Kulturentwicklungspläne – Wozu man sie eigentlich braucht
In diesen Tagen jährt sich zum sechsten Mal die Verabschiedung der Neuauflage des Linzer Kulturentwicklungsplans. Dieser folgt vier Schwerpunkten, die sich um die kulturpolitischen Absichten „Chancengleichheit erhöhen“, „Potentiale fördern“, Zugänge schaffen“ und „Stadt öffnen“ ranken. Vor allem im Kapitel “Zugänge schaffen“ werden Kulturelle Bildung bzw. Kunst- und Kulturvermittlung als zentrale kulturpolitische Maßnahmen der Stadt verhandelt, denen mit einer Reihe zum Teil sehr konkreter Maßnahmen entsprochen werden soll.
Schon in Kürze soll ein weiterer Zwischenbericht (der erste umfasst den Zeitraum 2013 – 2015) zum Stand der Implementierung veröffentlicht werden. Als Auftaktveranstaltung fand vorige Woche ein offener Dialog zwischen Politik, Verwaltung und der Kunst- und Kulturszene im Salzamt statt. Der Einladung der Linzer Kulturdirektion und des Stadtkulturbeirates waren neben der für Kultur zuständigen Stadträtin Doris Lang-Mayerhofer die Verteter*innen aller im Gemeinderat vertretenen Parteien sowie viele Vertreter*innen vor allem der Freien Szene gefolgt (Ich kann an dieser Stelle nur vermuten, dass die Vertreter*innen der etablierten Einrichtungen – die durch Abwesenheit geglänzt haben – sich von solchen Begegnungen nicht angesprochen fühlen. Ihre Interessensdurchsetzung orientiert sich nicht an einer gemeinsamen Kulturentwicklungsplanung sondern eher am Prinzip von Vieraugengesprächen mit den politischen Entscheidungsträger*innen).
Als interessierter Beobachter von außen war ich eingeladen, mit der Beantwortung der Frage, warum man überhaupt Kulturentwicklungspläne braucht, einen Auftakt dieser gut besuchten Veranstaltung zu versuchen. Überlagert war dieser Versuch freilich von den aktuellen politischen Turbulenzen, die auf die zunehmend fragilen Kontexte hinweisen, die die Beziehungen von Kulturpolitik, Kulturverwaltung und Kulturbetrieb von einem Tag zum anderen verändern können (Vergleiche gefällig: Als Toni Blairs New Labour von den Tories unter David Cameron abgelöst wurde, wurden von einem Tag zum anderen ein Großteil des Portfolios des British Arts Councils zerschlagen; betroffen war u.a. das Programm „Creative Partnerships“, das mit rund 50 Mio. Pfund ein Drittel aller englischen Schulen erreichte). Die Angelobung der Regierung Brigitte Bierlein suggeriert nicht, dass Kulturpolitik in den nächsten Monaten eine bedeutende Rolle zukommen wird (siehe dazu die Bemerkungen des ehemaligen Vorsitzenden des Linzer Stadtkulturbeirats Thomas Diesenreiter auf Facebook).
Calculemus (Leibniz) oder über die Rationalisierbarkeit von Welt – Eine Hoffnung, die Kommunist*innen und Kapitalist*innen lange Zeit geeint hat
Historisch gesehen lassen sich zwei Grundlegungen von Kulturentwicklungsplänen festmachen: Da ist zum einen der planwirtschaftliche Anspruch, Gesellschaft – der Logik des historischen Materialismus zufolge – zu gestalten. Dieser fand Ausdruck in einer zum Teil beeindruckenden kulturellen Infrastruktur in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Diese stand freilich unter permanentem Verdacht, die ideologischen Geschäfte der kommunistischen Machthaber zu betreiben (Dass mit dem Zusammenbruch der auf Planbarkeit von Kultur setzenden Regime weite Teile des Kulturbetriebs zusammenbrechen sollten, steht auf einem anderen Blatt. So schrumpfte in Bulgarien nach 1989 die Anzahl der Theater von 500 auf 50).
