Kunst und Widerstreit – Künstler*innen im Sog illiberaler Kulturpolitik
Das Künstlerhaus Graz zeigt gegenwärtig eine Ausstellung des jungen ungarischen Künstlers Ákos Ezer. Für die Halle für Kunst & Medien reiht sich dieses Vorhaben ein in das stetige Bemühen, die nachbarlichen Beziehungen mit der ungarischen Künstlerschaft zu vertiefen. (Eigentlich verwunderlich, dass Kulturinstitutionen Ungarns und Österreichs, damit zweier Länder, die durch eine so lange und durchaus kontroverse Beziehung gekennzeichnet sind, so wenig miteinander zu tun haben wollen) . Das Künstlerhaus Graz ist da eine Ausnahme: So konnten sich die Besucher*innen bereits 2017 im Rahmen von „Abstract Hungary“ von der Lebendigkeit und Vielfalt einer jungen ungarischen Kunstszene überzeugen.
Der Anspruch auf eine unpolitische Kunst als Widerstandsform gegen eine umfassende Politisierung der ganzen Gesellschaft
Unter dem Titel „Kunst und Widerstreit“ war ich eingeladen, mich mit dem gesellschafts- und kulturpolitischen Kontext zu beschäftigen, der zur Zeit auf das aktuelle ungarische Kunstschaffen einwirkt, auch wenn sich Ezer und viele seiner Kolleg*innen vordergründig mit ihren künstlerischen Arbeiten als unpolitisch einschätzen. Als Österreicher sah ich es als meine Aufgabe, nicht nur über die aktuellen politischen Entwicklungen in Ungarn und ihre kulturpolitischen Wirkungen nachzudenken sondern auch die aktuellen politischen Veränderungen, die in den Nachbarländern Ungarns und damit auch in Österreich immer deutlicher werden, einzubeziehen.
Da traf es sich, dass just am Tag des Vortrags das Buch „Die Ibiza-Affäre – Innensichten eines Skandals“ der beiden Investigativ-Journalisten der Süddeutschen Zeitung Bastian Obermayer und Frederik Obermaier erschienen ist. In den wenigen Minuten des Videos, die bislang veröffentlich wurden, erfahren wir viel von der Geisteshaltung der aktuellen FPÖ-Führung unter Heinz-Christian Strache und seinem Adlatus Johann Gudenus. Beide benutzen nur zu gerne Viktor Orbáns Versuche der politischen Transformation der ungarischen Gesellschaft als Referenz ihrer politischen Ambitionen für Österreich.
Unter dem Einfluss des aktuellen Mainstreams der medialen Berichterstattung verbinden nicht nur große Teile des liberalen Kulturbetriebs das System Orbán mit einer umfassenden nationalen Aufrüstung , einer weitgehenden Gleichschaltung der Medien, einer Übernahme der Wirtschaft durch regierungsnahe Oligarchen, einer Weigerung der Aufnahme von geflüchteten Menschen, einer Nähe zu Putin und zu anderen Autokraten, einer Gegnerschaft zu einer weiteren EU-Integration; insgesamt mit dem Heraufdräuen einer autoritären Regierungsform im Gewand einer „illiberalen Demokratie“ (O-Ton Viktor Orbán anlässlich eine Rede in Tusnádfürdő 2014 (https://budapestbeacon.com/full-text-of-viktor-orbans-speech-at-baile-tusnad-tusnadfurdo-of-26-july-2014/). Auf dieser Basis der Berichterstattung durch liberale Medien verdichtet sich im öffentlichen Bewusstsein ein sich immer weiter eintrübendes Bild des aktuellen Ungarn, an dessen Ende Einschätzungen wie die von Beda Magyar in seinem Beitrag „Ungarn ist verloren“ in der Zeit online vom April 2019 stehen.
