Kulturelle Bildung in Zeiten des Kampfes gegen eine etablierte Mitte
Dieser Text entstand unter Schock. Soeben wurde der Ausgang des britischen Referendums bekannt gegeben, der davon erzählt, dass eine Mehrheit der Bevölkerung die Europäische Union verlassen will. Dies bedeutet die größte Veränderung im Zusammenleben in Europa seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, deren Folgen heute in keiner Weise abgeschätzt werden können. In jedem Fall aber ist es eine schallende Ohrfeige für ein Eliteprojekt, das sich als weitgehend unfähig erwiesen hat, die zentralen Probleme der nationalen Bevölkerungen zu lösen. Ihre EntscheidungsträgerInnen haben die Verelendung ganzer Länder, verbunden mit Arbeitslosigkeit und damit auch Perspektivlosigkeit vor allem der jungen Menschen in Kauf genommen und sich auch angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise als weitgehend handlungsunfähig erwiesen. Als demokratiepolitische Ruine wurde dem Konstrukt Europäische Union nunmehr von einer Mehrheit der frustrierten britischen Bevölkerung in direkter Abstimmung eine Absage erteilt, wissend, dass sie damit wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen, aber in der Hoffnung, damit politische Souveränität zurückzugewinnen.
Was hat das mit kultureller Bildung zu tun, werden Sie fragen. Sehr viel, möchte ich antworten und ihnen in einer kurzen historischen Vergleichsskizze – vor allem aus österreichischer Sicht – Gründe dafür anführen.
Ich beschäftige mich seit den 1970er Jahren mit Fragen der Kulturpolitik und damit der kulturellen Bildung. Zum damaligen Zeitpunkt wurde die politische Idee geboren, früher oder später weite Teile der Bevölkerung in ein Mittelstandsmilieu aufgehen zu lassen. Die Regierenden – so die politische Botschaft – würden im Rahmen einer umfassenden Reformagenda dafür Sorge tragen, die Aufstiegschancen bislang Benachteiligter signifikant zu erhöhen und damit bestehende Klassenschranken zu überwinden.
Die Leitfigur des bürgerlichen Zeitalters wird zu Grabe getragen
Als Leitfigur dafür galt der Bildungsbürger, der nicht nur die politische Souveränität verkörpern, sondern darüber hinaus mit kulturellem Kapital ausgestattet werden sollte, um seine Identität in der Mitte der Gesellschaft zu vertiefen. Der damals amtierende Bildungs- und Kunstminister Fred Sinowatz sprach von einer „Kulturpolitik als Fortsetzung“ von Sozialpolitik, um deutlich zu machen, dass die politischen Maßnahmen der damals regierenden Sozialdemokratie nicht nur auf eine Umverteilung materieller, sondern auch ideeller und damit kultureller Mittel hinauslaufen sollten.
Dazu sollte wesentlich kulturelle Bildung – die damals freilich noch nicht so geheißen hat – beitragen. Ihre Angebote sollten vor allem jungen Menschen den Zutritt in die Mitte der Gesellschaft erleichtern und sie mit dem dafür notwendigen Wissen bzw. Erfahrungen ausstatten.
Im Zentrum der politischen Konzepte standen also die kulturell gebildeten BürgerInnen, welche die Mitte der Gesellschaft repräsentierten und für alle Mitglieder der Gesellschaft als handlungsleitende Referenzfiguren in Stellung gebracht wurden. Diesen Anspruch mit Inhalt zu versehen, wurde als zentrale Aufgabe der Kunst- und Kultureinrichtungen gesehen, deren Vermittlungsbemühungen darauf gerichtet waren, neben einer bürgerlichen Stammklientel zunehmend auch bislang abseits Stehende für die Sache der Kunst und Kultur zu interessieren und daran die Hoffnung zu knüpfen, sie könnten damit ihr soziales Standing verbessern.
Die damit verbundenen kulturpolitischen Maßnahmen waren eingebettet in einen gesamtgesellschaftlichen Anspruch auf politische Teilhabe ebenso wie auf soziale Gerechtigkeit. Es galt insbesondere die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der arbeitenden Menschen zu verbessern und sie als willkommene Mitglieder eines von gemeinsamen Wertvorstellungen getragenen Mittelstandes zu nobilitieren.