Und da ist zum anderen die Erwartung einer zunehmenden Rationalisierbarkeit der westlichen Gesellschaften. Auch hier gibt es einen hohen Preis, der darin besteht, den Kulturbetrieb entlang der Kriterien wie Konkurrenz, Verwertbarkeit, Effizienz des Ressourceneinsatzes oder Nutzenorientierung den zunehmend global wirksamen marktwirtschaftlichen Erfordernissen zu unterwerfen. Ihnen entgegen stehen die Verfechter*innen von „Kultur“ als letztes Refugium des Irrationalen, damit einer Kultur, die sich als prinzipiell unplanbar den zunehmend alle Lebensbereiche durchdringenden kapitalistischen Verwertungsinteressen entziehen soll.
Kulturentwicklungsplanung zwischen Prosperität und Austerität
Nicht nur in Österreich zeigte sich eine erste Hochzeit der Kulturentwicklungsplanung in den 1970er Jahren. Im Zuge eines umfassenden Modernisierungs- und damit Rationalisierungsprozesses versuchte die damals regierende Sozialdemokratie mit einer Reihe kulturpolitischer Maßnahmen das Kulturgeschehen anhand einer Reihe politischer Vorgaben (Kulturpolitischer Maßnahmenkatalog, Demokratisierung der Mittelvergabe, Schwertpunktsetzung im Bereich der Gegenwartskunst, „Kultur für alle“,…) zu beeinflussen und – jedenfalls aus der Sicht der damals Regierenden – zu verbessern. Aus heutiger Sicht muss hinzugefügt werden, dass ein solcher Reformgeist wesentlich beflügelt wurde von beeindruckenden wirtschaftlichen Wachstumsraten, die für jährlich steigende öffentliche Zuwendungen auch im Bereich der Kunst- und Kulturförderung sorgten.
Mit der erlahmenden Konjunktur verlor sich die damit verbundene Euphorie in den 1980er Jahren rasch. Und doch kam es spätestens in den 1990er Jahre in Deutschland zu einer Wiederauflage kulturplanerischer Tendenzen. Die Gründe lassen sich nicht mehr im Anspruch der Überschussverwaltung finden; die Gleichung, wonach eine Zunahme an Akteuren automatisch eine Zunahme an Mitteln bedeutet, ließ sich nicht mehr aufrechterhalten. Stattdessen nahmen die Probleme der öffentlichen Haushalte zum Teil dramatisch zu; sie schufen eine neue Konkurrenzsituation zwischen den Förderwerber*innen und darüber hinaus zwischen dem Kulturbereich und den anderen staatlichen Aufgaben, die gleichermaßen unter den klammen Kassen der Kommunen zu leiden hatten. Entsprechend überfordert sahen sich die politischen Entscheidungsträger*innen, die sich nicht mehr als umfassende Wohltäter*innen positionieren konnten sondern sich auf die Suche nach halbwegs rationalen Grundlagen künftiger Umverteilungsstrategien machen mussten.
Vielleicht als noch bedeutsamer sollte sich der gesellschaftliche Transformationsprozess erweisen, der Kulturpolitik im Zeichen von Globalisierung sowie technologischem und demographischem Wandel vor bislang ungeahnte Herausforderungen stellte. Dies auch deshalb, weil sich derart verunsicherte Kulturpolitiker*innen einem zunehmend ausdifferenzierten Praxisfeld gegenübersahen, dessen Repräsentant*innen – je nach Größe und Status – auf wohlerworbene Privilegien pochten. Diese Privilegien könnten nur um den Preis der Denunziation als Verräter der Freiheit und Autonomie der Kunst zur Disposition gestellt werden. Und da war noch der Umstand, dass die Erfolge einer Bildungsplanung der 1970er Jahre eine neue Generation an emanzipierten Bürger*innen hervorgebracht hatten, die nicht mehr in bewährt patriarchalischer Manier je nach Konjunktur mehr oder weniger „von oben“ beglückt werden sondern als Mitglieder einer neuen kulturellen Bewegung auf Augenhöhe mitreden und diese mitgestalten wollen.
In Deutschland hat Kulturentwicklungsplanung Konjunktur
Mittlerweile ist zumindest in Deutschland Kulturentwicklung zu einer breiten Bewegung geworden. Sie fand Eingang in die Überlegungen der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ und war auch titelgebender Gegenstand des Kulturpolitischen Bundeskongresses der Deutschen Kulturpolitischen Gesellschaft 2013: Kulturforscher*innen wie Patrick Föhl können sich der Anfragen von deutschen Kommunen kaum erwehren, die bestrebt sind, ihre Kulturbetriebe neu zu ordnen, in der Hoffnung, damit so effizient wie möglich ihre Relevanz zu erhöhen. Dazu wurden mittlerweile auch die konzeptionellen Grundlagen geschaffen, die die Möglichkeiten, aber auch Grenzen einer gelingenden Kulturentwicklungsplanung aufzeigen.
