Kunst braucht keinen Pass
In seinem Buch „Lob der Grenze“ aus 2012 beschäftigt sich der Philosoph Konrad Paul Liessmann mit einem, von ihm diagnostizierten falschen „Pathos der fallenden Grenzen“. Einem solchen hält er entgegen, dass Grenzen nicht nur die Voraussetzung von Identität, sondern auch die Grundbedingung für trennscharfes Unterscheidungsvermögen seien. Niedergerissene Grenzen würden zumeist nur ein „Interesse verschleiern“; stattdessen sollten wir wieder lernen, Grenzen zu erkennen und Unterschiede zu beschreiben.
Nun beruhen Fragen der Ästhetik ganz unmittelbar auf einem ausdifferenzierten Urteilsvermögen. Entsprechend sind künstlerische Prozesse auf Grenzziehungen angewiesen. Zugleich betreiben sie ein Spiel mit eben diesen Grenzen. KünstlerInnen versuchen Grenzen zu durchbrechen, zu unterlaufen, durchlässig zu gestalten oder auf neue und unerwartete Weise zu ziehen. Damit machen sie deutlich, dass Grenzen keine vorgegebenen Größen sind, sondern in einem dynamischen Prozess auf immer wieder neue Weise abgerissen und neu gezogen werden wollen. Es gilt also, unser Urteilsvermögen entlang permanent sich verändernden Verhältnissen wach zu halten.
Wenn es aber der Kunst aufgegeben ist, mit den sie bestimmenden Grenzziehungen in spielerischer Weise umzugehen, so gilt das möglicherweise auch für den kulturpolitischen Kontext. Immerhin spricht viel dafür, dass selbst zentrale Vorstellungen staatlichen kulturpolitischen Handelns heute in Frage gestellt werden, was freilich nicht heißt, dieses wäre grenzenlos geworden.
Kultur Innen. Kultur Außen
Um das Verhältnis von Kunst, Kulturpolitik und Grenzziehungen etwas detaillierter mit Freunden und Partnern zu verhandeln, hat EDUCULT zu einem kleinen Symposium mit dem Titel „Innen Kultur. Außen Kultur. Und dazwischen? Entgrenzungen und Spielräume in den Künsten und der Kulturpolitik“ in den Heiligenkreuzerhof der Universität für angewandte Kunst in Wien eingeladen.
In der Vorbereitung meines einleitenden Statements bin ich auf ein Gedicht des Autors Wolfgang Schmeltzl gestoßen, der im 16. Jahrhundert in Wien u.a. biblische Theaterstücke verfasst hat. Er erzählt in seinem „Lobspruch auf die Stadt Wien“ vom bunten Treiben am „Lugeck“, dem damaligen Ausschauplatz der WienerInnen an den Gestaden der Donau, deren Flusslauf damals bis vor die Tore der Stadt heranreichte: „Ans Lugeck kam ich von ungefähr/Da gingen Kaufleut' hin und her/In fremder Kleidung bunterlei/Und sprachen fremde Sprachen dabei/Ich dacht', ich wär' nach Babel kommen/Wo Sprachenwirrnis Anfang genommen/Und hört' ein seltsam Geträtsch, Geschrei/Auch schöne Sprachen mancherlei/Hebräisch, Griechisch und Lateinisch, Deutsch, Französisch/Türkisch, Spanisch, Böhmisch, Windisch, Italienisch/Ungarisch, gut Niederländisch/Natürlich Syrisch/Croatisch, Serbisch, Polnisch und Chaldäisch/Des Volk's war da die große Menge…“
Ganz offensichtlich gab es schon damals offene Grenzen, was Menschen aus aller Herren Länder ermöglichte, sich in Wien aufzuhalten und sich in ihrer Sprache zu verständigen. Dass alle diese unterschiedlichen Nationalitäten völlig unhinterfragt unter „Volk“ subsummiert wurden, könnte den Rechtspopulisten von heute zu denken geben. Seither haben sich Grenzziehungen auf vielfältigste Art ganz aufgelöst, andere wurden verändert, wieder andere sind neu dazugekommen. Und wir werden auf immer neue Weise darauf gestoßen, dass – im Sinne Liessmanns – Grenzen notwendig sind, zugleich dass sie einem laufenden Wandel unterliegen. Wir erfahren, dass diese Prozesse emotional hoch aufgeladen sind, im Versuch, Sicherheit zu schaffen ebenso wie im verunsichernden Verlust scheinbar naturgegebener Ein- und Ausschlusskriterien (offensichtlich einer der zentralen Gründe für das Aufkommen kollektiver Ängste in einer wirtschaftsliberal forcierten Globalisierung).
