Kulturelle Bildung in einem Emerging State
„Möchtest du an einem Projekt mitwirken, das sich um kulturelle Bildung im Kosovo bemüht?” – Diese überraschende Anfrage kam vor einigen Wochen von unserer langjährigen Partnerorganisation interarts mit Sitz in Barcelona, die seitens der EU mit der Durchführung von „Culture for All“ beauftragt ist.
Bereits kurz nach meiner Zusage saß ich im Flugzeug in die Hauptstadt Priština, um einen Workshop mit VertreterInnen des Kulturministeriums und des Kulturbetriebs zu leiten und an einer regionalen Ministerkonferenz teilzunehmen. Spätestens bei den Vorbereitungen wurde mir bewusst, wie gering meine Kenntnisse über diesen „Emerging State“ waren und wie dankbar ich sein konnte, mit diesem Teil Europas engere Bekanntschaft schließen zu können.
Die Republik Kosovo ist durch den Kosovokrieg von 1999 und dessen Folgen geprägt. Erst 2008 hat der junge Staat seine Unabhängigkeit erklärt, nachdem er nach dem Krieg unter die Verwaltungshoheit der Vereinten Nationen gestellt war. Der Nachbarstaat Serbien behandelt das Land formal noch immer als eine seiner autonomen Provinzen. Bislang haben 110 der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen die Republik Kosovo anerkannt. Die Europäische Union ist in vielfältiger Weise präsent (der Euro gilt als alleiniges Zahlungsmittel), auch wenn die Hoffnungen auf eine baldige Mitgliedschaft weitgehend verflogen sind und spürbar ist, dass „die EU im Moment andere Sorgen hat“ als den Ländern des Westbalkan eine solide staatliche Grundlage zu schaffen.
Der Kosovo ist ein kleines Land mit rund 1,8 Millionen EinwohnerInnen, von denen mit mehr als 80% AlbanerInnen die große Mehrheit bilden. 50% der Bevölkerung ist unter 25 Jahre alt, die Arbeitslosigkeit ist hoch, ebenso die organisierte Kriminalität, die mit dem Drogenhandel groß geworden ist. All das nimmt man bei einem Spaziergang auf dem Mutter-Teresa-Boulevard, der einzigen Fußgängerpassage im Zentrum Prištinas, nicht wahr. Allgegenwärtig sind hier junge Menschen, die mit ihrer modischen Offenheit und Freundlichkeit alle negativen Vorurteile zu islamisch geprägten Gesellschaften über den Haufen werfen. Ansonsten hat die Stadt wenig an gesellschaftlichen Treffpunkten zu bieten. Viele neue Gebäude sind Baustellen, während alte verfallen, vor allem solche von aus Serbien stammenden KosovarInnen, die nach dem Krieg nicht mehr zurückgekehrt sind.
In ihrer architektonischen Durchschnittlichkeit bildet Priština einen großen Gegensatz zu Skopje, der Hauptstadt des Nachbarstaates Mazedonien. Dort prägen einige Großbauten das Stadtbild, die im Stil des Faux-Baroque behübscht worden sind, um zur national-kulturellen Identitätsstiftung beizutragen, aber auch zu heftigen politischen Auseinandersetzungen führen.
Eine Ausnahme bildet die Kosovarische National- und Universitätsbibliothek in Priština. Diese wurde aber bereits in den frühen 1980er Jahren nach Plänen des jugoslawischen Architekten Andrija Mutnjakovi? errichtet. Ihr ästhetisches Erscheinungsbild polarisiert bis heute, wenn die britische Tageszeitung Daily Telegraph das Bauwerk zum dritthässlichsten Gebäude der Welt erklärt hat. (Die Menschenleere im Inneren suggeriert, dass man sich in Priština für den Buchbestand der Bibliothek nicht wirklich zu interessieren scheint.)
