Kunst und Gemeinwohl
In diesen Tagen fand ein Konzert des Ensembles „Klangforum Wien“ statt. Das Kollektiv von 24 Ausnahme-Musiker*innen, das für sich beansprucht, „eine künstlerische Idee und eine persönliche Haltung, die ihrer Kunst zurückgeben möchte, was ihr im Verlauf des 20. Jahrhunderts allmählich und fast unbemerkt verloren gegangen ist“ zu verkörpern, wurde bereits 1985 von Beat Furrer gegründet – ursprünglich betitelt als „Société de l’Art Acoustique“. Im Geist einer von Kunstminister Rudolf Scholten geprägten Kulturpolitik, der die Förderung von Gegenwartskunst ein besonderes Anliegen war, entwickelte sich die Formation zu einem international hoch geschätzten Akteur zeitgenössischer Musik. Dem Klangforum Wien ist es wesentlich mit zu verdanken, dass Österreich seither nicht nur als herausragender Ort klassischer Musikpflege sondern zumindest bei einem Fachpublikum auch als ein Zentrum, dass seine Ohren am Puls der Zeit hat, geschätzt wird (es war in der Gründungszeit des Klangforums, als ein Mitglied der Londoner Guildhall-School of Music nach einem vielumjubelten Konzert der Wiener Philharmoniker bei den Salzburger Festspielen zu mir meinte: „Now I better understand the burden on the shoulders of each Austrian musician playing contemporary music in this unequal competition.“).
Bereits am Beginn der Tätigkeit des Ensembles war zumindest einigen der Musiker*innen nicht nur die Aufführung sondern gleichermaßen die Vermittlung von Musik ein besonderes Anliegen. Im Rahmen des Projektes „Klangnetze“ waren Schüler*innen in ganz Österreich eingeladen, sich mit avancierten Methoden mit „Neuer Musik“ zu beschäftigen und gemeinsam mit Musiker*innen des Ensembles zu musizieren. Viel ist in der Zwischenzeit im Feld der Musikvermittlung passiert und doch versucht das Klangforum Wien bis heute ungebrochen, das, was sie musikalisch bewegt, einem breiteren Publikum nahe zu bringen und damit die gesellschaftspolitische Relevanz der Musik des 20. und des 21. Jahrhunderts zu erhöhen.
Zum aktuellen Hype der gemeinwirtschaftlicher Ambitionen
Der Realisierung ihres jüngsten Projektes „Happiness Machine – an Animated Feature Film“ war die Beauftragung von zehn Filmemacherinnen und zehn Komponistinnen vorausgegangen. Diese gestalteten als Tandems ein genreübergreifendes Projekt aus Animationsfilm und Musik, dessen Ergebnisse im Lauf des Abends vorgestellt wurden. Eingefasst waren die Präsentationen von persönlichen Statements einzelner Ensemble-Mitglieder, die ihren Ausgangspunkt beim Thema des Gemeinwohls nahmen. Immerhin hatten sich die Musiker*innen gemeinsam dazu entschlossen, sich mit Gemeinwohl-Aspekten ihrer Arbeit zu beschäftigen, eine Gemeinwohl-Bilanz nach Christian Felbers Vorgaben zu erstellen und sich an den Konsequenzen abzuarbeiten. Und so traten in einer Inszenierung von Jaqueline Kornmüller einige der Musiker*innen an die Bühnenrampe, nicht um zu musizieren sondern um über ihren musikalischen Werdegang, ihr Verhältnis zu den übrigen Ensemble-Mitgliedern und darüber hinaus über ihre Interpretation des Zustands der Gesellschaft, in der sie leben und in der sie die Musik zur Aufführung bringen, zu sprechen. In berührenden Statements traten die Musiker*innen aus ihrer traditionellen Rolle und schafften eine persönliche Verbundenheit über den Graben hinweg, die – wie ich vermute – sowohl eine „andere“ Produktion als auch Rezeption zum Ergebnis hat.
Die Absicht, im Rahmen dieses Projektes speziell Künstlerinnen durch die Vergabe von Aufträgen zu priorisieren ist gut nachvollziehbar, da nicht nur die zeitgenössische Musikproduktion nach wie vor stark männlich dominiert erscheint. Die Entscheidung hingegen, einen Schwerpunkt auf das Gemeinwohl zu legen, bedarf einer eingehenderen Beschäftigung. Immerhin hatte der Intendant Sven Hartberger in seinem Eröffnungsstatement ein griffiges Beispiel parat, wenn er das Publikum einlud, den ökologischen Fußabdruck, den ein halbstündiger Auftritt des Ensembles in Tokyo verursacht, nachzuvollziehen.