Kulturpolitik und seine Grenzziehungen
Um auf das Verhältnis von Kulturpolitik und dem Bedarf der Grenzziehung näher einzugehen, könnte es Sinn machen, sich noch einmal die ersten Nachkriegsjahre in Österreich zu vergegenwärtigen. Staatliche Kulturpolitik wurde damals anhand sehr starrer Grenzziehungen definiert. Sie wurde konzipiert als ein zentraler Baustein der kollektiven Identitätsbildung einer auf dem Boden liegenden Nation. Sowohl nach innen als auch nach außen wollte man ein schönes und ein hehres Österreichbild präsentieren, dass sich positiv abzuheben suchte von den Gräuel der Nazi-Diktatur und der blinden Zerstörungswut des Weltkriegs. Im schönsten Licht erscheinen sollte noch einmal der von Hugo von Hofmannsthal bereits 1916 eindrucksvoll vom Preußen abgegrenzte „wahre Österreicher", der zuallererst in einer besseren Vergangenheit gesucht wurde. Entsprechend meinte der erste Pen-Club-Präsident nach 1945, Alexander Lernet-Holenia: „In der Tat brauchen wir nur dort fortzusetzen, wo uns die Träume eines Irren unterbrochen haben, in der Tat brauchen wir nicht voraus- sondern nur zurückzublicken.“
Man war damals durchaus nicht zimperlich bei diversen Grenzziehungen, wenn ein eigenes Gesetz gegen Schmutz und Schund vor allem die österreichische Jugend vor neuen kulturellen Ausdrucksformen wie Jazz, Comic oder den Angeboten der US-Filmindustrie zu bewahren suchte. Wer sich den Vorstellungen der damaligen Kulturwächter nicht fügen wollte, hatte kaum Chancen sich künstlerisch zu artikulieren; allenfalls wurde den frühen VertreterInnen einer Gegenkultur geraten, „doch hinüber zu gehen“ (gemeint war die Unterstellung, sie würden mit ihrer kritischen Haltung den kommunistischen Machtbereich unterstützen).
Die kulturpolitischen Grenzziehungen sollten sich im Gefolge der SPÖ-Alleinregierung 1970/71 nachhaltig verändern. Der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky sprach von der Notwendigkeit einer „durchaus radikalen Kulturpolitik“, die darauf gerichtet sein sollte, bestehende materielle ebenso wie geistige Grenzziehungen zu überwinden. Es kann dies als Beginn der liberalen Ära österreichischer Kulturpolitik angesehen werden, die den Ausbau des öffentlichen Fördersystems ebenso mit sich brachte wie das Ende einer kurzschlüssigen Instrumentalisierung des Kunstschaffens für die nationale Identitätsbildung. Auf diese Weise entstand eine vielfältige, zumindest in Teilen durchaus gesellschaftskritische KünstlerInnen-Szene, die selbst durch Zensurversuche konservativer Kräfte in ihrem Autonomiestreben nicht mehr nachhaltig irritiert werden konnte. Mehr und mehr österreichische KünstlerInnen ließen sich in ihrer Tätigkeit nicht mehr auf die engen Grenzen des Kleinstaates Österreich beschränken; sie machten sich auf die Suche nach europäischen und internationalen Austauschbeziehungen und ermöglichten damit eine nachhaltige „Durchlüftung des altdeutschen Wohnzimmers“ (Gerhard Fritsch).
In diese Zeit fällt auch eine getrennte Aufgabenzuschreibung von österreichischer Kunstförderung einerseits und Auslandskulturförderung andererseits. Während erstere 1982 im Rahmen des Bundeskunstförderungsgesetzes ihre legistische Ausgestaltung fand, fungierte die Auslandskultur die längste Zeit als eine „dritte Säule“ der Außenpolitik, um das Image Österreichs in der Welt im besten Licht erscheinen zu lassen (das Bundeskunstförderungsgesetz selbst lässt entsprechend Maßnahmen unerwähnt).
Während sich das kulturpolitische Geschehen in den 1970er Jahre noch auf eine Verbesserung der beruflichen Realisierungschancen österreichischer KünstlerInnen konzentriert hat, verschwimmen in der Folge zunehmend die Grenzen.
So wurde in den 1980er Jahren der deutsche Regisseur Claus Peymann mit der Direktion des Burgtheaters (gerne als die erste deutsche Bühne apostrophiert) betraut. Noch einmal erhoben die konservativen Kohorten ihr Wehklagen; sie orteten das Ende eines spezifisch österreichischen Theaterstils, dem eine Reihe typisch österreichischer Theaterlieblinge zum Opfer fallen würden. Da half wenig, dass sich Peymann wie kein Direktor vor ihm um die Pflege österreichischer TheaterautorInnen wie Bernhard, Turrini, Jelinek oder Schwab bemühte.
