
Kulturpolitik im Neoliberalismus !?
Vor einigen Tagen organisierte die Österreichische Gesellschaft für Kulturpolitik zusammen mit ihrer deutschen Schwesternorganisation ihre Wintertagung mit dem Titel „Kulturpolitik im Neoliberalismus“. Ich durfte eine der Podiumsdiskussionen moderieren, an denen die Künstlerin Eva Schlegel, der Künstler und Initiator von Public Netbase Konrad Becker und der Performancekünstler und Utopieforscher Otmar Wagner teilgenommen haben. Den Anfang aber machten die beiden PräsidentInnen der Gesellschaften Oliver Scheytt und Elisabeth Hakel.
Schon im Vorgespräch wunderte sich Eva Schlegel, warum die Veranstalter das Primat des Neoliberalismus, so wie es im Titel der Veranstaltung als bereits gegeben suggeriert wird, so einfach hingenommen haben. Immerhin ist der Begriff des Neoliberalismus gerade in fortschrittlichen Kreisen in den letzten Jahren zu einem Schimpfwort verkommen, unter dem gerne alle aktuellen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen wie Sozialstaatabbau, Deregulierung, Liberalisierung, Vermarktwirtschaftlichung und damit die Ökonomisierung aller Lebensbereiche ohne viel Nachdenken subsumiert werden. Und dennoch sollten wir diesen Begriff unhinterfragt zum Ausgangspunkt für unsere Überlegungen über kulturpolitische Perspektiven machen.
Dementgegen habe ich mich daran erinnert, dass das, was wir heute als Neoliberalismus bezeichnen, seinen Ausgang bei den Chicago Boys genommen hat, einer Gruppe von in Chicago studierender chilenischer Ökonomen, die – ausgestattet mit den theoretischen Konzepten Friedrich August von Hayeks und Milton Friedmans – die Überlegenheit freier Märkte und die damit verbundenen überfälligen Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen gepredigt haben. In der Praxis ausprobieren konnten sie ihre Theorien in ihrem Heimatland zur Zeit des Diktators Augusto Pinochets, der dafür die entsprechenden antidemokratischen Rahmenbedingungen sicherstellte. Von Chile aus trat diese Ideologie vom unbedingten Vorrang des Marktes ihren globalen Siegeszug an, um seit der Regierungszeit von Margaret Thatcher (1979-1990) sukzessive auch die europäischen demokratisch verfassten Gesellschaften nachhaltig zu beeinflussen.
Der Neoliberalismus als eine politische Strategie zur Schwächung von ArbeitnehmerInnen-Interessen
Als ausschlaggebend für den Erfolg neoliberaler Wirtschaftskonzepte erwies sich bald die Schwächung aller Arten von ArbeitnehmerInnenvertretungen, insbesondere der Gewerkschaften, die immer weniger in der Lage waren, den Interessen der Unternehmerfraktionen Paroli zu bieten. Ihr Sieg war insgesamt von einer Schwächung des Politischen begleitet, deren VertreterInnen immer weniger in der Lage zu sein scheinen, den befreiten Markt zugunsten demokratisch legitimierter politischer Zielsetzungen zu regulieren. (Und so wundert sich niemand mehr, wie es möglich ist, dass ein einzelner Unternehmer in der Lage ist, innerhalb weniger Jahre zumindest 46 Mrd. Dollar zusammenzuraffen; stattdessen wird Mark Zuckerberg dafür gelobt, dass er sich dazu entschlossen hat, sein Vermögen steuergünstig in einer Stiftung zu parken.)
Die geänderten Machtverhältnisse lassen sich durchaus auch am Beispiel Österreich festmachen, wenn der Jahresumsatz der Bank Austria zuletzt 192 Mrd. Euro ausgemacht hat, während das Österreichische Parlament jüngst ein Bundesbudget für 2016 in der Höhe von rund 77 Mrd. Euro verabschiedet hat. Der Umfang des Osteuropageschäftes der Bank Austria, das demnächst zum Mutterkonzern Uni Credit nach Mailand verschoben werden soll, ist damit ungefähr gleich groß wie die Summe aller Staatsausgaben in einem Jahr.