In Österreich haben sich bislang nur wenige Städte und Gemeinden wie Salzburg, Steyr oder auch Gallneukirchen diesem kulturpolitischen Trend angeschlossen. Im Vergleich dazu hat sich Graz für ein dialogisches Schnellsiederverfahren entschieden. Weitere wie St. Pölten oder Innsbruck bereiten sich gerade vor, einen solchen Prozess zu beginnen. Für sie alle kann Linz als beispielgebend gelten.
Linz als maßstabsetzender Vorreiter
Die oberösterreichische Landeshauptstadt entschloss sich bereits zu Ende der 1990er Jahre, im Dialog mit der lokalen Kulturszene einen Dialogprozess in Gang zu setzen. Die Gründe mögen weniger darin gelegen sein, dass Kunst- und Kulturschaffende an den Türen der Kulturverwaltung mit der Forderung gerüttelt haben, stärker an der kulturpolitischen Entscheidungsfindung beteiligt zu werden. Naheliegender war da schon der politische Wille, Linz in Vorbereitung der Europäischen Kulturhauptstadt 2009 ein kulturelles Gesicht mit nationaler und internationaler Strahlkraft zu geben. Im Versuch, breite Teile der Bevölkerung einzubeziehen wurden eine Reihe neuer Formate zur Einbeziehung der lokalen Bevölkerung entwickelt. Die ersten Klangwolken, bei der die Bewohner*innen eingeladen waren, Lautsprecher in ihre Fenster zu stellen und auf die Weise „mitzuspielen“ sind mir in Erinnerung geblieben. Im Zentrum aber stand ein umfassender Aushandlungsprozess mit Akteuren aus den unterschiedlichen Kulturbereichen, um Linz fit für das große Ereignis als Europäische Gastgeberin zu machen.
Dieses partizipative Verfahren – das stark die Handschrift des damaligen Kulturdirektors Siebert Janko trugt – ist vielfach positiv beschrieben worden. Und auch das Europäische Kulturhauptstadtjahr unter der Intendanz des Schweizer Kulturunternehmers Martin Heller zusammen mit Ulrich Fuchs sollte sich insgesamt als großer Erfolg im Sinne eines umfassenden kulturellen Imagewandels erweisen. Nicht ganz so glücklich waren freilich viele Mitwirkende des ersten Durchgangs des Kulturentwicklungsplans, die sich als lokale Kulturakteure um ihr Engagement betrogen sahen. Sie fanden sich in der Initiative „Linz0nein“ zusammenarbeiten, um im „Programmbuch 4/3“ 75 bei Linz09 abgelehnte oder zurückgezogene Projekte zusammen zu tragen und damit den Verrat am Ergebnis des Kulturentwicklungsplans zu kritisieren.
Umso beeindruckender scheint es heute, dass es nach einer Phase der Erschöpfung und Ermüdung gelingen konnte, zumindest Teile der Szene für eine Neuauflage bzw. Weiterentwicklung des Linzer Kulturentwicklungsplans zu gewinnen. Mithilfe einer sorgfältigen Vorbereitung wurde von einem Team von Forscher*innen (unter ihnen Thomas Philipp und Siegfried Anzinger) der internationale Diskurs aufgegriffen und Rahmen von insgesamt 72 Tiefeninterviews mit Keyplayern der Linzer Kunst- und Kulturszene die Grundlage für die nächste Runde eines umfassenden Diskussionsprozesses gelegt. Dabei wurde mithilfe einer Website großer Bedacht auf möglichste Transparenz für alle Beteiligten gelegt; insgesamt nahmen mehr als 600 Akteure am Prozess teil, die sich vom Umstand nicht beirren ließen, dass diesmal am Ende keine große Karotte in Form eines weiteren Großevents warten würde.