Ein Blick auf Ezers Portraits macht deutlich: Die Freiheit führt nicht mehr das Volk
Als Kulturpolitikforscher fehlt mir die kunsthistorische Expertise, um die Arbeiten Akós Ezers ästhetisch adäquat einzuschätzen. Mitten in den Arbeiten stehend aber bin ich konfrontiert mit der Darstellung der schieren menschlichen Kreatur, der es auferlegt ist, mit den widrigen Umständen ihre Leben umzugehen, immer wieder zu stolpern, sich wieder aufrichten, auf die kleinen Glücksmomente zu vertrauen und darüber als gegeben nehmen, wie sehr das Leben von außen bestimmt wird und weit und breit niemand, der bereit und in der Lage wäre, den Druck, der auf den stürzenden Körpern lastet, zu verringern. Auffallend erscheint mir, dass Ezer vor allem junge Männer in ganz bunter Manier malt; gerade von ihren zum Teil riesigen Hälsen geht eine große Kraft aus. Und doch weiß der ganze Körper nicht, mit dieser Kraft umzugehen und nutzt sie vor allem für allerlei Verrenkungen, um den äußeren Einhegungen zu entgehen.
Beim Anblick Ezers Bilder tauchte kurz in meiner Vorstellung Eugene Delacroix‘ „Marianne – Die Freiheit führt das Volk“ auf. Immerhin scheint ein größerer Gegensatz nicht denkbar: Hier der Versuch junger Männer – jeder für sich und ohne jede Zukunftserwartung – das Leben gegen alle Widerstände irgendwie hinzukriegen. Dort eine junge Frau, die – als Repräsentation der Freiheit ein ganzes Volk mitreißend – erhobenen Hauptes den Weg über alle Hindernisse hinweg in eine bessere Zukunft anführt. Dazwischen liegen fast 150 Jahre; nicht eben ein ästhetischer Beweis für einen historisch logischen Fortschrittsglauben.
Die größte Gefahr geht von der Alternativlosigkeit aus (und da meine ich nicht die AfD)
Diese Ermüdung gegenüber den Freiheitserwartungen innerhalb einer demokratischen Verfasstheit zeigt sich u.a. in der scheinbaren Alternativlosigkeit des Regimes Orbán. Weit und breit keine überzeugenden politischen Konzepte, die in der Lage wären, all denen, die zur Zeit eine bleierne Decke über Ezers Figuren legen, Paroli zu bieten. Es scheint, als hätten die Korruptionsvorwürfe gegen Ferenc Gyurcsány, die 2009 zum Sturz seiner sozialdemokratischen Regierung und zum Wiederaufstieg Viktor Orbáns geführt hat, jegliche Versuche, den politischen Pluralismus in Ungarn zu verteidigen, auf Dauer unterminiert. Die Ursachen sieht Paul Lendvai, selbst ungarischer Flüchtling, der seinen Weg 1956 nach Österreich gefunden hat in einer Tradition des „starken Mannes“ in Ungarn, die nahtlos von Miklos Horthy über Janos Kadar zu Viktor Orbán reichen würde (https://www.derstandard.at/story/2000106718958/paul-lendvai-genauer-beobachter-komplexer-zeitlaeufte).
Selbst prononcierte Kulturpolitiker wie András Bozóki, immerhin ungarischer Kulturminister in den 2000er Jahren bleiben angesichts der aktuellen politischen Lage stumm und bieten sich nicht an, überzeugende Gegenentwürfe unter die Leute zu bringen. Es überwiegt – siehe Beda Magyar – die Katastrophenberichterstattung durch kundige Beobachter*innen, von denen viele bereits das Land verlassen haben.
Auch auf EU-Ebene erwiesen sich die Reaktionen auf die Orbánschen Provokationen und seiner Freunde im Geist bislang weitgehend zahnlos. So hat die EU mit ihrem Zwang zur Einstimmigkeit nur allzu oft weggesehen, wenn es darum ging, nicht nur in Ungarn sondern auch in der Slowakei, in Polen, in Rumänien aber auch in Österreich die Aufrechterhaltung rechtsstaatlicher Standards zu gewährleisten (stattdessen büßte Frans Timmermans als EU-Kommissar für Rechtsfragen sein Engagement gegen Polen mit der Weigerung des EU-Rates, ihn zum Ratspräsidenten zu bestellen. Erst im allerletzten Moment hat sich im Zuge des letzten EU-Wahlkampfes die Parteienfamilie der christlich-konservativen Volksparteien immerhin zu einer symbolischen Absetzbewegung durchgerungen (obwohl man nur ungern auf Orbáns Stimmen für den EVP-Kandidaten Manfred Weber verzichten wollte) und die Mitgliedschaft von Fidesz ausgesetzt. Als Begleitmaßnahme wurde ausgerechnet Wolfgang Schüssel, Verursacher der EU-Sanktionen gegen ein schwarz-blau regiertes Österreich im Jahr 2000 als Vermittler eingesetzt. Orbán, der zuvor auch vor persönlichen Verunglimpfungen des Kommissionspräsidenten Jean Claude Junker im Rahmen einer Plakataktion nicht zurückgeschreckt ist, hatte zwischendurch der rechtspopulistischen Fraktion innerhalb des EU-Parlaments Avancen gemacht, sich ihnen anzuschließen, sollte die EVP nicht bereit sein, seinen Vorstellungen eines geschwächten Europa zu entsprechen.