Der Umstand, dass die Umstrukturierung der UniCredit mit einem Personalabbau von rund 18.000 MitarbeiterInnen verbunden ist, gegen den die Politik mittlerweile völlig machtlos erscheint, bringt mich zu einer Interpretation des Neoliberalismus durch Rainer Flassbeck, der in seiner jüngsten Analyse zur Krise in Europa wenig zuversichtlich wirkt. Er verortet den Beginn der neoliberalen Ära zeitgleich mit der höchsten Lohnquote, die in den frühen 1970er Jahren in den Ausläufern der europäischen Nachkriegsentwicklung erkämpft werden konnte. Diese Maßzahl des Anteils der ArbeitnehmerInnen am Volkseinkommen sollte danach nie wieder erreicht werden; stattdessen lässt sich seither ein tendenziell immer weiteres Auseinanderklaffen von steigenden Unternehmensgewinnen bzw. Kapitalerträgen einerseits und sinkenden Arbeitseinkommen andererseits nachweisen, ohne dass die Politik noch in der Lage wäre, für einen entsprechenden Ausgleich zu sorgen. Also sind wir mitten drin in der Erklärung, warum die Frustration über eine schwächelnde Politik immer weiter steigt und sich in wachsenden Gefolgschaften scheinbar starker Extrempositionen Luft macht. Und wir finden – folgt man Flassbeck – eine plausible Erklärung für die nunmehr seit 8 Jahren währende europäische Stagnationsphase in einer sinkenden Massenkaufkraft –, deren Konsequenzen vor allem das wachsende Heer an sozial Benachteiligten auszubaden hat.
Kulturpolitik und der Mangel an theoretischer Grundlegung durch politische Ökonomie
Was das alles mit Kulturpolitik zu tun hat? Fast alles, würde ich meinen, auch wenn die geänderten Rahmenbedingungen in den kulturpolitischen Diskussionen, sofern sie überhaupt noch stattfinden, mittlerweile weitgehend ausgeklammert bleiben. Da ist zum einen der Umstand, dass ein so grundlegender Regimewechsel, wie es die Durchsetzung neoliberaler Prinzipien bedeutet, auch zu einem kulturrelevanten Elitenwechsel führt. War es zuvor eine überwiegend bildungsbürgerliche Schicht, die sich als quasi natürliche Trägerschaft des Kulturbetriebs gesehen hat, so ist diese drauf und dran, ihre einstige Vormachtstellung (die auch darin bestand, zu definieren, was Kultur ist und was nicht) an diejenigen abzugeben, die in der Lage und willens sind, sich Kultur zu kaufen. Als Nachfrager bestimmen sie zunehmend auch die kulturpolitischen Prioritäten, die darauf hinauslaufen, den Kulturbetrieb marktgerecht auszurichten, wobei dabei die Hoffnung, dadurch den öffentlichen Einsatz von Mitteln minimieren zu können, zunehmend die Spielregeln bestimmt.
Noch gravierender hingegen scheint mir der Umstand der nachhaltigen Schwächung der ArbeitnehmerInnen am Arbeitsmarkt, die sich nicht nur in einer sinkenden Lohnquote sondern ebenso sehr in wachsenden Arbeitslosenzahlen niederschlägt. In den 1970er Jahren war Kulturpolitik noch von der politischen Idee motiviert, im Rahmen eines umfassenden Aufschwungprogramms den Wohlfahrtsstaat im Bemühen um eine gerechte Verteilung materieller Güter um die Dimension der immateriellen Umverteilung ergänzen bzw. vervollständigen zu können. Heute erleben wir ganz offensichtlich eine entgegengesetzte Entwicklung, wonach – zugunsten des Arguments der unbedingten Aufrechterhaltung internationaler Wettbewerbsfähigkeit – mehr und mehr wohlfahrtsstaatliche Errungenschaften zurückgenommen und damit mehr und mehr Menschen materieller Unsicherheit ausgesetzt werden. Als solche verschwinden sie zunehmend aus dem öffentlichen Bewusstsein. In ihrer weitgehend individualisierten Perspektivlosigkeit haben sie wenig Ambition, als Nachfrager kultureller Angebote aufzutreten. Sie haben schlicht andere Sorgen.
