Kunst, Kultur und Grenzen – Warum Grenzen für ein lebendiges Zusammenleben notwendig sind
Die Beziehungen zwischen Österreich und der Türkei reichen weit zurück, genaugenommen bis zum Osmanischen Reich und Österreich-Ungarn. Diese Beziehung war oft von erheblichen Spannungen geprägt, wobei Grenzen errichtet und niedergerissen wurden, insbesondere auf dem Balkan, der dabei ein zentraler Konfliktherd war. Doch jenseits der politischen Machtkämpfe fand stets ein wirtschaftlicher und kultureller Austausch statt, der die lokalen Bevölkerungen bereicherte und es den Menschen ermöglichte, sich über die Grenzen hinweg zu verbinden.
Ich möchte mich zunächst auf einen Ort im Herzen der österreichisch-ungarischen Monarchie konzentrieren. Wenden wir uns dem Ort Lugeck zu, benannt nach einem Gebäude, von dem aus der Schiffsverkehr auf der Donau beobachtet werden konnte. Hier schrieb der Dichter Wolfgang Schmeltzl ein Gedicht mit dem Titel „Lob der Stadt Wien in Österreich“.
Ans Lugeck kam ich von ungefähr, / Da gingen Kaufleut’ hin und her, / In fremder Kleidung bunterlei, / Und sprachen fremde Sprachen dabei, / Ich dacht’, ich wär’ nach Babel kommen, / Wo Sprachenwirrniß Anfang genommen, / Und hört’ ein seltsam Geträtsch, Geschrei, / Auch schöne Sprachen mancherlei. / Hebräisch, Griechisch und Lateinisch, / Deutsch, Französisch, Türkisch, Spanisch, / Böhmisch, Windisch, Italienisch, / Ungarisch, gut Niederländisch, / Natürlich Syrisch, Croatisch, / Serbisch, Polnisch und Chaldäisch. / Des Volk’s war da die große Menge…
In Schmeltzls Worten erleben wir ein vielfältiges Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft in der mitteleuropäischen Stadt Wien. Diese Darstellung aus der Zeit vor 500 Jahren zeigt Wien als Drehscheibe des Güterverkehrs und als Ort der Vielfalt, lange bevor Konzepte wie die Multitude von Hardt und Negri bejubelt wurden.
Auch wenn wir keine Informationen darüber haben, wie die einheimische Bevölkerung reagierte, zeichnet diese Beschreibung das Bild eines „Schmelztiegels“, der im 19. Jahrhundert besondere Bedeutung erlangte, als die Bevölkerung Wiens von etwa 80.000 auf zwei Millionen anwuchs und Vielfalt zu einer wertvollen Ressource wurde.
Ich persönlich komme aus einem kleinen Staat im Herzen Europas, in dem „die große [Welt] ihre Probe hält“, wie Friedrich Hebbel es ausdrückte. Die Gründung dieser politischen Entität war nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Monarchie keine Selbstverständlichkeit. Erst in mühsamen Verhandlungen fand es seine politische Vertretung innerhalb der durch die Versailler Verträge vorgegebenen erzwungenen Grenzen.
Erlauben Sie mir, einen kurzen Überblick über die österreichische Geschichte zu geben, um zu verdeutlichen, dass Kultur und Grenzen miteinander verwoben sind. Mehr noch, mit ungleichen Machtverhältnissen verwoben sind.