Als dem Kulturentwicklungsplan der finanzielle Boden weg gezogen wurde
Meine ehemalige Kollegin Anke Schad hat in ihrer Dissertation „Cultural Governance in Österreich“, in der sie die Prozesse der kulturpolitischen Entscheidungsfindung vor allem in Graz und in Linz besonders unter die Lupe genommen hat, den Implementierungsprozess im Detail analysiert. Nicht nur ihr zufolge kam es in dieser Phase zu einer verhängnisvollen Überlagerung zweier entgegengesetzt gerichteter politischer Intentionen. So waren die ersten Jahre des neuen Kulturentwicklungsplans wesentlich geprägt von den zunehmenden Finanznöten der Stadt. Verursacht durch dubiose Spekulationsgeschäfte sah sich die Stadt gezwungen, einen rigiden Sparkurs einzuschlagen, der auch vor dem Kulturbereich nicht haltmachen sollte. Entsprechend machte sich in der Kulturszene das Gefühl breit, sie solle ausbaden, was die Politik an wirtschaftlichem Schaden angerichtet hat. Erschwerend kam dazu, dass dieser Sparkurs unterschiedlich gravierende Wirkungen auf die einzelnen Akteure haben sollte: Während die großen Kultureinrichtungen den finanziellen Turbulenzen einschlägige gesetzliche Absicherungen oder zumindest vertragliche Vereinbarungen entgegensetzen konnten, war die Freie Szene den Ermessensdiktaten weitgehend schutzlos ausgeliefert. KEP neu hin oder her: Sie sollten die Hauptlast der Kürzungen übernehmen, um mit einem Lob auf ehrenamtliches Engagement und vermehrte Drittmittelakquisition abgespeist zu werden (Thomas Diesenreiter als Vertreter der KUPF hat bei der Veranstaltung eindrücklich darauf hingewiesen, dass die Förderung der Freien Szene bereits seit 2006 eklatant hinter der Inflationsentwicklung zurückbleibt und damit die Spaltung zwischen den etablierten Kulturinstitutionen und den nicht institutionalisierten kulturellen Ausdrucksformen immer weiter voranschreitet.
Im Rahmen des neuen Kulturentwicklungsplans wurde dem Stadtkulturbeirat (SKB) eine besondere Rolle zugedacht. Anke Schad macht in „Cultural Governance“ die kulturpolitische Überforderung dieses Gremiums deutlich. So war es nicht verwunderlich, dass der SKB zwar gegen diese wachsende strukturelle Verungleichung mehrfach protestiert, dies aber zu keinen nennenswerten Konsequenzen geführt hat. Stattdessen standen in der Folge Einrichtungen der Freien Szene wie das „Salzamt“, in dem die Veranstaltung stattfand, selbst zur Disposition und konnten nur mit Hilfe neuer Kooperationen gerettet werden.
Ein Kulturenzwicklungsplan bietet die Möglichkeit, bestehende Machtverhältnisse zu diskutieren – und zu verändern
In ihrer Analyse des SKB kommt Schad auch um den Befund nicht herum, dass sich seinem Profil ein beträchtliches Machtgefälle artikuliert, wenn etwa die Kulturverwaltung sowohl die Zusammensetzung als auch die Agenda wesentlich bestimmt. Gerade im entscheidenden Jahr der Implementierung des KEP neu kam es zu einem umfassenden Austausch der Mitglieder; gerade die neuen konnten mit ihren zum Teil ganz unterschiedlichen beruflichen Hintergründen auf keinerlei Routinen in der Kommunikation untereinander, aber auch mit Politik und Verwaltung zurückgreifen. Sie sahen sich gezwungen, überhaupt erst einen handlungsleitenden Kulturpolitikbegriff zu entwickeln, der über die Frage der Ressourcen und von Personalentscheidungen hinausweisen konnte. Auch wenn es in der Zwischenzeit zur Neustrukturierung der Arbeit des SKB gekommen ist, bleibt doch die Vermutung, dass in diesem heterogenen Gremium oft schlicht die Zeit nicht ausreicht, um den gestellten Aufgabe gerecht zu werden. Für tiefer gehende Tätigkeiten wie etwa begleitende Evaluierungsmaßnahmen samt einer strategischen Ausrichtung zur Durchsetzung der Ergebnisse fehlen wichtige Voraussetzungen (Der neue Zwischenbericht wird schon bald die Frage nach Konsequenzen für das künftige kulturpolitische Handeln hervorrufen).