Kulturalisierung oder Politisierung sozialer Ungleichheit – das ist die Frage
Diese Entwicklung scheint mir insofern von besonderer Brisanz, wenn Oliver Scheytt in seinem Eingangsstatement auf die kulturpolitische Notwendigkeit einer Stärkung individueller Positionen als Kulturbürger hingewiesen hat. Angesichts der mittels neoliberaler Ideologie durchgesetzten sozialen Schieflage scheint mir diese Forderung spätestens ab dem Zeitpunkt idealisierend, als sie keinen Bezug mehr herzustellen vermag zu den konkreten Lebens- und Arbeits(losigkeits-)verhältnissen derer, die da angehalten werden, sich in ihrer ihnen politisch zugewiesenen Opferrolle noch einmal individuell kulturell zu verorten. Wesentlich einfacher für sozial Depravierte erscheint es mir da, den Losungen derer hinterherzulaufen, die die Schuld an der Misere wahlweise dem politischen Establishment oder ausgewählten ethnischen Gruppen zuschreiben und damit die Kulturalisierung sozialer Ungleichheit herbeiargumentieren. Dagegen sind nicht nur individuelle, dagegen sind vor allem politische Antworten überfällig.
Ihr Fehlen bringt die demokratische Verfasstheit der europäischen Gesellschaften ins Wanken. Und ja, das ist auch eine riesige Herausforderung zumal für den öffentlich finanzierten Kulturbetrieb, der sich mit der zunehmend unglaubwürdigen Behauptung aufrecht zu erhalten versucht, er wäre für alle da und doch nur eine Minderheit anspricht. Entsprechend groß war die Erwartung des Publikums, nicht nur an individuelle Auswege, sondern vor allem an politischen Vorstellungen, Konzepten oder Visionen zu arbeiten.
Verändert Digitalisierung das Verhältnis von Arbeit und Kultur – und wenn ja, in welche Richtung?
Die aktuelle neoliberale Durchdringung aller Lebensbereiche ist begleitet von nachhaltig wirksamen technologischen Umwälzungen. Dementsprechend bedeutsam war der Aspekt der Digitalisierung, der mittlerweile auch weite Teile des Kulturbetriebs erfasst hat. Als solcher hat er Auswirkungen sowohl auf ProduzentInnen als auch auf RezipientInnen, wenn nicht nur darüber entschieden wird, in bzw. mit welchen Medien künftig kommuniziert wird, sondern gleichermaßen für wen sich welche kulturellen Inhalte darin als relevant erweisen und welche nicht.
Zuwenig verhandelt haben wir in diesem Zusammenhang das künftige Verhältnis von Kultur und Arbeit, auf dessen Bedeutung vor allem Otmar Wagner hingewiesen hat. Meine eigenen Überlegungen dazu, die ich Mitte der 1980er Jahre in einer Dissertation zum Thema „Kultur – Arbeit – Technologie“ zusammengefasst habe, stammen aus einer Zeit, als es noch die begründete Hoffnung gegeben hat, die Siege der neoliberalen Ideologen könnten politisch mit Maßnahmen radikaler Arbeitszeitverkürzung beantwortet werden. Als zentrales Argument diente damals (und heute) der Umstand, dass mit der technologischen Entwicklung mehr und mehr Arbeit auf Maschinen übertragen werden könne, um so den Menschen im wahrsten Sinn für selbstbestimmte Tätigkeiten freizusetzen, die ihn überhaupt erst als kulturelle Existenz begründen.
