Kulturelle Bildung und Ungleichheit
„Wir bildungsbürgerliche Eltern lieben unsere Kinder mehr als Eltern in sozial schwachen Gegenden. Entsprechend wachsen unsere Kinder ganz natürlich mit Musik auf, während Kinder rund um den Brunnenmarkt keine Gelegenheit finden, Musik zu erfahren. Da müssen wir einspringen.“
Das war sinngemäße die Botschaft, mit der Bernhard Kerres, Intendant des Wiener Konzerthauses, jüngst im Rahmen einer postgradualen Ausbildung für MusikvermittlerInnen versuchte, das Engagement seines Hauses am Projekt ((superar)) zu begründen. Dabei handelt es sich um eine Kooperation zwischen den Wiener Sängerknaben, der Caritas und eben dem Konzerthaus, um – wie es auf der Homepage heißt – „allen jungen Menschen einen Zugang (zu ermöglichen), die Wichtigkeit und Schönheit des gemeinsamen Musizierens und Tanzen zu erleben. Sie werden gezielt gestärkt und gefördert, um so den freudvollen und friedvollen Umgang mit sich selbst und anderen zu überstützen. Toleranz und Respekt sind dabei zentrale Lernerfolge“.
In der konkreten Umsetzung erhalten Kinder „außerhalb des traditionellen Schulsystems und außerhalb der klassischen Sozialarbeit die Möglichkeit zum täglichen Singen, Musizieren und Tanzen“. Das Projekt ist absichtsvoll nicht von Pädagogen getragen, sondern „von Künstlern und Sponsoren“ und richtet sich direkt an die Kinder, „vorbei an den Eltern, die sonst bestimmen, ob ihr Nachwuchs Förderung bekommt oder nicht“. Seine Grundlegung erfährt das Projekt – einmal mehr (siehe auch Blogeintrag Wenn der Südwind herüberweht – durch „El Sistema“, einem venezolanisches Vorzeigeprojekt, das derzeit rund 300 000 Kindern ab dem Vorschulalter eine niederschwellige musikalische Ausbildung anbietet, um auf diese Weise die soziale Integration zu befördern.
Nun lassen sich venezolanische Verhältnisse aus vielfachen Gründen nur sehr bedingt auf die Wiener Bezirke Fünfhaus oder Hernals übertragen. Gemeinsam ist ihnen aber der Glaube, die Beschäftigung mit Musik, vor allem mit bestimmten Formen von Musik, impliziere vielfältige positive Effekte.
Der Vision ((superar)) folgend, besteht einer dieser Effekte in der Vermittlung von Toleranz und Respekt. Und da ist es dann doch einiger Maßen überraschend, wenn einer der Träger des Projektes mit wohlgesetzten Worten eine soziale Hierarchie zu vertiefen versucht, die das Projekt vorgibt zu überwinden. Und so erhebt sich nicht nur in mir die Frage, was das „eigentlich“ Gelernte sein soll bzw. auf welcher ideologischen Grundlage hier Begriffe wie Toleranz und Respekt verhandelt werden?
Man könnte die Einlassung von Berhard Kerres als von jemand abtun, der in behüteten gut bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen ist und von den Lebensverhältnissen in der Vorstadt keine Ahnung hat. Man könnte aber auch auf die Idee gekommen, mit diesem Ausspruch sei ein sehr grundsätzliches Dilemma von Kultur- und Musikvermittlung auf den Punkt gebracht, das ansonsten gerne unter den Tisch gekehrt, von Kerres aber nochmals in aller Deutlichkeit formuliert wird: Kulturvermittlung kommt eine spezifische gesellschaftspolitische Funktion zu. Und diese besteht erst einmal darin, bestehende Formen der Ungleichheit zu bestätigen.