Die österreichisch-ungarische Monarchie wird aufgrund ihres multikulturellen Charakters, der verschiedene Sprachen, Religionen und Kulturen umfasste, oft als Vorläufer der Europäischen Union betrachtet. Dies lässt sich auch am Titel von Kaiser Franz Joseph ablesen:
Franz Joseph I., von Gottes Gnaden Kaiser von Österreich, König von Ungarn und Böhmen, König der Lombardei und Venedigs, von Dalmatien, Kroatien, Slawonien, Galizien, Lodomerien und Illyrien; König von Jerusalem, etc. Erzherzog von Österreich; Großherzog von Toskana und Krakau; Herzog von Lothringen, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Krain und Bukowina; Großfürst von Siebenbürgen; Markgraf von Mähren; Herzog von Ober- und Niederschlesien, von Modena, Parma, Piacenza und Guastalla, von Auschwitz und Zator, von Teschen, Friaul, Ragusa und Zara; Fürstlicher Graf von Habsburg und Tyrol, von Kyburg, Görz und Gradisca; Fürst von Trient und Brixen; Markgraf der Ober- und Niederlausitz und in Istrien; Graf von Hohenems, Feldkirch, Bregenz, Sonnenberg, etc. Herr von Triest, Cattaro und auf der Windischen Mark, Großwojwode der Wojwodschaft Serbien etc. etc.
Dieses kulturell komplexe Reich in der Mitte Europas wurde durch den Anspruch auf deutsche Vorherrschaft zusammengehalten. Wachsende Ansprüche auf Selbstbestimmung führten zu zunehmenden Fliehkräften innerhalb dieses „Vielvölkerstaates“. Es entstanden mehrere nationale Kulturen, die im Machtkampf gegen eine überlegene deutsche Elite eingesetzt wurden. Diese Kulturen grenzten sich durch unterschiedliche Sprachen, Musik, Verhaltensweisen und Bräuche ab, in der Hoffnung, politischen Einfluss zu erlangen.
Wir sehen, dass Kultur politisch instrumentalisiert werden kann, um neue Grenzen zu schaffen und als Mittel zur Durchsetzung politischer Interessen zu dienen. Auf die extreme Eskalation im 20. Jahrhundert, als totalitäre Tendenzen in Österreich eine extreme Form der gesellschaftlichen Spaltung darstellten, möchte ich nicht näher eingehen. Das Ziel war nicht Inklusion, sondern Segregation, ja sogar die Vernichtung derjenigen, die nicht den vorgegebenen Zuschreibungen entsprachen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es einem kleinen, zerstörten Land im Herzen Europas, eine einzigartige kulturpolitische Erfolgsgeschichte in Gang zu setzen. Durch die Nutzung des kulturellen Erbes des ehemaligen multiethnischen Reiches wurde die Kultur zu einem bestimmenden Merkmal der politischen Identität des Landes. Damit sollte die tiefe Verstrickung der Österreicher*innen in die Gräueltaten des NS-Terrors verschleiert werden. Österreich positionierte sich als „Land der Sänger und Geiger“, um sich national zu profilieren und ein attraktives Alleinstellungsmerkmal (USP) zu präsentieren. Hier zeigt sich eine weitere Instrumentalisierung der Kultur – nicht zur Politisierung, sondern zur Entpolitisierung.
Hinter dieser Idealisierung der politischen Unschuld wird jedoch deutlich, dass die Mehrheit der Österreicher*innen von dem, was man damals als Staatskultur bezeichnete, ausgeschlossen war. Es gab eine klare Trennung zwischen verschiedenen sozialen Gruppen: Kultur war in erster Linie einer kleinen Gruppe wohlhabender, gebildeter Bürger*innen gewidmet – dem selbsternannten Elite-Bürgertum. Auf der anderen Seite stand die große Mehrheit der so genannten ungebildeten Arbeiter, denen billige Produkte der Unterhaltungsindustrie angeboten wurden – das, was wir heute als Produkte der Kulturindustrie bezeichnen. Dies verdeutlicht, wie die Kultur Grenzen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen oder Klassen, wie sie damals genannt wurden, aufbaute.