König Ubu von Ungarn – Zu den aktuellen kulturpolitischen Entwicklungen
Um einen detaillierteren Blick auf die aktuelle kulturpolitische Landschaft in Ungarn zu werfen, möchte ich mit einem ungarischen Künstler, den ich sehr schätze, mit Árpád Schilling beginnen. Er ist vielen als Regisseur wegweisender Theaterproduktionen auch in Österreich bekannt. Mit seiner freien Initiative „Kreatkör“ verabschiedete er sich vom kulturellen Establishment. Ihm war es fortan ein besonderes Anliegen, nicht nur eine kleine Kulturschickeria zu bedienen sondern mit künstlerischen Mitteln den Kontakt zu den ganz normalen Menschen zu suchen. In der aktuellen politischen Situation Ungarn motivierte Schilling und seine Kolleg*innen zu zivilem Ungehorsam im Rahmen von künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum. Seine Initiative „Free School“ (https://www.youtube.com/watch?v=nB3bHUDM4YQ) ist mittlerweile Legende, mit der er vor allem ungarischen Jugendlichen der Sinti und Roma im Osten des Landes auf unkonventionelle Weise seine Version einer emanzipatorischen Bildung gegen den aktuellen bildungspolitischen Kurs nahebringen wollte.
2013 fanden in Berlin die Kreuzberger Fabrikstage unter dem Titel „Whatever happend to the Hungarian Theatre“ statt. Dort fand sich u.a. der damals neue Intendant des Budapester Nationaltheaters Attila Vidniyánsky (mittlerweile kulturpolitische Referenzfigur der deutschen AfD) ein, der zuvor Vorsitzender einer Staatskommission zur Kulturförderung gewesen war. Seine neue Position verdankte er der Absetzung von Robert Alföldi, der zuvor tapfer versucht hatte, als Chef des Hauses eine regierungsunabhängige Position aufrecht zu erhalten. Diversen medialen Untergriffen ausgesetzt warf er zuletzt das Handtuch und überließ dem Orbán-Parteigänger Vidniyánsky das Feld. Mit dem Sager: „Wir hatten 70 Jahre lang eine linksliberale Regierung, endlich bekommt nun etwas anderes Raum“ trat er im Rahmen der Tagung Árpád Schilling entgegen, der beklagte, dass vor allem regierungskritische künstlerische Initiativen mittlerweile zu „Stiefkindern der Machthaber“ mutiert wären. Konkret konstatierte Schilling Kürzungen der Förderungen im Ausmaß von mehr als 50%, ein Umstand, der die bislang durchaus diverse ungarische Kulturlandschaft nachhaltig beschädigen würde.
Die kulturpolitischen Leitlinien des Systems Orbán
Geht es nach den wichtigsten kulturpolitischen Kommentator*innen, dann hat sich in den letzten Jahren auch innerhalb der ungarischen Kulturpolitik ein Primat einer umfassenden Renationalisierung breit gemacht. Das zeigt sich u.a. in der Verehrung völkischer Nationalisten wie des Autors Albert Wass, der ein besonderes Faible für Miklos Horthy gezeigt hat. Er findet heute wieder vermehrt Eingang in die ungarischen Schulbücher, die insgesamt gekennzeichnet sind durch ein Wiedererstarken eines konservativen Katholizismus und damit eines rückwärtsgewandten Frauenbildes. Der Historiker Kristián Ungaváry spricht von Albert Wass mittlerweile als dem populärsten Autor Ungarns.