Kulturpolitik hat einen hohen politischen Stellenwert
Gerade dort sollte meine Arbeit im Rahmen eines Workshops mit VertreterInnen des Kulturministeriums und der Kultureinrichtungen beginnen. Ich war sehr gespannt, was mich erwarten würde; immerhin fand ich es sehr bemerkenswert, dass eine Regierung, die voll mit grundlegenden Problemen bei der Implementierung funktionierender staatlicher Strukturen beschäftigt ist, sich dazu entschlossen hat, der Kulturpolitik einen hohen Stellenwert einzuräumen. Ermutigt wurde sie in ihren Entschlüssen sicherlich durch einen wesentlichen Mitteleinsatz der Europäischen Kommission, die sich im Rahmen von „Culture for All“ dazu bereit erklärt hat, die Konzeption und Umsetzung einer Kulturstrategie zu begleiten. Dass dabei auch dem Bereich der kulturellen Bildung ein hoher Stellenwert eingeräumt werden sollte, macht dieses Vorhaben zu einem europäischen Sonderfall.
Die Diskussion im Workshop war vor allem zu Beginn von nostalgischen Rückschauen bestimmt, die von beträchtlichen Zerstörungen im Bereich der kulturellen Infrastruktur berichteten, die bis heute nicht wieder gut gemacht werden konnten. Konkret bedeutet dies, dass selbst die Beschäftigten von nationalen Institutionen unter sehr schwierigen Bedingungen arbeiten müssen. (Ich konnte Proben des Nationalballetts in einem kleinen dunklen Kellerraum besuchen. Sie wurden während meines Aufenthaltes von Mitgliedern des Ensembles von De Keersmaeker gecoacht, die mit Mitteln von „Culture for All“ eingeflogen wurden.) Unter ganz besonders schwierigen Bedingungen operiert offenbar der freie Bereich („independent sector“). Bis auf wenige Ausnahmen ist er nicht öffentlich gefördert und weitgehend vom Engagement ausländischer Partner wie Stiftungen, Botschaften oder international tätigen Unternehmen abhängig. Er hat bislang in den strategischen kulturpolitischen Überlegungen keine Stimme und erweist sich zurzeit auch noch zu schwach und zu zersplittert, um gegenüber den öffentlichen Stellen gemeinschaftlich aufzutreten. Aber auch das Publikumsinteresse ist zurückgegangen, wenn nun klassische Musikangebote, die während meines Aufenthaltes im einzigen 5-Sterne-Hotel stattfanden, kostenlos angeboten werden, weil sie – wie die Verantwortlichen vermuten – sonst erst gar niemand besuchen würde.
Auch im Kosovo reden Kultur- und Bildungszuständige nicht miteinander
Bei manchen Problemlagen zeigten sich aber bald auch Ähnlichkeiten zu anderen Ländern, etwa wenn die WorkshopteilnehmerInnen (vorrangig aus der Kulturverwaltung) darüber klagten, dass sich das Bildungsministerium und mit ihm die Schulen nicht für kulturelle Bildung interessieren und so auch an ressortübergreifenden strategischen Überlegungen nicht teilnehmen würden. Über die Gründe kann derzeit nur spekuliert werden; zumindest einer mag aber darin liegen, dass das Kultur- und Bildungsressort von VertreterInnen unterschiedlicher Parteien geleitet werden. Diese sind zwar in einer Koalition verbunden, versuchen sich aber politisch in diesen beiden Kernkompetenzen gegeneinander zu profilieren – ein Umstand, der auch in Österreich bekannt ist.
Auch der Mangel klarer kulturpolitischer Auftragsverhältnisse zur Schwerpunktsetzung kultureller Bildungsmaßnahmen wurde neben dem Umstand, dass die öffentliche Förderpraxis bislang sehr intransparent erfolgt, von den TeilnehmerInnen ins Treffen geführt. (Die Rede war unter anderem von korrupten Praktiken, in deren Rahmen erfolgreiche FörderwerberInnen 10 – 15% der Fördersumme an die zuständigen BeamtInnen abzuführen hätten, die auf diese Weise ihre sehr bescheidenen Gehälter aufbessern würden.)