Diese Trennung begann sich in den 1970er Jahren mit einer linksdemokratischen Reformpolitik zu ändern, die „Kultur für alle“ versprach. Neue kulturpolitische Konzepte zielten darauf ab, kulturelle Barrieren abzubauen, die in den bestehenden Machtverhältnissen innerhalb der Gesellschaft begründet waren. Der zugrundeliegende politisch-konzeptionelle Ansatz war die Etablierung eines wohlfahrtsstaatlich geprägten Kulturstaates, der sowohl materiell als auch immateriell umverteilt. Ziel war es, dass alle Menschen in die Mittelschicht aufsteigen und sich gegenseitig kulturell anerkennen.
Die politische Erwartung war eine Homogenisierung der Gesellschaft mit einer wachsenden Zahl von Menschen, die ein gemeinsames kulturelles Wertesystem teilten, das für alle ungehindert zugänglich war. Insgesamt herrschte die kulturpolitische Erwartung einer Integration vor, die zumindest eine Relativierung der kulturellen Unterschiede und bestenfalls gegenseitiges Verständnis, Wertschätzung und Bereicherung mit sich brachte.
Ironischerweise kamen in dieser Zeit Züge mit jugoslawischen und türkischen Arbeiter*innen, den so genannten „Gastarbeiter*innen“, in Wien an, deren kulturelle Besonderheiten in der breiten Öffentlichkeit jedoch nicht wahrgenommen wurden. Der Fokus lag damals auf der Integration der autochthonen Minderheiten, wie etwa der Slowen*innen, Kroat*innen oder Jüd*innen.
Spätestens in den 1980er Jahren war es mit den Reformhoffnungen vorbei. Österreich erlag verspätet der neoliberalen Dynamik, die zu einer zunehmenden Ökonomisierung aller Lebens- und Arbeitsbereiche führte. Beschleunigt wurde dies durch den Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 1995. Der Staat zog sich allmählich zurück, während sich die Wettbewerbsbedingungen verschärften.
Die freie Marktwirtschaft durchdrang den öffentlich geförderten Kultursektor und führte dazu, dass dieser seine Funktion als symbolische Darstellung des Zusammenhalts zwischen den sozialen Gruppen verlor. Stattdessen wurde sie Teil einer expandierenden Angebotsstruktur innerhalb einer zielgruppenorientierten Freizeitindustrie, die gesellschaftspolitisch aufgeladene Kultur in eine Ansammlung von kulturellen Gütern und Dienstleistungen verwandelte. Die Kultur schien ihre politische Potenz zu verlieren.
Als wesentliches kulturpolitisches Ergebnis wurde eine neue Klassifizierung für die Relevanz von Kultur dominant, nicht neben der politisch definierten Klassenstruktur, sondern neben unterschiedlichen Konsumverhaltensweisen. Alle, die sich mit Konsumbeziehungen beschäftigen, kennen die „Sigma-Studien“, die unterschiedliche Konsumverhaltensweisen mit bestimmten kulturellen Präferenzen verbinden.
Die emanzipatorische Dimension des Slogans „Mehr Markt, weniger Staat“ bestand in der Überwindung von Konzernstrukturen. Weniger Grenzen, auch zwischen verschiedenen kulturellen Eigenheiten bei entsprechender sozialer Herkunft, war die Botschaft. Jede*r – unabhängig von ethnischer, religiöser, geschlechtlicher, altersmäßiger oder sonstiger Abgrenzbarkeit – konnte und sollte das sich ständig erweiternde Kulturangebot nutzen, sofern er oder sie in der Lage ist, die Mittel dafür aufzubringen.
Gleichzeitig änderte sich die Bedeutung dessen, was wir früher als Kultur verhandelten. Es war nicht mehr politisch aufgeladen, sondern wurde immer beliebiger, als es nun als Produkt wie Seife oder Nägel für jedermann erhältlich war.
Immer weniger Menschen glaubten daran, dass mit Hilfe der Kultur wieder so etwas wie ein gemeinsamer Konsens jenseits gesellschaftlicher Hierarchien geschaffen werden könnte, der die politischen Debatten beeinflusst. Das öffentliche Gut Kultur, in all seinen vielfältigen, durch Kultureinrichtungen angeregten Ausdrucksformen, wurde zunehmend dem Markt und damit den privaten Beziehungen zwischen Angebot und Nachfrage überantwortet.