Vielleicht gibt es ja doch Alternativen zum herrschenden wirtschaftspolitischen Kurs
Der Ex-Attac-Aktivist Christian Felber wirbt seit geraumer Zeit – zum Teil gegen heftigen Widerstand des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams – für eine andere Form des Wirtschaftens. Dessen Erfolg soll sich nicht ausschließlich im Ausmaß einseitig quantifizierbarer Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts festmachen lassen. Statt auf eine unendliche Fortsetzung einer Ökonomisierung aller Lebensbereiche zu vertrauen und dabei den unwiederbringlichen Verlust an nicht erneuerbaren Ressourcen, aber auch an Lebensqualität von immer mehr Menschen in Kauf zu nehmen, entwickelte Felber die Umrisse einer „Gemeinwohl-Ökonomie“, deren erstes Ziel in der Herstellung nachhaltiger Produktions- und Konsumptionsbedingungen besteht. Entstanden ist so ein kleiner Hype alternativer Wirtschaftsformen, wobei in einer breiteren öffentlichen Diskussion gerne auf Bhutan verwiesen wird. Dort haben sich die Machthaber dazu entschlossen, traditionelle Messmethoden wirtschaftlicher Prosperität durch Indikatoren des subjektiven und kollektiven Wohlbefindens zu ersetzen. Entsprechend vermochte das kleine geheimnisvolle Land am Fuße des Himalaya mit seinem Bruttosozialglück Aufmerksamkeit in den internationalen Medien zu erregen. Felber selbst benutzt für die Erstellung von Gemeinwohl-Bilanzen eine Reihe außerökonomische Indikatoren, die von der Wahrung der Menschenrechte, solidarischem und ökologischem Handeln auch Aspekte der demokratiespezifische Aspekte wie soziale Gerechtigkeit und Mitbestimmung sowie Transparenz reichen. Eine Reihe von Unternehmen ganz unterschiedlicher Branchen z.B. die Sparda-Bank München oder der Outdoor-Ausrüster „VAUDE“ sind mittlerweile seinen Vorgaben gefolgt, obwohl diese von traditionellen wirtschaftlichen Interessensgruppen heftig kritisiert werden.
Wider die Geschichtsvergessenheit: Gemeinwirtschaft als zentraler Anspruch der Arbeiterklasse
Blickt man etwas zurück in die Geschichte, dann wird rasch deutlich, dass es sich bei Felbers Initiative um keine gesellschaftspolitische Innovation handelt. Immerhin begleitete eine gemeinnützige Genossenschaftsbewegung den Aufstieg der Arbeiterklasse seit ihrem Beginn. Entsprechend groß war ein am Gemeinwesen orientierter Anspruch vor allem einer progressiven Politik, die sich einst als eine machtvolle Gegenkraft gegen die unbedingte Durchsetzung einer liberalen Wirtschaftslogik gesehen hat, die bereit war, notfalls über Leichen zu gehen. Ihre institutionellen Errungenschaften konnte man bis in die 1980er Jahre in Form von Unternehmen wie der Handelskette „Konsum“, dem Wohnbaukonzern „Neue Heimat“ oder der „Bank für Wirtschaft und Soziales“ (in Österreich BAWAG) besichtigen, bevor sie in ihrer großen Mehrheit in den wirtschaftlichen Ruin schlitterten. Retrospektiv wird deutlich, dass der Niedergang der großen Gemeinwirtschaftsunternehmen einherging mit einer neoliberalen Wende vor allem nach 1989, die zunehmend auch den Bereich der Politik erfasste. Immer weniger sahen sich Politiker*innen in der Lage, eine überzeugende Alternative zur Verwirtschaftlichung aller Arbeits- und Lebensbereiche zu formulieren und durchzusetzen. Entsprechend hilflos mussten sie dem Ausverkauf von Gemeinwirtschafts-Konzepten und ihren institutionellen Repräsentationsformen zusehen. Dabei ahnten sie in der Regel nicht, dass ihnen damit eine zentrale Machtbasis bei der Aufrechterhaltung politischer Eigensinnigkeit in einer durchökonomisierten Gesellschaft abhanden zu kommen drohte (Der sogenannte „Dritte Weg“, den Tony Blair oder Gerhard Schröder angesichts einer nunmehr als alternativlos beschriebenen kapitalistischen Verfasstheit der nationalen Gesellschaften sind dafür der bislang eindrücklichste Beleg). Das weitgehende Zusammenfallen von wirtschaftlicher und politischer Handlungslogik macht verständlich, dass das Konzept der Gemeinwirtschaft, mit dem die Klasse der sozial Benachteiligten einst angetreten ist in den Chefetagen seine Funktion als Leuchtmittel bei der politischen Gestaltung einer besseren Gesellschaft weitgehend verloren hat.