Im Rahmen des Workshops konnte immerhin eine Reihe von konkreten Vorschlägen zur Verbesserung der Bedingungen für kulturelle Bildung entwickelt werden. Diese reichen von Maßnahmen der Curriculumentwicklung samt entsprechender Qualifikationsmaßnahmen über die Klärung von Zuständigkeiten, der Einrichtung ressortübergreifender Arbeitsgruppen, der Formalisierung von Auftragsverhältnissen zwischen Ministerium und Kultureinrichtungen oder der Verbesserung der Kommunikation und des gegenseitigen Informations- und Erfahrungsaustausches bis hin zu begleitender Erforschung beispielhafter Projekte und der Ermöglichung internationaler Zusammenarbeit.
Ein starkes politisches Statement zugunsten kultureller Bildung
Die unmittelbar nach dem Workshop stattfindende regionale Konferenz wurde sowohl vom Kulturminister (und stellvertretendem Regierungschef) als auch vom Bildungsminister eröffnet. Beide fanden starke Argumente zur Bedeutung von kultureller Bildung für den längst überfälligen gesellschaftlichen Wandel. Sie mochten sich dabei freilich nicht auf ein traditionelles Kulturangebot (und seiner Vermittlung) beschränken, sondern stellten vielfache Bezüge zu den künftigen Qualifikationserfordernissen auf dem Arbeitsmarkt und dem damit notwendig gewordenen kulturellen Kompetenzerwerb her. Vor allem seitens des Bildungsministers wurde auch die Notwendigkeit zur Implementierung einer neuen Lehr- und Lernkultur eingebracht, um so zu einer Schulentwicklung beizutragen, die zur Zeit noch von sehr traditionellen Unterrichtsformen geprägt wird. (Informell wurde immerhin auf die große Abhängigkeit von LehrerInnen von ihren SchulleiterInnen verwiesen, die ihre pädagogischen Freiräume weitgehend einschränken würden. Junge LehrerInnen würden mehrere Monatsgehälter an DirektorInnen zahlen, um überhaupt eine Beschäftigung zu finden.)
In den darauf folgenden Präsentationen wurde nochmals das große Bedürfnis, sich des eigenen kulturellen Erbes zu versichern, deutlich. Offenbar ist auch im Fall des Kosovo die Versuchung groß, die Bedeutung der eigenen Staatlichkeit mit Versatzstücken des kulturellen Erbes zu erhöhen. Zugleich wurde damit die traditionell enge Verbindung mit Albanien deutlich, ohne dass dies – jedenfalls zur Zeit – zu einer signifikanten Anschlussdebatte führen würde.
Weitgehend unklar erscheint auch das Verhältnis der zentralen zur lokalen Verwaltung im Bereich der Kultur. Insgesamt wird die kulturelle Infrastruktur außerhalb der wenigen städtischen Zentren als sehr bescheiden eingeschätzt und es bestehe wenig Hoffnung, dass sich dieser Umstand in absehbarer Zeit ändern würde.
Eine Reihe von Pilotprojekten weist den Weg
Umso beeindruckender war der Bericht eines Spitzenbeamten aus dem Kulturministerium, der vom Projekt „Closer to the Children“ berichtete. Dieses wurde unmittelbar nach den Kriegswirren in den frühen 2000er Jahren durchgeführt. Damals hatte sich eine Reihe junger KünstlerInnen unterschiedlicher Disziplinen zusammengetan, um ein geländegängiges Fahrzeug zu adaptieren. Damit fuhren sie in entlegene Dörfer, um dort mit kriegstraumatisierten Kindern künstlerische Projekte zu realisieren.
Sichtlich bewegt von der eigenen Erzählung machte er deutlich, welch nachhaltig positive Effekte dieses abenteuerliche Vorhaben gezeitigt hat. Als ich ihn aber fragte, ob dies nicht ein geeignetes Modell wäre, um auch heute mit Hilfe mobiler Angebote dem Mangel an kultureller Infrastruktur zu begegnen, verneinte er dies strikt mit der doch aus dem Mund eines Kulturbeamten seltsamen Unterstellung, KünstlerInnen seien nicht mehr dazu bereit, sich solchen Strapazen auszusetzen, sondern sie würden heute nur mehr rasches Geld verdienen wollen.