Renationalisierung geht gewöhnlich einher mit einem neuen Autoritarismus; das gilt für die ungarische Kulturpolitik nur bedingt. Kristóph Nagy und Márton Szarvas weisen in ihrem Beitrag für die IG Kultur „Transformationen der kulturellen Produktion in Ungarn nach 2010“ nach, dass die Sache so einfach nicht ist und gerade im Bereich der ungarischen Filmproduktion marktwirtschaftliche und völkisch-ideologische Ansprüche hart aufeinandertreffen. Sie führen das u.a. darauf zurück, dass Fidesz keine einheitliche Fraktion darstellt sondern von unterschiedlichen Strömungen geprägt ist. Dazu kommt, dass der kulturellen Produktion – im Vergleich zu anderen Politikfeldern wie der Wirtschafts-, Sozial-, Gesundheits- oder Wohnungspolitik keine allzu große Bedeutung zugemessen wird, sie sich vielmehr als eine Spielwiese einer neuen Elite ohne großen Einfluss auf größere Teile der Bevölkerung anbietet. (Mit seinen partizipativen künstlerischen Projekten versucht Árpád Schilling dieser Isolation entgegen zu wirken). In dieser Ambivalenz wurde der Exil-Ungar Andy Vajan, der in Hollywood zu reüssieren vermochte, zum Leiter des ungarischen Filmfonds. Sein Motto: „Bis jetzt ist alles schlecht gewesen, jetzt bauen wir eine neue Welt auf“. Eine solche zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass prononcierte Fidesz Parteigänger*innen mit wichtigen Rollen in Blockbustern belohnt werden.
Zu den großen kulturpolitischen Aufregungen zählte die Umwandlung des Nationalen Kulturfonds in die Ungarische Akademie der Künste. Diese mutierte von einer privaten Initiative zu einem offiziellen Rechtsträger, der staatliche Förderungen – weitgehend intransparent – vorrangig an Parteigänger*innen vergibt, die kein Problem darin sehen, außerästhetische Kriterien wie „nationale Größe“ zum vordringlichsten Fördermaßstab zu erklären.
Insgesamt ist die Orbánsche Kulturpolitik durch einen radikalen Elitenwechsel geprägt. So kam es zu einer Reihe von Neubesetzungen in den großen staatlichen Kultureinrichtungen. Die neuen Leitungen zeichnen nicht mehr durch liberal-demokratische sondern durch national-konservative Positionen aus. Ihnen ist es auferlegt, ein neues Narrativ zu konstruieren, das eine ästhetische Kontinuität einer in sich abgeschlossenen tausend Jahre alten ungarischen Nation glorifizieren soll.
Dass die Exponent*innen des neuen Regimes auch zu so manchen Schlitzohrigkeiten fähig sind, zeigte sich u.a. daran, dass sich 15 ungarische Sänger der Ungarischen Staatsoper offiziell als „Afro-Amerikaner“ erklären mussten, als es darum ging, eine Aufführung von Porgy and Bess von Georg Gerschwin, der testamentarisch festgelegt hatte, dass nur Afro-Amerikaner*innen diese Rollen singen dürften (.https://www.sueddeutsche.de/kultur/staatsoper-ungarn-budapest-porgy-and-bess-george-gershwin-afroamerikaner-1.4404236) mit einheimischem Personal auf den Weg zu bringen.
Die Geschichte diesbezüglicher Einzelfälle ist mittlerweile auch in Ungarn ewig lang. Weitere Details dazu finden sich im EUROZINE-Beitrag „König Ubu in Ungarn – Viktor Orbáns „Totalangriff“ auf die Kultur“ von Lásló Györi, einem ehemaligen Musik- und Literaturkritiker des ungarischen Rundfunks (https://www.eurozine.com/konig-ubu-ungarn/).