Aus transnationaler Sicht wurde diese Entwicklung sowohl theoretisch als auch praktisch noch verschärft. Denn die globalen Handelsbedingungen sorgten dafür, dass Kulturgüter über die bestehenden geographischen Grenzen hinweg weithin verfügbar waren. Dementsprechend verlor das kulturelle Angebot sein gesellschaftsstrukturierendes Potenzial. Mit Hilfe der neuen technologischen Möglichkeiten wurden unvorstellbare kulturelle Räume für alle gleichermaßen und weitgehend barrierefrei zugänglich und suggerierten die Existenz einer globalen Kultur, die sich jeder Abgrenzung entzieht.
Dieser bedeutende kulturelle Wandel gipfelte in der großen Euphorie um 1989 und dem Fall des Eisernen Vorhangs. Das Ende der Geschichte schien nahe, ebenso wie die Möglichkeit einer globalen Verbrüderung und Schwesternschaft auf einem gemeinsamen Marktplatz, auf dem alle Grenzen, die zuvor aus Gründen des Machterhalts gezogen worden waren, verschwinden würden.
Theoretisch fand diese Entwicklung ihr Gegenstück im Konzept der Postmoderne, das das Ende der großen Geschichten bedeutete, um die sich die Menschen als gemeinsame Basis scharen sollten. Stattdessen waren sie gezwungen, ihre eigenen Geschichten zu erfinden und sich in alle möglichen Gruppen aufzuspalten, die nebeneinander, übereinander oder miteinander existieren konnten. In diesem neuen Kontext des „anything goes“ wurde Vielfalt zu etwas Positivem, das uns die politische Forderung nach Zusammenwachsen vergessen ließ und die durch kulturelle Unterschiede bedingte Ungleichheit scheinbar hinter sich ließ.
Es war die Zeit, in der der Individualismus florierte, je mehr Unterschiede, desto besser. Aufmerksamkeit wurde die neue Währung. Der Markt sollte als einzig verbliebenes Bindeglied fungieren, auf dem alle – unabhängig von ihren kulturellen Prägungen – zusammenkommen, ihre unterschiedlichen Werte erkennen und Austauschbeziehungen pflegen sollten.
Zusätzlich wurde eine Alternativlosigkeit propagiert, die jedes noch so unterschiedliche kulturelle Verhalten als eine besondere Form ein und derselben kapitalistischen Weltsicht im Rahmen mehr oder weniger demokratisch verfasster Verhältnisse interpretierte. (Vielleicht einer der größten kulturdiplomatischen Fehler in den Beziehungen zwischen Europa und Russland: Während der westliche Mainstream noch glaubte, es gäbe keine Alternative zum „Wandel durch Handel“, wurde in Russland die Alternative „Russki Mir“ zur kulturellen Grundlage für die Erneuerung der imperialen Ansprüche Russlands).
Diese Transformation von Theorie und Praxis wurde zusätzlich durch einen postkolonialen Diskurs aufgeladen, der deutlich machte, dass das westliche Konzept der Universalität Teil eines Machtanspruchs war und ist, der all jene diskriminiert, die nicht bedingungslose Anhänger*innen der jeweiligen Praktiken sind, und so neben Inklusion und Exklusion neue Grenzen produziert.
Es ist nicht verwunderlich, dass diese Form der Weltdeutung nicht unwidersprochen geblieben ist. Die Gegenspieler dieser neuen Verhältnisse, wie Vergleichbarkeit, Messbarkeit, Quantifizierbarkeit, Oberflächlichkeit oder gar Uniformität, auch im Bereich der Kultur, sollten spätestens mit der Verschärfung der sich zuspitzenden Krise, besonders deutlich seit dem globalen Finanzkollaps im Jahr 2008, an Bedeutung gewinnen.