Angesichts der wachsenden Spur der Verwüstung, die das kapitalistische Wirtschaftssystem hinter sich her zieht, lässt einerseits das Vertrauen in etablierte Politik immer weiter schrumpfen. Es sind andererseits engagierte Bürger*innen als Teil der Zivilgesellschaft, die Alternativen erproben oder gleich selbst ausprobieren, ohne freilich bislang Einfluss auf die tatsächlichen wirtschaftspolitischen Entscheidungen nehmen zu können (die jüngsten Befürchtungen, Chinas sinkendes Bruttonationalprodukt würde früher oder später die Prosperität des gesamten Weltwirtschaftssystem gefährden, sind nur weitere Beispiele für die scheinbare Unantastbarkeit herkömmlicher wirtschaftswissenschaftlicher Dogmen). In der Regel aus einem privilegierten Mittelstand, dem der Anspruch auf Lebensqualität abseits des unmittelbaren Marktgeschehens noch nicht völlig ausgetrieben worden ist, versuchen sie, proletarische Traditionen der Relativierung der Marktdominanz wieder aufzugreifen und auf die aktuellen Verhältnisse zu übertragen. Ein nachhaltiger Erfolg – so meine Vermutung – wird wesentlich davon abhängen, ob es ihnen gelingt, ihre beispielhaften Initiativen früher oder später in konkretes politisches Handeln über zu führen. Ein Blick in die Schaufenster aktueller Politik könnte einen skeptisch werden lassen
Gibt es (noch) eine Rolle der Kunst bei der Aufrechterhaltung des Gemeinwohls?
Was aber bringt ein Künstler*innen-Kollektiv wie das Klangforum dazu, sich im Rahmen einer Gemeinwohl-Initiative zu engagieren? Auch dazu eine Vorbemerkung: Zunächst zählte es der Staat nicht zu seinen Aufgaben, mit Ausnahme von Zensurmaßnahmen, aktiv in das jeweils aktuelle Kunstschaffen einzugreifen. Dieses sollte möglichst privatem Engagement vorbehalten bleiben. Es bedurfte erst spezieller kulturpolitischer Konzepte, die allesamt darauf hinausliefen, dem künstlerischen Tun eine Qualität zuzuschreiben, die nicht bedingungslos den Marktkräften ausgesetzt werden sollte. Kunst sollte mehr sein als ein Produkt am Markt, dessen Erfolg im Austausch zwischen Anbieter*innen und Nachfrager*innen zu verhandeln sei. In dem Maß, in dem Kunst kein Privileg einiger weniger sein sollte, die sich Kunst leisten konnten, sondern für alle gleichermaßen verfügbar („Kultur für alle“), wurde dieser eine wichtige Funktion bei der Errichtung und Aufrechterhaltung von Gemeinwohl zugewiesen. Kulturpolitisch wird sie seither als ein „meritorisches Gut“ verhandelt, dessen Wertbestimmung nicht den Marktkräften überlassen werden dürfe. Als staatliche Form der „wertorientierten Marktkorrektur“ (Kurt Blaukopf) etablierte sich eine zunehmend ausdifferenziertes staatliches Förderungswesen zugunsten des zeitgenössischen Kunstschaffens, das sich als Beitrag zur Herstellung eines Gemeinwohls zu legitimieren trachtete. Das Schwergewicht der Förderung lag vor allem in der ersten Phase in der Unterstützung eines experimentellen, (gesellschafts-) politisch kritischen, um nicht zu sagen anti-kapitalistischen Kunstschaffens, für das wenig Aussicht bestand, am damals noch sehr rudimentären Kunstmarkt zu reüssieren. Umso größer aber war der Anspruch der Künstler*innen, mit ihrem Schaffen einen unmittelbaren Beitrag zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse und damit zur Vertiefung des Gemeinwohls zu leisten.