Zentrale Aufgaben einer Kulturentwicklungsplanung zwischen Allmachtsphantasien und Alibiproduktion
Diese ebenso beeindruckende wie da oder dort auch zwiespältige Verlaufsskizze des Kulturentwicklungsplans macht seinen Möglichkeiten aber auch Grenzen deutlich. Er kann weder Ausdruck planifikatorischer Allmachtsphantasien sein, noch legitimatorische Alibiaktion, um so den Entscheidungsträger*innen hinter den Kulissen freie Hand zu geben. Aber er bietet einen gemeinsamen Orientierungsrahmen in einer vielfach zersplitterten, zueinander in Konkurrenz stehenden Szene, in der ein beträchtliches Machtungleichgewicht herrscht. Das große Interesse an der Veranstaltung belegt, dass Kulturentwicklungsplanung den öffentlichen Diskurs zu kulturpolitischen Fragen zu stimulieren vermag. Und er repräsentiert die Hoffnung, damit einen gemeinsam verbindlichen Handlungsrahmen über politische Konjunkturen hinweg zu entwickeln. Als solcher bietet er sich an, die bestehenden Machtverhältnisse im Kulturbereich zu hinterfragen und diskutierbar zu machen, um so zur Beantwortung von Fragen wie: „Was soll politisch im Rahmen einer repräsentativen Demokratie, was administrativ und was partizipativ entschieden werden?“ „Und wer soll daran beteiligt werden?“ zu kommen.
Patrick Föhl benennt in seinen Überlegungen drei zentrale Aufgaben jeglicher Kulturentwicklungsplanung. Diese umfassen kulturpolitische Grundsatzfragen (Linz als Kulturstadt, …), die Verhandlung von Kultur als einer Querschnittsmaterie sowie die Beantwortung spartenspezifischer Fragen.
Die erste Aufgabe setzt eine Einschätzung zur wachsenden Bedeutung von Städten voraus. Das betrifft nicht nur den Umstand, dass immer mehr Menschen in städtischen Ballungsräumen leben; das betrifft auch eine geänderte Haltung zum Zusammenleben in liberalen pluralistisch verfassten Stadtgesellschaften, die sich politisch immer mehr von retrotopischen (Zygmunt Baumann) dörflichen Homogenitätvorstellungen abgrenzen (die wachsenden Unterschiede um Wahlverhalten zwischen Stadt und Land (Stichwort: Neonationalismus in Ländern mit starken ruralen Traditionen wie Ungarn, Polen, der Türkei aber auch Österreich) zeugen eindrucksvoll davon). Fast schon als Lackmustest für die Qualität dieser liberalen Stadtgesellschaft kann die Stellung von künstlerischen Aktivitäten gelten. Trends wie „Artistic Citizenship“, die traditionelle Trennungen von Kunstproduktion und -distribution zugunsten „kultureller Teilhabe“ aufweichen, erzählen von neuen Gestaltungsmöglichkeiten städtischer Kulturpolitik.
In diesen Zusammenhang gehört auch die Verabschiedung liebgewordener Vorstellung von Kultur als einem von allen anderen gesellschaftlichen Bereichen strikt getrennten Sonderfall („Käseglocke“). Die Anzeichen in anderen Städten mehren sich, dass Kultur zunehmend als eine Querschnittsmaterie verhandelt wird. Als solche mutiert sie in einer vernetzt/kooperativen Marktwirtschaft zu einem – wenngleich zentralen – Glied einer „Value Chain“, deren Institutionen sich in vielfältigen Beziehungen wissen. Das trifft freilich nicht nur auf den Bereich der Wirtschaft zu, sondern umfasst gleichermaßen den Bildungs- oder den Sozialbereich, die wesentlich darüber mitentscheiden, ob Kultur auch in Zukunft einen wichtigen Standortfaktor zu bilden vermag oder nur von einigen wenigen als nostalgisches Exotikum verhandelt wird.
Diese Querschnittsdimension betrifft zunehmend auch das Verhältnis der verschiedenen politischen Gebietskörperschaften. Immerhin spricht immer mehr für den Befund, dass vor allem der Bund drauf und dran ist, eine exzessivere Interpretation von Subsidiarität anzuwenden, um sich so zunehmend aus ermessensbasierten Einzelförderungen zurückzuziehen. Als nur eine Konsequenz wird dadurch vor allem die Freie Szene einer wesentlichen Existenzgrundlage beraubt. In Bezug auf das Stadt-Land- Verhältnis zeigt das Beispiel der einseitigen Aufkündigung des Theatervertrages durch neue politische Akteure, dass sich als gegeben erachtete Rahmenbedingungen ebenso unerwartet wie rasch verändern können.