Als ob sich Ungarn ein Beispiel an Österreich genommen hätte
Es erscheint an dieser Stelle vielleicht irritierend, mit einem solchen Befund über die spezifisch ungarischen Verhältnisse einen Rückblick auf die spezifisch österreichischen kulturpolitischen Verhältnisse zu werfen. Und doch zeichnen sich so manche Ähnlichkeiten ab, wenn Österreich nach 1945 einen ganz ähnlichen Weg gegangen ist. Von einer „Austriakischen Restauration“ sprach damals der Autor Gerhard Fritsch. Ihre Vertreter*innen legten es darauf an, das durch die Mitwirkung vieler Österreicher*innen am nationalsozialistischen Unrechtsregime desavouierte Image Österreichs in der Welt mit Hilfe seines überreichen kulturellen Erbes reinzuwaschen.
Frei nach dem Motto des Pen-Club-Präsidenten Alexander Lernet-Holenia, Österreich müsste nur dort fortsetzen, wo es 1938 durch die Träume eines Irren unterbrochen wurde, schloss die österreichische Kulturpolitik nach 1945 nur zu gern an austrofaschistische Traditionen im Geist einer autoritären Herrschaftsform an, die nichts weniger im Sinn hatte als den Aufbau einer liberal-pluralistischen Demokratie.
Da bedurfte es schon der Kulturkämpfe ab den späten 1960er Jahren, um das kulturelle Geschehen aus seinen nationalen Beschränkungen zu befreien, auf Diversität der kulturellen Ausdrucksformen zu setzen und damit international anschlussfähig zu machen. Ausgerechnet Graz steht in besonderer Weise für diese Auseinandersetzungen. Hier trafen Tradition und Moderne, Autoritarismus und liberaler Demokratie unmittelbar aufeinander und ein heutiger Blick auf das politische Personal der Stadt mit Personen wie dem Vizebürgermeister Mario Eustaccio, der sich lange Zeit standhaft weigerte, sich von der rechtsextremen Kulturbewegung der Identitären zu distanzieren, spricht dafür, dass der Kampf noch lange nicht entschieden ist.
Anhand dieses historischen Verlaufs lässt sich unschwer schließen, dass die Verwirklichung eines pluralistischen, integrativen, transnationalen Kulturbegriffs den Österreicher*innen nicht in die Hände gefallen ist. Auf den Ausläufern einer historisch einzigartigen Nachkriegskonjunktur bedurfte es hierfür einer spezifischen kulturpolitischen Auseinandersetzung. Sie hat erst nach vielen Mühen vielen, bislang national isolierten Künstler*innen den Anschluss an den internationalen Kunstbetrieb ermöglicht und die Chancen ihrer transnationalen Verwertung erhöht.
Auch Österreich ist anfällig für eine Kulturpolitik im Geist einer „Retrotopie“ (Zygmunt Bauman)
Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass es sich dabei nur um eine kurze historische Episode gehandelt haben könnte. Immerhin kam der kurze Frühling einer liberalen Kulturpolitik in Österreich bereits in den 1990 Jahren an sein vorläufiges Ende. Spätestens mit dem Aufstieg von Jörg Haider hat wieder ein stärkerer nationalistischer Ton Eingang auch in die kulturpolitische Diskussion Einzug gehalten. „Die Hand, die füttert, darf nicht gebissen werden“, meinte der Kärntner Landeshauptmann und zettelte damit lustvoll so manche Kontroverse mit kritischen Künstler*innen an, die sich an seinen Nazi-Sprüchen samt ausländerfeindlichen Slogans abarbeiteten. Wie die Wahlergebnisse seither zeigen, hielten sich die Erfolge der Gegenwehr in Grenzen. Daran änderte auch die Mitgliedschaft Österreich 1995 zur Europäischen Gemeinschaft nur wenig, zumal weder damals noch heute die EU die Bereitschaft zeigte, als eigenständiger kulturpolitischer Akteur zur Verteidigung transnationaler liberaler Errungenschaften aufzutreten.
Aus historischer Sicht sind damit die Ähnlichkeiten zwischen Ungarn und Österreich frappant. Sollte nach dem Zweiten Weltkrieg mit Hilfe einer konservativen Exegese Mozarts, Grillparzers oder Raimunds noch einmal „das wahre Österreichertum“ evoziert werden, so packt jetzt ausgerechnet ein in der Spätphase des kommunistischen Internationalismus politisch sozialisierter Politiker das kulturelle Schatzkästlein eines „wahren Ungarntum“ aus, das er – eingedenk des lang gepflegten Opfermythos in der ungarischen Bevölkerung – wahlweise von der Brüsseler Bürokratie oder von Migrant*innen bedroht sieht.
