Kunst oder Mensch – das ist hier die Frage.
Über ein unhintergehbares Widerspruchsverhältnis, dessen Bearbeitung über die Zukunft des Kunstbetriebs entscheiden wird
Dieser Tage erlebte ich den russischen Pianisten Grigory Sokolov im Stephaniensaal in Graz. Sein Programm umfasste diesmal Mozart und Brahms, als Zugabe folgten Rameau, Schubert und Schumann. Und es stellte sich einmal mehr der Eindruck ein: Dieser Musiker ist irgendwie nicht von dieser Welt. Wenn er da allein am Instrument sitzt und spielt, kann er einfach alles. Als wäre da einer von einem anderen Stern gekommen.
Wenige Tage später spielte er das gleiche Programm im Wiener Konzerthaus. Der Musikkritiker des Standard Daniel Ender erlaubte sich eine verhaltene Kritik, wenn er anhand der Interpretation des As-Dur-Impromptus von Schubert die Wirkung der Musik als „ausgesprochen schön und zugleich schön fad“ beschreibt. Kann es sein, dass er da eine zu viel des Guten präsentiert hat?
Aber nicht um eine Musikkritik soll es hier gehen sondern um das Verhältnis von Interpret und Publikum, das Sokolov auf eine sehr eindeutige Art definiert. Im Programmheft lese ich dazu:
„Als legendär gelten sein schnelles Schreiten zur Bühne, die kurze Verbeugung und die sofortige Konzentration auf das, was seiner tiefsten Überzeugung nach im Mittelpunkt steht undstets auch stehen sollte: die Musik. Sokolov scheint in der Musik zu versinken und stellt sich selbst als Künstler und Persönlichkeit in den Schatten der „Protagonistin“ Musik: „Ich mag all die Dinge nicht, die nichts mit der Musik zu tun haben. Alles, was die Musik stört, entzieht ihr Kraft und hat keinen Platz neben ihr“.
Um Musik soll es also gehen; um nichts als um die Musik. Sokolov lässt dazu das Saallicht dämpfen. Die Körper der Zuhörer*innen sollen tunlichst zum Verschwinden gebracht werden; ihre Reaktion erschöpft sich im Schlussapplaus, der sich auch diesmal –fast als ein Befreiungsakt –als nicht enden wollend erweisen sollte.
Grigory Sokolov ist durch die traditionelle russische Pianistenschule gegangen: Das Ergebnis ist ein Körper, durch den Musik scheinbar mühelos hindurch geht und zum Klingen gebracht wird. Da will sich niemand mehr von seiner Virtuosität beeindrucken lassen, diese wird als immer schon selbstverständlich vorausgesetzt: Stattdessen will Sokolov den Eindruck einer „reinen Musik“ suggerieren, die die Zuhörer*innen in ihren Bann zieht und ihnen das Gefühl gibt, sie wären –zumindest für den kurzen Moment der Aufführung –ihrer Körperlichkeit enthoben. Die Musik, die den Stephaniensaal durchströmt, ist alles. Das Wissen, dass da ein Mensch aus Fleisch und But spielt und andere zuhören, verschwindet.
Wenn dabei Daniel Ender nicht nur der Eindruck der Schönheit sondern auch der Fadheit überkommt, so mag es u.a. daran liegen, dass in einem Rezital von Sokolov das Ringen des Menschen um Musik jeglicher Boden entzogen erscheint. Die Musik ist in vollendeter Form immer schon da; dem Interpreten ist es vorbehalten, sie möglichst rein zum Ausdruck zu bringen.
Ein solches Erlebnis ist überwältigend und es ist zugleich unmenschlich. Sokolov ist mit seiner Haltung zu Musikeiner der Vertreter einer Aufführungspraxis, die vermeint, Musik und Mensch so weit voneinander trennen zu müssen, dass sie scheinbar nichts mehr miteinander zu tun haben. Nur so könne man ihr gerecht werden.
Musik aus dem Jenseits: als Ausdruck göttlicher Vollkommenheit….
Es versteht sich fast von selbst, dass sich eine solche Auffassung von Musik jeglicher Vermittlung verweigert. Dabei besteht die Vertracktheit dessen, was sich zwischen Sokolov und seinem Publikum ereignet darin, dass der Spielende und die Hörenden zwar auf einem gemeinsamen Raum verwiesen sind, in dem sie Musik erfahren (und folglich über das Medium Musik in Beziehung treten). Zugleich muss diese Gemeinsamkeit geleugnet werden, geht es ja nicht um diejenigen, die Gemeinsamkeit herstellen sondern um die Musik, hinter die beide Seiten zurückzutreten haben. Dieses Setting richtet sich folglich gegen alle Vorstellungen, bei Musik handle es sich um eine herausragende Form der menschlichen Kommunikation, deren Aufgabe darin besteht, Produzent*innen und Rezipient*innen miteinander in Beziehung zu setzen. Stattdessen sollen sie verschwinden, um das zu ermöglichen, um was es zumindest Sokolov geht: um eine Musik jenseits der Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur, in der Hoffnung, von dort umso stärker zurückwirken zu können (eine Wirkweise, die im Glücksfall kathartische Effekte auszulösen vermag). Die Apologet*innen von Vorstellungen von Musik, die in ihr einen unmittelbar göttlichen Ursprung erkennen wollen, sind da nicht mehr weit…..
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