Was von der Vision einer gelingenden Kulturentwicklungsplanung bleiben könnte
In Bezug auf die Aufgabe der spartenspezifischen Förderung ermessen sich die künftigen Erfolgschancen für eine prospektive Kulturentwicklungsplanung in der Art und Weise des städtischen Engagements gegenüber der Freien Szene. Die finanzielle Prekarität wurde im Rahmen der Veranstaltung einmal mehr deutlich – und auch der Umstand, dass der KEP alleine wenig Handhabe bietet, die Ressourcenlage nachhaltig zu verbessern. Vielleicht noch bedeutender aber erscheint der Umstand, dass die Freie Szene zu Beginn der 2000er Jahre nur mehr wenig Ähnlichkeit mit heute aufweist. Als dynamischer Faktor in der Stadt hat sie sich in vielem der Logik des institutionellen Kulturbetriebs angenähert. Eine wachsende Durchlässigkeit zwischen den ehedem streng getrennten Bereichen ist eines der Ergebnisse. In Ermangelung eines überzeugenden politischen Projekts als inhaltliches Backbone fällt es zunehmend schwer, gegen die aktuellen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen die eigenen utopischen Potentiale zu retten. Umso drängender machen sich die marktwirtschaftlichen Verwertungszwänge auch in diesem Sektor bemerkbar. Ihnen wird im täglichen Überlebenskampf mit professionell vorgetragenen Methoden des Kulturmanagements zu entsprechen versucht. Und doch wird die Frage immer drängender, wozu „es uns noch braucht“.
Mein abschließender Rat dazu sieht die Freie Szene als ein demokratiepolitisches Versuchslabor in Zeiten demokratischer Ermüdungserscheinungen. In einer historischen Phase, in der die ehedem hart erkämpften demokratischen Errungenschaften allerorten von illiberalen, antidemokratischen und neoautoritären Kräften bedroht werden, bedarf es vermehrt Orte des Experiments, in denen auf spielerische und doch ernsthafte Weise die gemeinsame Entscheidungsfindung auf neue
Weise erprobt werden kann. Friedrich Schiller in seinen Briefen zu ästhetischen Erziehung im Nachklang der Französischen Revolution bietet hierfür bis heute eine herausragende Vorlage. Gerade dort, wo Kultur und Kulturpolitik zunehmend von rechtsextremen Kräften gekapert wird, um die gesellschaftliche Spaltung weiter voranzutreiben, bedarf es der Suche nach überzeugenden Alternativen. Die Wiederaneignung des Freiheitsbegriffs im Kunst- und Kulturbereich bietet sich hierfür in herausragender Weise an. Nicht nur, um die eigenen Existenzgrundlagen zu verbessern sondern um dem, was wir an der Demokratie schätzen, eine ebenso zeitgemäße wie überzeugende
Ausdrucksform zu verleihen.
Der Linz Kulturentwicklungsplan könnte dafür, richtig interpretiert und mit vereinten Kräften umgesetzt, eine wichtige Handlungsgrundlage bilden.
P.S.: Die Veranstaltung wurde von dorftv aufgezeichnet und kann hier abgerufen werden.
Bild: By Radler59 (talk) – Self-photographed, CC BY-SA 4.0, abrufbar: Wikimedia Commons
LETZTE BEITRÄGE
- Hilfe, die Retter nahen
- Kunst, Kultur und Grenzen – Warum Grenzen für ein lebendiges Zusammenleben notwendig sind
- Alles neu macht der Mai – Eine andere Zukunft des Kulturbetriebs ist möglich
- Hype um Chat GPT
- Die Autonomie der Kunst
- Liberale Bürgerlichkeit, hedonistische Massendemokratie oder antidemokratischer Autoritarismus
- Dürfen die das?
- Kulturpolitik in Zeiten des Krieges
- „Das Einzige, was uns zur Zeit hilft, das sind Waffen und Munition“
- Stehen wir am Beginn eines partizipativen Zeitalters? (Miessen)