Ja, es gab auch damals schon eine Minderheitenposition, die den bourgeoisen Charakter des Kulturbetriebes angeprangert und stattdessen Zweifel an ihrer Bereitschaft zur Teilnahme an einem Programm der umfassenden Vermittelständigung der Gesellschaft geübt hat. Ihre ExponentInnen setzten auf eine „eigene“ Kultur vor allem derer, die vom allgemeinen Aufstiegssog nicht erfasst waren. Es galt, ihr kritisches Bewusstsein mit kulturellen Mitteln zu stimulieren, um gegen die bestehenden sozialen Differenzen nachhaltig anzukämpfen. Den VertreterInnen einer solchen „Gegenkultur“ waren die traditionellen Kultureinrichtungen Ausdruck eines bourgeoisen Suprematieanspruchs, den es zu brechen galt. Entsprechend setzten sie sich für eine frühe Form der kulturellen Vielfalt ein, die ihre TrägerInnen in die Lage versetzen sollten, gegen die herrschenden ungerechten, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse anzukämpfen. Kunst und Leben sollten dabei eine neue Allianz eingehen, sodass sich Maßnahmen der kulturellen Bildung – die als missionarisch für die herrschenden Verhältnisse werbend denunziert wurden – weitgehend erübrigen würden.
Wenn heute ungebrochen 90% der staatlichen Mittel der Kulturförderung in Österreich an einige wenige Einrichtungen gehen, während freie Initiativen mit Brosamen abgespeist werden, lässt sich das Scheitern dieser Alternative unschwer ablesen.
Kulturpolitik ist dabei, ihre mittelständisch geprägte Trägerschaft zu verlieren – die hat andere Sorgen
40 Jahre später, so meine These, haben sich die Verhältnisse grundlegend gewandelt. Das die letzten Jahrzehnte politisch bestimmende Mittelstandsprojekt befindet sich in einer tiefen Krise. Auch wenn die empirisch erhobenen Zahlen über den aktuellen Zustand der gesellschaftlichen Mitte auseinander gehen, so lässt sich die Verunsicherung in diesem Milieu deutlich festmachen. Jeder kämpft gegen jeden; dem Verlierer droht der soziale Abstieg; der bislang verlässliche Leistungsgedanke scheint weitgehend desavouiert und durch den Primat des Erfolgs abgelöst. Seine Funktion als natürlicher Träger des Kulturbetriebs verblasst.
Zu diesem tendenziellen Niedergang eines bislang hegemonialen Mittelstandes gehört auch, dass das politische Versprechen an sozial benachteiligte Gruppen, den Aufstieg zu schaffen, nachhaltig an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Immer weniger sozial benachteiligte junge Menschen glauben an das große Aufstiegsversprechen und richten sich – selbst wenn sie hoch und höchstqualifiziert sind – auf prekäre Lebensverhältnisse ein. Allein der Umstand, dass mehr als 30% der jungen Menschen in Österreich mittlerweile die Schule verlassen, ohne sinnstiftend lesen zu können, ohne dies als einen existenziellen Verlust wahrzunehmen, verbannt die Leitfigur des Bildungsbürgers in die Mottenkiste der Geschichte.
Stattdessen zeichnet sich eine, auch wissenschaftlich kaum mehr beschreibbare Vervielfältigung der sozialen Milieus ab, die zum Teil ganz unterschiedliche Wertvorstellungen leben und sich darüber hinaus ganz unterschiedlicher kultureller Ausdrucksformen bedienen. Was sie eint, ist nicht mehr die Hoffnung auf eine gemeinsame „bessere Gesellschaft“, sondern eher schon der Hass auf eine überkommene mittelstandsbasierte Elite, die es geschafft hat, sich ihre Pfründe rücksichtslos zu sichern, ohne dazu bereit zu sein, den Rest der Gesellschaft daran zu beteiligen. So kann die Entscheidung pro „Brexit“ auch als eine Antwort der vielen Desillusionierten auf die Vorherrschaft einer auf Macht- und Privilegien versessenen Elite gelesen werden, deren gesellschaftliches Engagement sich darin erschöpft, etwas zu versprechen, was sie aber nicht denkt, einzulösen. Ihnen galt es, eine Absage zu erteilen. Fast könnte man sagen: Koste es, was es wolle.
Kulturpolitik hat bislang auf die wachsende Delegitimierung des Mittelstandes mit Konzepten der kulturellen Vielfalt geantwortet. Ursprünglich aus der Diskussion zur globalen kulturellen Ungleichheit erwachsen, gewann sie zuletzt auch in den europäischen Gesellschaften zunehmend an Bedeutung, die ebenfalls durch wachsende soziale Ungleichheit gekennzeichnet sind. Das Problem der Umsetzung lag bislang vor allem im Umstand, dass das politische Projekt, das einem Anspruch auf Vielgestaltigkeit der – je nach sozialer Trägerschaft divergierenden – kulturellen Ausdrucksformen zum Durchbruch verhelfen hätte können, weitgehend abhandengekommen ist.
