstheit ein Anliegen ist, sukzessive an den Rand gedrängt werden.
Literatur und Politik haben sich zurzeit nichts zu sagen
In Bezug auf die jüngste Literaturenquete zeigte sich schmerzhaft, dass sich Politik und Literatur heute kaum mehr etwas zu sagen haben. So beschränkte sich der neu ins Amt gekommene Kunstminister Thomas Drozda auf die Vermittlung einiger weniger Worthülsen, die unmittelbar deutlich machten, dass er gegenüber den VertreterInnen der Literaturszene keinerlei kulturpolitische Ansprüche mehr zu äußern vermag. Aber auch die anwesenden AutorInnen und VerlegerInnen erwiesen sich in der nachfolgenden Podiumsdiskussion weitgehend orientierungslos, wenn es darum ging, noch einmal die ihnen wichtige Themen für ein (kultur-)politisches Gespräch zu benennen oder gar Forderungen an die Politik zu richten (von denen sie aus mittlerweile langjähriger Erfahrung ohnehin wissen, dass sie wirkungslos bleiben). Quintessenz der Autorin Margit Schreiner: „Es soll so bleiben wie es ist.“ Nachsatz des langjährigen Leiters der IG Autorinnen Autoren: „Die reden schon lange nicht mehr mit uns“.
Dem Gefühl des allgemeinen Niedergangs widerstehen
Wenn die Kulturphilosophin Isolde Charim in ihrem aktuellen Kommentar in der Wiener Zeitung von dem grassierenden Gefühl erzählt, alles liege im Argen, dann möchte ich dem gerne meine Erfahrung aus der Enquete entgegen halten, wonach es im Bereich der Literaturvermittlung noch nie so viele und so unterschiedliche Aktivitäten gegeben hat wie heute. Ja, die AutorInnen klagen ungebrochen von ihren zum Teil beschämenden Arbeitsbedingungen. Und doch gab die Veranstaltung einen beredten Einblick in die große Vielfalt, in der heute Literatur (in Festivals, Lesungen, Ausstellungen, Schulaktivitäten und vielen anderen Events) in der österreichischen Gesellschaft verhandelt wird. Und sie machte deutlich, dass all diese Aktivitäten weitgehend beziehungslos an der staatlichen Kulturpolitik vorbeigehen. Deren VertreterInnen ist ganz offensichtlich die Tragweite des aktuellen kulturpolitischen Paradigmenwechsels nicht bewusst; entsprechend sind sie nicht in der Lage, die erreichte Vielfalt für eine mögliche Vorwärtsstrategie im Kampf um die Aufrechterhaltung eines liberalen kulturellen Klimas zu nutzen.
Viel steht auf dem Spiel
Ganz ähnlich ging es mir beim jüngsten Österreichischen Museumstag, der dieses Jahr in Eisenstadt stattgefunden hat und mir die Möglichkeit gab, zu den demografischen Herausforderungen, denen kulturelle Einrichtungen im Bemühen um Aufrechterhaltung ihrer gesellschaftlichen Relevanz gegenüberstehen, zu sprechen.
Auch hier berichteten die VertreterInnen vor allem kleinerer Museen von einer Vielzahl an Aktivitäten, die allesamt die Absicht haben, die in den letzten Jahren politisch errichteten Grenzziehungen zwischen unterschiedlichen sozialen (und damit auch ethnischen) Gruppen abzubauen. Es zeigte sich eindrucksvoll, dass zumindest Teile der Kulturszene die Zeichen der Zeit erkannt haben, wenn es darum geht, die Errungenschaften der Demokratie auch mit kulturellen Mitteln zu verteidigen. Nun wäre es höchste Zeit, dass staatliche Kulturpolitik damit beginnen würde, diesem Beispiel zu folgen. In Abwandlung einer Aussage von Norbert Hofer: Es steht mehr auf dem Spiel, als wir uns (noch) vorzustellen vermögen.
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