Seitdem arbeiten die Vertreter*innen der modernen westlich geprägten Nationalstaaten an deren Wiederherstellung. Ihr Hauptziel ist die Bewältigung der negativen Folgen der bis dahin umgesetzten Liberalisierungstendenzen, die zunehmend sichtbar und spürbar werden.
Die Verunsicherung derjenigen, die nicht zu den Gewinner*innen dieser marktbedingten Auflösungserscheinungen gehören, ist zu groß geworden. Die Menschen fühlen sich zunehmend isoliert und verraten von den Versprechungen, die ihnen von den Befürworter*innen einer völligen Entgrenzung ihres bisherigen Handelns gemacht werden.
Ihre Lebensbedingungen haben sich massiv verschlechtert, und ihre Zukunftsaussichten werden zunehmend von apokalyptischen Endzeitszenarien überschattet. Die Angst vor der Klimakatastrophe, vor der nächsten Pandemie, vor Naturkatastrophen, vor Terroranschlägen, vor Inflation, vor dem Finanzkollaps, vor der nächsten Migrationswelle und vor dem nahenden Krieg beherrscht uns als „Erdlinge“ (Nelson Goodman).
Meiner Meinung nach ist ein umfassender – kulturell interpretierter – Differenzierungsprozess auf einem gemeinsamen Markt zu Ende gegangen. Stattdessen erleben wir eine politische Reaktion, die darauf abzielt, neue Grenzen zu schaffen und die politische Agenda einer neuen Generation von hauptsächlich rechtspopulistischen Entscheidungsträgern zu befeuern. Re-Homogenisierung, Re-Nationalisierung, Entdemokratisierung und Re-Autoritarismus kündigen eine Gegenreaktion an, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar war.
Und im kleinen Österreich? Wie in den meisten anderen Ländern ist dieser gesellschaftliche Wandel mit dem Entstehen einer Vielzahl von mehr oder weniger unvermittelten Kulturszenen einhergegangen. Deren Träger sind alle auf der Suche nach Identität – sie suchen nach Griffen, um sich in einer Gesellschaft zu verorten, die beunruhigend ist, weil sie in sich zusammenbricht. Wir sprechen nicht mehr von „Kultur für alle“, sondern von „einer Kultur ohne Zentrum“ (Enzensberger). In diesem neuen Kontext ist die Beschreibung Österreichs als „Repräsentanz einer ehemaligen Zivilisation“ zu einem touristischen Branding geworden, das mit der fragmentierten Realität der österreichischen Bevölkerung nichts zu tun hat.
Dieses Auseinanderdriften wird oft euphemistisch behandelt und die Vielfalt lediglich als positiv dargestellt, um ungleiche Machtverhältnisse zu verschleiern, die hinter kulturell vermittelten Hierarchien weiter bestehen. Verschärft wird diese Entwicklung durch die zunehmende Heterogenisierung durch Migration, die Staat und Gesellschaft vor die Herausforderung stellt, ein gedeihliches Zusammenleben trotz aller Unterschiede in Herkunft, Lebens- und Arbeitskompetenzen, Wertvorstellungen oder Zukunftserwartungen aufrechtzuerhalten, auf die die autochthone Bevölkerung nicht vorbereitet war. Dabei handelt es sich insgesamt um einen höchst widersprüchlichen Prozess, in dem der Anspruch auf Emanzipation mit zunehmender Fragmentierung und neuen Abgrenzungen koexistiert.
Insgesamt befinden wir uns in einer komplexen und widersprüchlichen Situation, in einer tiefen politischen Kontroverse zwischen demokratischer Errungenschaft und autoritärer Restauration. Daher ist es verlockend, vereinfachenden Interpretationen zu folgen.