Zurzeit gibt es im Kosovo vorsichtige Bemühungen, z.B. der National Galerie, enger mit Schulklassen zusammen zu arbeiten und sukzessive ein professionelles museumspädagogisches Angebot zu entwickeln. Das mittlerweile weit über die Grenzen des Kosovo anerkannte Dokumentarfilmfestival DokuFest hat sich ebenso im Rahmen seines DokuLabs „Promoting Democratic Values and Human Rights through Film“ in besonderer Weise um die Zusammenarbeit mit Kindern und jungen Menschen bemüht, die eingeladen sind, zu sensiblen gesellschaftlichen Fragen selbst Beiträge beizusteuern. Auch in diesem Fall bleibt das Kulturministerium bislang außen vor, entsprechend ist dieses Angebot wesentlich von Fördermitteln aus dem Ausland abhängig.
Es ist dies nur ein Beleg für die aktuellen Bemühungen – vor allem im freien Bereich –, Kinder und junge Menschen für künstlerische Phänomene zu interessieren und sie zu eigenem künstlerischem Tun anzuregen. Ein anderer ist das Qendra Multimedia Theater, das bereits seit 2002 tätig ist und durchaus in der Tradition von Theaterprojekten wie dem legendären Theater Rote Grütze versucht, relevante Themenstellungen in kindgerechter Weise auf die Bühne zu bringen. Projekte wie die albanisch-serbische Koproduktion „Der längste Winter“, die im Krieg vermisste Menschen thematisiert, zeugen von der gesellschaftspolitischen Brisanz, deren theatrale Umsetzung auch internationale Anerkennung gefunden hat.
Exemplarisch für das bisher schwache staatliche Engagement einerseits und den unverdrossenen privaten Einsatz steht auch LUMBARDHI. Es handelt sich dabei um ein altes Kino in Prizren, der zweitgrößten Stadt des Landes, das als jugoslawischer Restbestand öffentlichen Eigentums nach Jahren des Verfalls privatisiert und zu einer Shopping Mall umgebaut werden sollte. Mit Hilfe einer informellen Gruppe von NGOs gelang es, das Haus unter Denkmalschutz zu stellen und damit der privaten Verwertung zu entziehen. Nun gilt es – wiederum in erster Linie mit Hilfe privater UnterstützerInnen vor allem aus dem Ausland –, die notwendigen Mittel aufzustellen, um das Haus wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zuzuführen. Schon jetzt finden in einem Open-Air-Bereich kulturelle Bildungsaktivitäten statt, die sich u.a. der „Entmilitarisierung“ der Gesellschaft widmen.
Mit diesen wenigen Beobachtungen bin ich erst am Beginn meiner Entdeckungsreise. Weitere Besuche werden folgen und hoffentlich bis in den Herbst zur Ausarbeitung eines Handlungskataloges führen. Vielleicht noch wichtiger sind schon jetzt die vielfältigen Begegnungen und die damit verbundenen Diskussionen um das Ergreifen von Möglichkeiten in einer schwierigen Situation, die freilich den Vorteil hat, dass Veränderungen zum Besseren eine Chance haben, wenn man sich nur intensiv genug für ihre Realisierung engagiert.
LETZTE BEITRÄGE
- Hilfe, die Retter nahen
- Kunst, Kultur und Grenzen – Warum Grenzen für ein lebendiges Zusammenleben notwendig sind
- Alles neu macht der Mai – Eine andere Zukunft des Kulturbetriebs ist möglich
- Hype um Chat GPT
- Die Autonomie der Kunst
- Liberale Bürgerlichkeit, hedonistische Massendemokratie oder antidemokratischer Autoritarismus
- Dürfen die das?
- Kulturpolitik in Zeiten des Krieges
- „Das Einzige, was uns zur Zeit hilft, das sind Waffen und Munition“
- Stehen wir am Beginn eines partizipativen Zeitalters? (Miessen)