Kulturelle Bildung in Zeiten fundamentaler gesellschaftlicher Umbrüche
Immerhin paaren sich zurzeit „post-zentristische“ mit „post-politischen“ Verhältnissen, die den Menschen die weitgehende Alternativlosigkeit eines globalen ökonomischen Regimes suggerieren, in dem es scheinbar nichts mehr zu wählen gibt. In den Analysen von Soziologen wie Colin Crouch hat eine internationale Wirtschafts- und Finanzindustrie das politische Heft in die Hand genommen, während die verbliebenen politischen Eliten auf die Funktion des Erfüllungsgehilfen reduziert sind. Sie beschränken sich in ihrem Handeln zunehmend auf die Hoffnung, damit zumindest die eigene privilegierte Stellung erhalten zu können, während wachsende Teile der Gesellschaft um ihre politischen Ansprüche betrogen werden und dann auch noch als vermeintlich politisch Desinteressierte stigmatisiert werden. Mit einer solchen Politik ist ganz offensichtlich kein Staat (mehr) zu machen.
Als Ergebnis werden vorerst post-demokratische Verhältnisse offensichtlich, so wie sie auch in der derzeitigen Konstruktion der Europäischen Union exemplarisch zum Ausdruck kommen (und wofür ihre BefürworterInnen soeben die Rechnung erhalten haben). Spätestens mit dem Aufkommen rechtspopulistischer Bewegungen in den meisten europäischen Ländern, die – wie in Ungarn, Polen und zuletzt in Österreich – mittlerweile das Potential haben, Mehrheiten der nationalen Bevölkerungen hinter sich zu versammeln, zeigen sich die tiefgehenden Verletzungen demokratischer Prinzipien in der EU. Die einzig verbleibende mögliche Reaktion vor allem derer, die sich aus welchen Gründen auch immer benachteiligt fühlen und denen seitens der EU auf immer neue Weise mitgeteilt wird, dass für sie die Prinzipien der politischen und bürgerlichen Gleichheit nicht (mehr) gelten, scheint der Rückzug auf eine überkommene Nationalstaatlichkeit zu sein. Diese ist zwar objektiv immer weniger in der Lage, die anstehenden transnationalen Probleme zu lösen, lässt aber im aggressiven Kampf gegen die EU-affinen Eliten noch einmal das Gefühl der kollektiven Mächtigkeit aufkommen.
In der Weigerung nachhaltiger struktureller Veränderungen in der politischen Konstruktion steuern die Verantwortlichen der EU den Kontinent sehenden Auges in den Untergang und reißen dabei eine gesellschaftliche Mitte mit. Ulrike Guérot hat in ihrem Beitrag in den Blättern für deutsche und internationale Politik „Das Versagen der politischen Mitte“ überzeugend nachgewiesen. Es sei vor allem die Weigerung bzw. Unfähigkeit der europäischen Eliten, die EU in Richtung einer transnationalen Demokratie weiter zu entwickeln, die den Hass derer, die sich öffentlich nicht mehr artikulieren können, gegen ein sich alternativlos gerierendes Establishment anstacheln würde. Dieses würde sich angesichts der Antimigrationsfratze zwar in moralische Überheblichkeit flüchten, an den anti-demokratischen Verhältnissen aber nichts ändern.
Das Ergebnis ist eine wachsende Kluft zwischen einer schrumpfenden, verunsicherten, aber den Status quo zu ihren Gunsten aufrechterhalten wollenden Mittelschicht und dem wachsenden Rest der Gesellschaft, dem fast alles andere lieber ist als die Fortsetzung der herrschenden Alternativlosigkeit, die sie als gegen sich gerichtet empfindet.
Eine Kulturpolitik, der ihr politisches Projekt abhandengekommen ist, vermag diesen Gegensatz immer weniger überzeugend zu überbrücken. Auf der einen Seite sind die verbliebenen am Mittelstand orientierten VertreterInnen einer Aufrechterhaltung kultureller Vielfalt (samt den damit implizit verbundenen politischen Konsequenzen). Diese sind zwar bereit, diese Vielfalt (in ihren Kreisen) auch zu leben und als eine Bereicherung zu erfahren; zugleich scheinen sie den Bezug zu den Lebenswelten sozial Benachteiligter weitgehend verloren zu haben. Diese wiederum bleiben den rechten kulturpolitischen Parolen weitgehend ausgeliefert.