Über die zunehmende Inhaltslosigkeit staatlicher Kulturpolitik
Auch wenn es da oder dort zu Kürzungen des staatlichen Engagements gekommen ist, so ist doch staatliche Förderung von Gegenwartskunst nach wie vor intakt (wobei die großen Tanker zur Wahrung des kulturellen Erbes ungebrochen den Löwenanteil der staatlichen Mittel für sich beanspruchen). Weniger intakt aber sind die inhaltlichen Begründungen des diesbezüglichen kulturpolitischen Handelns. Dies bezieht sich immer weniger auf die Aufrechterhaltung einer künstlerischen Eigenlogik; an ihrer Stelle treten Einübungsstrategien vor allem junger Künstler*innen („Nachwuchsförderung“) auf die offenbar alles bestimmenden Marktverhältnisse (entsprechend schwer fällt es den kulturpolitischen Entscheidungsträger*innen, kunstimmanente Qualitätsansprüche zum Maßstab von Förderung zu entwickeln und anzuwenden. An ihre Stelle treten markkonforme Erfolgskriterien wie Auslastungszahlen (Quoten), Effizienz oder Akquisition von Drittmitteln. Damit wird auch das staatliche Kunstschaffen immer mehr einem ökonomischen Diktat unterworfen. Die Folgen zeigen sich bereits in der Ausbildung, im Rahmen derer die Einübung in die Überlebensfähigkeit am hochkompetitiven Kunstmarkt in zunehmenden Widerspruch zum Erwerb ästhetisch geleiteter Mittel zur kritischen Reflexion der herrschenden kapitalistischen Gewaltverhältnisse gerät.)
In einem solchen Licht wird der offensiv vorgetragene Anspruch des Klangforums Wien, einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten zu wollen, unversehens zu einem kulturpolitischen Warnsignal. Konnte man bislang ungeprüft davon ausgehen, dass jede öffentlich geförderte Kunstinitiative einen Beitrag zum Gemeinwohl leistet (sonst wäre sie ja nicht staatlicherseits gefördert worden) so macht der jüngste Vorstoß des Klangforums deutlich, damit möglicher Weise einem Trugschluss aufzusitzen.
Und wir erhalten unversehens eine Bestätigung der These des deutschen Soziologen Sighard Neckel, der in diesem Zusammenhang von einer „Refeudalisierung der Verhältnisse“ spricht. Eine solche Uminterpretation von Staatlichkeit als demokratisch legitimierter Garant des kollektiven Interessensausgleichs aber bedeutet, dass der Staat Abschied nimmt von seinem Anspruch, mit seinen Leistungen nicht nur im Kunst- und Kulturbereich zuallererst dem Gemeinwohl zu dienen sondern durchaus selektiv und im Interesse der Perpetuierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse vor allem diejenigen privaten Ansprüche zu bedienen, die ihm gerade nützlich erscheinen (die staatliche Ungleichbehandlung der österreichischen Medienlandschaft ist hierfür wahrscheinlich das bedrohlichste Zeichen).
Also treten wir wieder ein in eine Phase, in der das Gemeinwohl beim Staat nicht mehr gut aufgehoben ist und zumindest einige Bürger*innen – unter ihnen die Mitglieder des Klangforums – sich daran machen müssen, dieses auf eigene Faust zu verteidigen.
Bei all dem sollten wir nicht vergessen, dass es mehr denn je Filmemacher*innen gibt, die wunderbare Animationsfilme machen können, dazu Komponist*innen, die eine fast schon symbiotische musikalische Ausdeutung möglich machen, Musiker*innen uns diese zu Gehör bringen können sowie neuerdings einige von ihnen, die im Bemühen um ihr Publikum bereit sind, von sich und ihren musikalischen Beweggründen zu erzählen.
Ich freue mich auf das nächste Klangforum-Konzert am 8. April im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses mit dem Titel „Selbstportrait“. Und für alle, die die Animationsfilm-Präsentation versäumt haben: Ein Wiedersehen gibt es im Oktober im Rahmen eines 24 stündigen musikalischen Großereignisses.
Bild: Pressefoto – Filmstill The Happiness Machine © Ana Nedeljkovic Hanna Hartman 1, Klangforum
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