Aber auch Museumsneugründungen waren auf namhafte Mitwirkung von Ausländern angewiesen, wenn etwa das mumok bis zum heutigen Tag wesentlich auf der Sammlung des deutschen Schokoladefabrikanten Peter Ludwig basiert. Einen bislang eherne Grenzen verletzenden Skandal verursachte auch Kommissär Peter Weibel, der 1993 neben Christian Philipp Müller und Gerwald Rockenschaub u.a. die institutionenkritische amerikanische Künstlerin Andrea Fraser im Österreich-Pavillon der Biennale in Venedig präsentierte.
Kommt die liberale Aufbruchstimmung an ein baldiges Ende?
Spätestens mit der Mitgliedschaft Österreichs bei der Europäischen Union ist eine Reihe von AusländerInnen dem Ruf auf ProfessorInnen-Stellen an den Musik- und Kunstuniversitäten gefolgt; zugleich ist das Programm ehedem typisch österreichischer Kulturtempel zunehmend international ausgerichtet. Selbst die großen Museen mit ihren immer durchaus internationalen Sammlungen möchten sich als Hubs im internationalen Kunstbusiness positionieren. Und so schwammen bis vor wenigen Wochen im Becken vor dem Belvedere die Schwimmwesten Ai Wei Weis, ohne dass noch jemand die Frage aufwerfen würde, was die Arbeiten des chinesischen Systemkritikers mit Österreich zu tun hätte (immerhin mag die kuratorische Absicht darin gelegen haben, ein breiteres Bewusstsein auch in Österreich für die skandalöse Behandlung von Bootsflüchtlingen im Mittelmeer, künstlerisch umgesetzt von einem international tätigen Provokateur, herzustellen).
Weitgehend internationalisiert hat sich auch das Publikum; in der Wiener Staatsoper rekrutiert es sich zumindest zu 70 Prozent aus dem Ausland und trifft bei Aufführungen mit KünstlerInnen aus der ganzen Welt zusammen; geleitet wird das Haus von einem Direktor, dessen nationale Wurzeln auch nicht in Österreich zu finden sind. Und doch verhandeln wir das Opernhaus (wohl in erster Linie ob seiner Traditionspflege) als typisch österreichische Einrichtung.
Diese neue Qualität der internationalen Durchmischung entspricht durchaus dem Befund der beim Symposium anwesenden KünstlerInnen, die unisono davon berichtet haben, dass sich die nationalen Grenzen ihrer Tätigkeitsfelder weitgehend aufgelöst haben. Als Teil einer internationalen Community verstünden sie sich auch im Bemühen der Auslandskulturpolitik, Österreich in der Welt zu vertreten, immer weniger als RepräsentantInnen einer nationalen Entität. Im Zuge dieser Auflösungserscheinungen nationaler Grenzziehungen im Kunstbereich (eine Entwicklung, die durchaus konform geht mit einer internationalen Kunstmarktlogik) tut sich staatliche Kulturpolitik zunehmend schwer, sich als ein „Bollwerk kultureller Identität“ entgegen zu stellen.
Und was sind die Konsequenzen für staatliches kulturpolitisches Handeln?
In den Rückmeldungen der anwesenden VertreterInnen der Auslandskulturpolitik (VertreterInnen der Kunst- und Kultursektion des Bundeskanzleramtes waren leider nicht erschienen) wurde mir nicht klar, ob die Konsequenzen dieser neuen Qualität der Offenheit für künftiges staatliches Handeln bereits hinlänglich antizipiert werden. Angesprochen wurde zwar eine vorsichtige konzeptionelle Neuausrichtung der Auslandskulturpolitik weg von Repräsentation hin zu Austausch. Inwieweit das aber schon genügt, um nationalstaatliches Handeln in einem sich weitgehend international auflösenden Kunstfeld künftig zu legitimieren, lässt sich beim gegenwärtigen Stand der Diskussion noch nicht sagen. Vorerst bleibt der ganz pragmatische Vorteil der Wahlmöglichkeit für antragstellende KünstlerInnen, die bei mehreren staatlichen Stellen Ansprechpartner finden.