Eigentlich haben wir sie ja schon für überwunden geglaubt, die Vorstellungen einer, auf vermeintlich ewig Werten aufruhenden bildungsbürgerlichen Elite, die vermeinte, für sich Moral, Sitte und Anstand gepachtet zu haben. Zur symbolischen Sichtbarmachung eignete sich der bürgerliche Kulturbetrieb und da nochmals in besonderer Weise das klassische Musikrepertoire. Er bildet die Grundlage für soziale Distinktionsgewinne zwischen den von der Natur Auserwählten, die auf Grund ihrer Abstammung Kultur quasi mit der Muttermilch aufgesogen haben und dem kulturlosen großen Rest der Bevölkerung.
Mittlerweile haben uns ganze Bibliotheken an die Ränder der moralischen Abgründe geführt, die – gefüllt mit Perversionen aller Art – diese traditionelle Wächterschaft des Familienglücks in Frage stellen. Aber eigentlich braucht man sich als Zeitzeuge nur umzusehen, um ganz hautnah zu erfahren, wie prekär die Eltern-Kind-Beziehungen mittlerweile in allen Gesellschaftsschichten geworden sind und dass auch und gerade Kinder aus gutbürgerlichen Haushalten unter dem Hinundhergerissensein zwischen Überbehütung und Wohlstandsverwahrlosung in besonderer Weise zu leiden haben.
Besonders irritierend: Es sind ausgerechnet wichtige Teile der MigrantInnenszene, die heute die Fahne der Familienwerte gegen den gesellschaftlichen Trend hoch halten, wenn sie – überdurchschnittlich sozial aufstiegsorientiert – besonderes Interesse daran haben, dass es ihren Kindern „einmal besser geht“. Mit solchen Evidenzen könnte das Gefühl der natürlichen kulturellen Überlegenheit so manch Altwiener Familie schon einmal ins Wanken geraten. Da braucht niemand nach Ottakring zu gehen: da genügt ein Blick auf das eigene Milieu, dass sich das Stereotyp von den „schlechten Eltern“ als entscheidende Begründung sozialer Benachteiligung nur schwer aufrechterhalten lässt.
Folglich – mögen sich Kerres und seine bürgerlichen Freunde gedacht haben – konzentrieren wir uns lieber auf „unsere“ Musik als nach wie vor wirksames Diskriminierungsmittel. Mit ihr lässt sich der Anspruch auf Aufrechterhaltung sozialer Distinktion ohnehin besser, weil unmittelbarer aufrecht erhalten als mit den alten Geschichten vom bürgerlichen Familienglück, an die ohnehin niemand mehr glaubt. Aber die Musik, die bleibt uns zur symbolischen sozialen Abgrenzung, die haben (nur) wir, jedenfalls die „richtige“ Musik und die da draußen haben sie eben nicht.
Nun weiß jeder, der einmal mit Jugendlichen aus dem 15. Bezirk in Kontakt gekommen ist, dass auch für sie Musik kein Fremdwort ist, dass auch sie Musik hören, Musik machen und Musik in ihren Alltag integrieren. Aber es ist eine andere Musik, verglichen mit der, die im Konzerthaus zu Gehör gebracht wird und sie erfüllt auch andere soziale Funktionen, etwa wenn es darum geht, die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu bestimmten Gruppen bzw. Szenen zu bestimmen (diese Form der musikalischen Zugehörigkeit kann schon mal dazu führen, dass das erwachte Interesse an anderer Musik als Verrat an der Familie oder an der Peer Group interpretiert wird – ein Umstand, der bei vielen Musikvermittlern gerne ausgeblendet wird). Vor allem klingt sie sehr fremd in den Ohren von Bernhard Kerres.
Was ich hier andeute, ist ein Erklärungsmuster, das – je öfter ich es höre – konstitutiv für die Begründung von Kultur- und Musikvermittlung zu sein scheint. Offensichtlich besteht eine beträchtliche Neigung diejenigen, an die sich das Angebot richtet, zuerst einmal als in besonderer Weise defizitär zu beschreiben und auf diese Weise niederzumachen. Als wäre die Pejorisierung „der anderen“ die notwendige Voraussetzung dafür, das eigene Engagement ins rechte Licht zu rücken. Zum Lohn gibt es einen Platz weiter oben auf der sozialen Stufenleiter, der dem Wunsch nach sozialer Überlegenheit hinreichend entgegen kommt, ohne den Schein des Altruismus – von dem das eigene Tun getragen ist – in Frage zu stellen.