Auf der anderen Seite stehen die aggressiven ExponentInnen eines Programms zur Wiederherstellung einer homogenen nationalen Kultur (als deren Gralshüter sich die jeweilige nationale rechtspopulistische Elite in Szene setzt), mit dem sie ihrer Wählerschaft versprechen, es vor weiterer Überfremdung zu schützen. Die aktuellen Flüchtlingsbewegungen bieten hierfür eine ideale Projektionsfläche. Im Kampf gegen die Political Correctness eines bürgerlichen Diskurses stimulieren sie ein Klima wachsender Radikalisierung (vor allem in den sozialen Netzwerken); ihre affektive Überzeugungskraft schöpfen sie aus der Anklage, ihre WählerInnen werden „ausgegrenzt“ und fänden in den Arenen der Entscheidungsfindung kein Gehör; die politische Mitte habe sie ausgeschlossen und nunmehr sei es an ihnen, sich dafür zu rächen.
Eine Gegenstrategie aber, die darauf hinausläuft, die Teilnahme am politischen Geschehen zu verweigern und stattdessen kulturelle Brosamen in Form kultureller Bildung anzubieten, kann – so meine These – auf Dauer nicht gut gehen.
Was will/was kann Kulturelle Bildung in dieser Situation leisten?
Die Reaktionen auf diese dramatischen gesellschaftlichen Entwicklungen erscheinen weitgehend uneinheitlich. Meiner Einschätzung nach, gehen bislang weite Teile des Kunst- und Kulturbetriebs von der (irrigen) Annahme aus, das alles ginge sie nichts oder bestenfalls nur am Rande etwas an.
Sie sind vom selbstreferenziellen Interesse an einem möglichst unbeeinträchtigten Fortbestand ihres Betriebes getrieben: Immerhin, es geht um die Aufrechterhaltung einer Infrastruktur, es geht um Jobs und Finanzierungen. Als Traditionen repräsentierende Einrichtungen haben sie zudem das Argument des Schutzes eines kulturellen Erbes auf ihrer Seite. Dem Argument, dass eine diesbezügliche inhaltliche Ausrichtung immer auf ein spezifisches Mittelstandsinteresse bezogen war, begegnen sie in der Regel mit Trotz, allenfalls ergänzt um die Bereitschaft, sich künftig um neue, bislang sozial vernachlässigte soziale Gruppen kümmern zu wollen (vor allem wenn dies der Legitimierung einer Fortsetzung staatlicher Privilegierung nützlich erscheint).
Die Aussicht aber, dass ihnen mit dem Heranbrechen eines „post-bürgerlichen“ Zeitalters das Stammklientel abhandenkommen könnte, dass sich der soziale Hass an den gesellschaftlichen Rändern zunehmend auch über sie als BewahrerInnen der bestehenden Verhältnisse ergießen könnte, scheint bislang noch außerhalb des Vorstellungsvermögens innerhalb des Kulturbetriebes.
In Ermangelung politischer Inhalte verkommt kulturelle Bildung, wie wir sie bisher betrieben haben, notwendig zu einem Täuschungsprojekt
So ist es kein Wunder, dass sich auch in den Kultureinrichtungen angesichts der aktuellen Tendenzen wachsender sozialer Ungleichheit Unsicherheit breit macht. Immerhin „produziert“ vor allem der staatlich geförderte Kunst- und Kulturbetrieb zunehmend kulturelle Erwartungen, die sich in den Lebensverhältnissen von immer mehr Menschen immer weniger widerspiegeln. Im Unterschied zu früher stellt dieser Umstand aber keinen Anreiz mehr dar, sich an diesem zu orientieren (und so früher oder später auch die entsprechende soziale Stellung zu erlangen).
In einer auf den Kopf gestellten hegemonialen Ordnung erkennen die Betroffenen Maßnahmen kultureller Bildung nur zu schnell als ein Täuschungsmanöver. Unter politischen Vorzeichen lesen sie sich als Aktionsformen, die aus daran hindern sollen zu erkennen, dass die Überwindung des überkommenen Machtgefälles die unhintergehbare Voraussetzung für die Herstellung sozialer und damit auch kultureller Gleichwertigkeit darstellt.
Das hat auch und gerade mit der zunehmenden Unfähigkeit der Kommunikation mit ausgegrenzten Teilen der Bevölkerung zu tun und damit mit der Unfähigkeit, ein überzeugendes, auf gegenseitigem Vertrauen basierendes Angebot zu entwickeln. Ein solches könnte darauf gerichtet sein, den beteiligten kulturellen BildnerInnen ihre Bestimmung als MissonarInnen mittelständischer Kultur- und Wertvorstellungen zu nehmen und ihnen stattdessen die Aufgabe als glaubwürdige BrokerInnen zwischen unterschiedlichen Lebenswelten zuzuweisen.