Die Frage künftiger nationaler Grenzziehungen (vor allem in Form von an nationale Zugehörigkeiten gebundene Förderkriterien) erweist sich dort als besonders brisant, wo die nächstgrößere politische Einheit, die Europäische Union, bislang über keine genuine kulturpolitische Zuständigkeit verfügt. Sie verfügt demnach über keine Kompetenz einer neuen transnationalen Grenzziehung (auch wenn von Befürwortern des europäischen Integrationsprozesses immer wieder die Notwendigkeit eines spezifisch europäischen Narrativs hervorgehoben wird). Und so stehen alle beteiligten Akteure vor dem wachsenden Widerspruch zwischen einer sich zunehmend europäisierenden bzw. internationalisierenden Kunstszene und dem Fortbestand nationaler Förderregime, die immer weniger in der Lage sind, auf das, was künstlerisch der Fall ist, adäquat zu reagieren.
Vielleicht noch bedeutender aber ist der wachsende Einfluss rechtspopulistischer Akteure, die neuerdings die kulturelle Hegemonie für sich beanspruchen. Ihnen geht es angesichts der wachsenden Verunsicherung der nationalen Bevölkerung um die Wiedererrichtung überkommener Grenzziehungen auch und gerade im Kulturbereich: Entlang eindeutiger ethnisch-kultureller Zuschreibungen sollen die sich auflösenden gesellschaftlichen Gefüge neu strukturiert und hierarchisiert werden. Damit geht es ihnen in diametraler Entgegensetzung zur angedeuteten Internationalisierung des Kunstfeldes um das (Wieder-)Auseinanderdividieren von Menschen anhand scheinbar naturgegebener ethnischer Unterschiede, die von nationalen Kulturpolitiken gepflegt und vertieft werden sollen. Beispielhaft findet sich im aktuellen Wahlprogramm des Vorsitzenden der niederländischen Freiheitspartei Geert Wilders die Absicht, im Fall des Sieges seiner Partei die öffentliche, auf internationale Kooperation bezogene (siehe oben) Kunstförderung durch den Staat völlig einzustellen.
Hilfe, die Homogenisierer kommen!
Mit dieser kursorischen Verlaufsskizze lässt sich zeigen, dass nach einer Phase enger Grenzziehung die bis heute anhaltende liberale Phase der Kulturpolitik zur Relativierung, wenn nicht Auflösung bislang ehern erscheinender nationaler Grenzziehungen geführt hat. Im Unterschied zu Liessmann war dies jedoch nicht mit einem „Pathos der fallenden Grenzen“ verbunden, sondern vielmehr mit den Notwendigkeiten einer zeitgenössischen Kunstproduktion, die bestehende Grenzziehungen nicht nur in Frage stellt und überwindet, sondern zunehmend mit neuen Grenzziehungen konfrontiert (an manchen von ihnen sogar beharrlich selbst beteiligt ist, etwa wenn es um den Gegensatz von Kunstproduktion und Rezeption geht).
Es muss an dieser Stelle nicht mehr besonders betont werden, dass der wachsende Zuzug von ZuwandererInnen im liberalen Anspruch prinzipieller Gleichwertigkeit die Befragung von bestehenden Grenzregimen ebenso befördert wie diese unter rechtskonservativen und rechtspopulistischen Vorzeichen aufs Neue etabliert werden wollen. Weder nationale noch internationale Kulturpolitik hat den demographischen Veränderungen bislang hinreichende Aufmerksamkeit geschenkt. Das rächt sich heute, wenn angesichts der aktuellen kulturpolitischen Offensive der Rechten zur Rehomogenisierung nationaler Gesellschaften keine Alternativen zur Verfügung stehen. Gefragt sind jedenfalls Kulturinnenpolitik und Kulturaußenpolitik – gemeinsam und jede für sich.
Wolfgang Schneider hat in seinen Ausführungen einen internationalen Pass für KünstlerInnen gefordert, der dieser Berufsgruppe erlauben sollte, sich frei über die nationalen Grenzen hinweg zu bewegen. Der Künstler Oliver Ressler hat darauf mit Joseph Beuys geantwortet, wonach jeder Mensch ein Künstler sei und daher ein Anrecht auf einen solchen Pass haben sollte. Vielleicht genügt ja fürs Erste, sich daran zu erinnern, dass – siehe die Schilderung Wolfgang Schmeltzls – Mobilität schon einmal eine Selbstverständlichkeit war und Wien sich anhand dieser Tradition den Status eines „Melting Pot“ und damit als eines Ortes der kosmopolitischen Begegnung erworben hat. Eine überfällige Neukonzeptionierung des Verhältnisses von Kulturinnen- und Kulturaußenpolitik könnte eine Menge davon lernen.
Wenn mit dem Symposium ein kleiner Denkanstoß für die Brisanz der Situation gegeben werden konnte, dann ist schon viel getan. EDUCULT möchte jedenfalls gerne dran bleiben.
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