Es ist anders gekommen: Während heute immer weniger Menschen immer mehr arbeiten, werden die anderen in weitgehend perspektivlose Arbeitslosigkeit entlassen, damit in einen Zustand, der das schiere Gegenteil von eigensinniger kultureller Betätigung darstellt und sich statt dessen in der Regel auf stumpfes Warten auf bessere Zeiten reduziert. Einen wesentlichen Grund dafür orte ich in der ungebrochenen Zurichtung junger Menschen in und außerhalb der Schule auf eine einseitig gerichtete Erwerbslaufbahn, die keinen Platz für eine kulturell begründete Existenz abseits der Logik des Arbeitsmarktes lässt.
Schon bald wird (fast) jede menschliche Tätigkeit auf Maschinen übertragbar sein – eine riesige Chance für Kunst und Kultur?
Dabei ist die Dramatik der Entwicklung kaum zu überschätzen. Während es bislang vor allem Routinetätigkeiten waren, die auf die Maschine übertragbar erschienen, erfasst die Digitalisierung zunehmend Facharbeitertätigkeiten und wird früher oder später auch die Akademikerberufe erfassen. Eine aktuelle Dokumentation zur digitalen Revolution in ARD geht davon aus, dass in den nächsten 20 Jahren rund 50 Prozent der aktuellen Arbeitsplätze von Maschinen übernommen worden sein werden. Daraufhin ausschließlich nach mehr Kreativität der verbleibenden MitarbeiterInnen als einzig verbleibende Ressource zu rufen, scheint mir angesichts der schieren Größenordnungen (ganz ungeachtet des ungebrochenen Normierungs- und Standardisierungswahns in der überwiegenden Anzahl der Unternehmen) fast schon mehr als Bestätigung der herrschenden Neoliberalismusdoktrinen denn als deren Überwindung. Und es zeichnen sich erste politische Strategien ab: Nachdem in Österreich die Forderungen nach einem arbeitslosen Grundeinkommen weitgehend verschwunden sind, weist Finnland mit der Vergabe eines bedingungslosen Grundeinkommens einen neuen Weg, dem sich demnächst auch die Niederlande anschließen wollen.
Zumindest diese Länder reagieren auf Indizien, dass das Ausmaß an arbeitsfreier Zeit, die mehr sein will als Warten auf Erwerbsarbeit, beträchtlich zunehmend wird. Was aber werden die betroffenen Menschen mit dieser Zeit anstellen: Werden sie in dieser Zeit vor allem ihre Opferrolle als sozial Ausgeschlossene zelebrieren oder kann es gelingen, mit ihnen neue Kulturräume zu eröffnen, die sie – ganz entgegen den herrschenden neoliberalen Zwängen – das tun lassen, was sie immer schon tun wollten bzw. nie für möglich gehalten hätten, einmal allein und/oder mit anderen zu tun.
Eigentlich ein riesiges Aufgabenfeld für eine perspektivische Kulturpolitik, die sich nicht auf einige wenige pragmatische Lösungsansätze für ausgewählte KünstlerInnenfraktionen (so wichtig das im Einzelnen sein mag) beschränken möchte. In der Befassung solch grundlegender Fragen würde eine kulturpolitische Diskussion wieder dort ansetzen, wo das neoliberale Elend begonnen hat und man noch glaubwürdig behaupten konnte, Kulturpolitik wäre Gesellschaftspolitik.
Eine zweite Podiumsdiskussion im Rahmen der Wintertagung hat sich mit Fragen des Verhältnisses von Kultur- und Migrationspolitik beschäftigt. Darüber möchte ich in meinem nächsten Blog nachdenken.
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