Die deutlichsten Antworten kommen bisher von rechtspopulistischen bis rechtsextremen Parteien, die die Rückkehr zu alten Verhältnissen fordern, in denen eine homogene Kultur einer autochthonen Gesellschaft ausschlaggebend war und alle anderen Einflüsse als potentiell gefährlich und nicht integrierbar erschienen. Erstaunlicherweise können ihre Redner vergessen machen, dass es diese Vergangenheit in der Realität nie gegeben hat (daher habe ich Ihnen vom „Schmelztiegel“ des frühen 20. Jahrhunderts erzählt). Das Problem ist, dass diese Politiker*innen auf die gesellschaftliche Amnesie zählen können, die eine Wunschvorstellung von einer einheitlichen Vergangenheit hervorruft, die es nie gegeben hat.
Dabei berufen sie sich auf einen nativistischen Kulturbegriff, der sich jedem Aushandlungsprozess verweigert.
Um diese Kultur der Einfachheit zu gewährleisten, wird wieder ein starker Staat errichtet, notfalls mit autoritären Mitteln, der klare Grenzen zwischen denen, die dazugehören, und denen, die ausgeschlossen sind, ziehen kann. Das Dilemma der europäischen Migrationspolitik, neue Zäune um die „Festung Europa“ zu errichten, zeigt das ganze Ausmaß des Dilemmas.
Ein Blick auf Österreichs EU-Nachbarn wie Ungarn zeigt, worum es bei einer solchen Kulturpolitik geht: Nicht nur die Kultur- und Medienwirtschaft wird gnadenlos mit der Politik gleichgeschaltet.
Ganz zu schweigen von Putins Machtanspruch, der derzeit Grenzen sprengt – physisch und psychisch – indem er den Ukrainer*innen nicht nur ihr sprachliches und kulturelles, sondern auch ihr physisches Existenzrecht abspricht. In diesem Zusammenhang wissen Sie besser als ich über die Lage in der Türkei wenige Tage vor einer entscheidenden Wahl Bescheid.
Bevor ich mit einigen Bemerkungen zur Bewältigung dieser kulturellen Krise schließe, erlauben Sie mir – in einem kurzen theoretischen Exkurs – einige Bemerkungen zum komplexen Verhältnis zwischen Kultur und Kunst.
Eine Unterscheidung zwischen den Begriffen Kultur und Kunst erscheint mir unerlässlich. Ich sehe sie sogar als ein Paar von Gegensätzen, wenn auch eng verwandt.
Kultur neigt dazu, das, was ist (und was gewesen ist – in der Realität und in der Verklärung), in den Augen der Mächtigen zu interpretieren, wenn nicht gar zu verschärfen. Sie enthält immer ein bestätigendes, beruhigendes und begrenzendes Element.
Kunst hingegen verweist auf das, was nicht oder noch nicht ist, und damit auf das, was sein könnte oder sein sollte. Sie eröffnet einen Möglichkeitsraum (ein vom österreichischen Schriftsteller Robert Musil verwendeter Begriff), in dem nicht nur die machtbezogene Interpretation des Bestehenden zelebriert wird, sondern auch über mögliche, zu antizipierende Zukünfte reflektiert wird.
Kunst erweist sich damit als das ultimative Medium der Grenzüberschreitung, und nicht der Beseitigung derselben. Als kritische Instanz verweist sie immer wieder auf tradierte Grenzen als Ausgangsmaterial, aber in der Arbeit der Künstler*innen geht es darum, sie zu hinterfragen, zu überwinden und zwangsläufig neue Grenzen zu schaffen.
Es wäre ein großes Missverständnis, der Kunst Grenzenlosigkeit zuzuschreiben. In ihrem Anspruch, etwas Neues zu schaffen, ist Kunst zwangsläufig auf vorgegebene Grenzen angewiesen, die Künstler*innen mit ästhetischen Mitteln zu überwinden versuchen. Alles andere wäre ein Ausdruck von Willkür, die sich jedem qualifizierten Urteil verweigert.