Diesem Bedürfnis nach Niedermachen kann auch die Journalistin Sibylle Hamann nicht wider stehen, wenn sie dem Projekt ((superar)) in der Wiener Stadtzeitung Falter einen großen Beitrag Wer singt, dem hört man zu widmet. Wieder sind es die Eltern rund um den Brunnenmarkt, die aus dem Mund einer zitierten Lehrerin einmal mehr „eins drüber gezogen bekommen“: Breiten Raum nehmen die Eltern ein, „die sich für die Entwicklung ihrer Kinder kaum bis gar nicht interessieren. Keinen Anteil an ihren Erfolgen nehmen. Die keine Mittelungen im Mitteilungsheft lesen, nie in die Schule kommen, um mit den Lehrern zu lesen, und eine Ausrede dafür finden, dass Kevin oder Timur oder Jasmin nicht zur Choraufführung kommen können. Weil der Weg zur Brunnenpassage, gleich nebenan, „zu weit“ sei. Weil sie einen Arzttermin hätten oder einfach „keine Zeit““.
Nun, diese Eltern gibt es wirklich und ich vermute, sie gibt sie nicht nur rund um den Brunnenmarkt; sie gibt sie auch in Wohlstandsvierteln des dritten oder dreizehnten Bezirkes, dort wo die „Hietzinger Kohorten“ zuhause sind. Es gibt aber auch die Eltern aus allen sozialen Schichten, die sich gar nicht vorstellen können, was das heißt, eine gute, vielleicht sogar partnerschaftliche Beziehung mit der Schule ihrer Kinder zu pflegen.
Immerhin sind wir alle geprägt von einer Schule, in der Eltern nur in großen Ausnahmefällen akzeptiert waren und ansonst den Eltern die vorrangige Aufgabe zugewiesen wurde, in ihr nichts verloren zu haben. Der Kontakt mit den Eltern beschränkte sich in der Regel darauf, einmal im Jahr Stunden – in den Gängen Schlangen stehend – vor verschlossenen Türen zu warten, um dann in einem Dreiminutengespräch mit dem jeweiligen Lehrer zu erfahren, wie es mit dem Kind in der Schule steht. Oder in die Schule zitiert zu werden, wenn ihr Kind wieder einmal etwas angestellt hat. Allenfalls noch für die Klassenkassa zu spenden.
Ist der Umgang mit Eltern heute ganz anders geworden? Was tut Schule heute, um Eltern willkommen zu heißen, auf welche Weise werden sie eingeladen, sich für das Unterrichtsgeschehen zu interessieren, vielleicht sogar mit ihren professionellen Kenntnissen aktiv daran teilzunehmen. Sind sie wirklich zu Schulpartnern auf Augenhöhe aufgestiegen, die mehr zu tun haben, als mit ihrer Unterschrift im Mitteilungsheft die sakrosankten Vorgaben der LehrerInnen zu legitimieren. Und können sie sich als VerteterInnen der verschiedenen MigrantInnengruppen auf „sprachlich sicherem Terrain“ bewegen, weil es LehrerInnen gibt, die ihre Sprache sprechen und ihnen so helfen können, lang tradierte Barrieren abzubauen?
Ich könnte mir vorstellen, dass sich Schulen noch eine Menge einfallen lassen könnten, um ihre Beziehungen zu den Eltern zu verbessern. Manche von ihnen würden dann wohl auch ihre Scheu vor einem Hochkulturtempel aufgeben, der so offensichtlich nicht für sie gedacht ist und zu einer der ((superar))-Präsentationen mit ihren Kindern ins Konzerthaus kommen, sogar dann, wenn ihnen der Direktor zuvor pauschal den Befund ausgestellt hat, sie wären „schlechte Eltern“.
Aber dann würde er sicher sagen, dass er es ja so nicht gemeint habe.
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