Daraus erwächst wohl die größte Herausforderung für den Kulturbetrieb, die möglicher Weise darin liegt, dass sich weite Teile des Kulturbetriebs ungebrochen als Gralshüter eines idealistisch aufgeladenen, gemeinsam verbindlich erachteten Wertehaushaltes gerieren, den es außerhalb ihrer Mauern nicht mehr gibt. Hier hat sich ein vielfältiges, zum Teil konträres, oft nur wenig aufeinander bezogenes Set an Wertvorstellungen breitgemacht, zu dessen vorrangigem Verhandlungsort die (in der Regel kommerziell betriebenen) sozialen Medien mutiert sind. Sie erzwingen eine völlig neue Kulturbegriffsbestimmung und vermögen als solche das kulturelle Verhalten wesentlich nachhaltiger zu prägen als jedes kulturelle Bildungsprogramm. Der Sozialphilosoph Thomas Metzinger hat zuletzt in einem Interview anhand einiger Argumente aus den empirischen Kognitionswissenschaften ausgeführt, welche Möglichkeiten der individuellen, aber auch kollektiven Manipulation sich bereits in naher Zukunft auftun und mit kaum unterschätzbaren Konsequenzen für das, was wir bislang unter „Kultur“ verhandelt haben.
Wer die Lösung hat, der trete vor
Die vielleicht verheerendste Konsequenz des neoliberalen, undemokratischen EU-Projekts ist die massenhafte „Produktion“ von Jugendarbeitslosigkeit und damit von vielen Millionen junger Menschen, die in einem Klima weitgehender Perspektivlosigkeit jeden Tag aufs Neue zurechtkommen müssen.
Am Ende meiner kursorischen Überlegungen muss ich einbekennen, dass ich mich als privilegierter Beobachter der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in zumindest einem Punkt mit ihnen eins weiß: Angesichts täglich neuer Hiobsbotschaften habe auch ich keine Ahnung, wie diese Geschichte weitergehen kann bzw. soll. Weit und breit keine gesellschaftspolitische Analyse, die noch einmal in der Lage wäre, überzeugende Visionen zu kreieren, für die es sich lohnen würde, den kultur-politischen Kampf aufzunehmen oder diese verlorene Generation zu ermutigen, sich daran zu beteiligen.
Kulturelle Bildung habe ich bislang als eine besondere Möglichkeit gesehen, mich mit all meinen Sinnen in der Welt zu verorten und mir in spielerischer Weise meiner Stellung in der Gesellschaft bewusst zu werden als Voraussetzung für die Möglichkeit, deren inhärente Zwänge mit der Ausbildung von eigenen Fähigkeiten zu überwinden.
In der aktuellen Situation ist es angezeigt, diesbezüglich allzu schöne Phrasen zu vermeiden. Wenn wir es nicht schaffen, diese in konkrete Praxis umzusetzen, werden Durchhalteparolen zur Wiedergewinnung des Politischen (samt der damit verbundenen Kritikfähigkeit) das Gegenteil dessen bewirken, das sie intendieren. Also könnten wir uns fürs Erste darauf beschränken, uns in die Situation der jungen Menschen hineinzuversetzen, die nichts zu verlieren haben, und damit zuzugeben, dass auch wir keine Lösung haben, schon gar keine, die für andere als einen selbst handlungsleitend sein könnten – und dass wir damit werden lernen müssen.
Ja, wir stecken in einer ziemlich tiefen Krise und als Mitwirkende an der bisherigen Entwicklung haben wir es zugelassen, dass es so weit kommen konnte. Und jetzt haben wir keine überzeugende Lösung. Die um ein gutes Leben beraubten jungen Menschen kennen sie auch nicht.
Was uns aber (noch) bleibt ist das Wissen um die Unauslotbarkeit des Lebendigen. Alle wesentlichen gesellschaftspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre, die guten ebenso wie die schlechten, hat kaum jemand vorgesehen. Zumindest ein gutes Argument dafür, sich die schiere Lust an einem Leben mit offenem Ausgang nicht nehmen zu lassen; einem Leben, das immer neue existentielle Experimentierräume bereit hält und jeden einzelnen von uns – und darüber hinaus uns alle – immer wieder ganz woanders hinführt, als wir es erwartet und gewollt haben.
Uns in diese Form der lebendigen Verunsicherung einzuüben und ihr ein „Trotzdem“ oder „Jetzt-erst-recht“ abzugewinnen, könnte eine lohnende Aufgabe für kulturelle Bildung in diesen Tagen sein.
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