Die österreichische Kulturpolitik hat seit den 1970er Jahren ein umfassendes Fördersystem initiiert, um das vielfältige künstlerische Schaffen, einschließlich seiner Vermittlung und Rezeption, zu fördern. Künstler*innen sollen dabei nicht nur den Erwartungen des Marktes entsprechen, sondern auch unabhängig von Politik und Markt unbequeme und kritische Fragen an die Gesellschaft und ihre Regelungsstruktur stellen können, um so zur Belebung des öffentlichen Gesprächs beizutragen.
Mit einer solchen Zuschreibung an die Kunst verweist sie auf eine Interpretation von „Kultur“, die sich nicht auf ein Set von festen Bestandteilen aus einer vermeintlich besseren Vergangenheit beschränkt, sondern diese – mit Hilfe ihrer besonderen ästhetischen Mittel – als Ausgangsmaterial für die Gestaltung des Fortschritts, wie wir ihn früher bezeichnet haben, nutzt.
Wir sollten uns vor Augen halten, dass es so etwas wie Kultur per se nicht gibt. Mein Vorschlag wäre, diesen Begriff nur im Zusammenhang mit dem Anderssein zu verwenden. Das bedeutet aber, dass wir nicht umhin kommen, Grenzen zu ziehen, nicht nur, weil sie uns eine trügerische Sicherheit geben, sondern auch, um ein Gegenüber zu finden, das eine Voraussetzung dafür ist, die kulturelle Einzigartigkeit von mir selbst wie auch von anderen anzuerkennen. Für eine solche progressive Definition von Kultur, die sich bewusst ist, dass sie in Machtverhältnisse eingebettet ist, ist die Frage „Wer spricht?“ (Gayatri Chakravorty Spivak) entscheidend.
Das heißt, Dritte Räume eignen sich nicht nur für produktive Begegnungen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten, sondern auch für alle, um die herum im Rahmen der herrschenden Arbeitsteilung höhere Zäune der Tradition, der Sprache, der Arbeitslogik oder der Ergebniserwartungen errichtet worden sind und die dennoch miteinander kommunizieren wollen – und können.
Es ist noch viel zu tun, auch in unserem Berufsfeld, zum Beispiel an den Kunsthochschulen. Um Ihnen ein praktisches Beispiel zu geben: Als ich kürzlich eine Probe von Musiker*innen an einer österreichischen Kunstuniversität besuchte, kamen Jazzmusiker*innen und Klassikstudent*innen zusammen, um gemeinsam zu improvisieren. Es wurde deutlich, wie schwierig dieses Unterfangen ist, wenn Künstler*innen aus unterschiedlichen Traditionen, Sprachen, Logiken, Praktiken und Erwartungen zusammenkommen, um gemeinsam zu schaffen. Mein Rat in dieser Hinsicht ist, den Studierenden die Möglichkeit zu geben, das Anderssein zu erfahren. Erlauben Sie ihnen nicht nur, in ihren exklusiven Kreisen zu bleiben, sondern regen Sie ihre Neugierde an, sich dem Unbekannten zu stellen, das das bereichert, was sie als das Eigene betrachten. Kurzum, fördern Sie interdisziplinäres Handeln.
Kultureinrichtungen können als öffentliche Räume einen wichtigen Beitrag gegen die Aufrechterhaltung und sogar Wiederherstellung alter Machtverhältnisse leisten. Als öffentliche Räume, die allen Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft offenstehen, können sie wieder als politische Faktoren fungieren, indem sie Unterschiede als Ausgangspunkt interpretieren, um das Konzept der Vielfalt in Einheit mit Leben zu füllen.
Und wir könnten auf das Lugeck als einen solchen Raum zurückkommen, in dem sehr unterschiedliche Menschen aus allen Teilen der Welt zusammenkommen und einander etwas zu sagen haben.
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