Wahrscheinlich haben wir hier in Österreich 1989 vorschnell naiv gedacht, Ungarn und die anderen sowjetisch regierten mittel- und osteuropäischen Ländern würden sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs alternativlos dem liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der EU unterwerfen und im allgemeinen Prosperitätsrausch der ungarischen Kultur den Charakter von Folklore zuweisen. Und jetzt wir reiben uns die Augen ob des Aufkommens einer nicht vorhergesehenen Entwicklung, deren treibende Kräfte nichts weniger anstreben als den Widerstand gegen eine Form der suggerierten Vereinnahmung mit den Mitteln der Wiedererrichtung einer rückwärtsgewandten rechten kulturellen Hegemonie (Sie können dabei, vor allem in Polen aber auch in Ungarn auch gute Wirtschaftsdaten verweisen, dass die nationalen Ökonomien nur dank beträchtlicher EU-Förderungen zu prosperieren vermögen, bleibt von Kuczynski und Orbán gerne unerwähnt).
Mit dem wachsenden Frust weiter Teile der nationalen Bevölkerungen, die sich um das Versprechen, alsbald auf westeuropäische Lebensstandards gebracht zu werden, betrogen fühlen, ist etwas politisch anders gekommen als erwartet. Und doch spricht manches dafür, dass die aktuellen ungarischen Machthaber ihrer Rhetorik zur Aufrechterhaltung einer genuin ungarischen Identität selbst nur sehr bedingt Glauben schenken. Wahrscheinlicher ist es, anzunehmen, dass wir kulturpolitisch konfrontiert sind mit Versuchen der zynischen Instrumentalisierung eines Mythologems nationaler kultureller Größe, das in erster Linie zur Aufrechterhaltung eines Machtanspruches einer kleinen Elite, die nichts weniger im Sinn hat als die Verbesserung der Lebensverhältnisse der einfachen Menschen, wie sie Akos Ezer darstellt, dient.
Aus einer solchen kursorischen Gegenüberstellung lässt sich vor allem lernen, dass Liberalität innerhalb und außerhalb des Kunstbetriebs kein staatlich gewährtes Geschenk sondern das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen ist. Während wir die Folgen der aktuellen ungarischen Kulturpolitik bedauern, sollten wir nicht vergessen, dass die Reaktion auch in Österreich seit den 1990er Jahren vieles getan hat, um das kulturpolitische Rad zurückzudrehen. Auch bei uns verstärken sich – siehe Ibiza-Video – die politischen Kräfte, die hoffnungsfroh nach Ungarn blicken, um auch hierorts eine neue/alte kulturelle Hegemonie zu etablieren und für ihre eigenen Machtansprüche zu instrumentalisieren. Auf diese Weise verstehen sie es, den fortschrittlichen Slogan der 1970er „Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik“ in sein Gegenteil zu verkehren und gegen all diejenigen zu richten, die sie aus „ihrer“ Gesellschaft auszuschließen versuchen.
Die Zelebration ungarischer Größe und die Förderung der Geschichtsvergessenheit
Die wenigen Blitzlichter auf die österreichische kulturpolitische Geschichte sollten deutlich machen, dass uns eine grassierende Geschichtsvergessenheit nur zu leicht zu falschen Schlussfolgerungen führt. Dazu gehört auch der Glaube, in einer demokratisch verfassten Marktwirtschaft entstünde ein integrativer Kulturbegriff quasi von selbst und bedürfte keiner spezifischen Parteinahmen.
Die Chancen, die sich aus einem Verlust an Geschichte für den politischen Erfolg ergeben, hat das Regime Orbán rasch erkannt. Entsprechend ist ihr die Förderung einer kollektiven Amnesie ein besonders Anliegen. In diesem Sinn hat sie zuletzt das sogenannte 1956er-Institut an die politische Kandare genommen. Es galt als die letzte unabhängige geisteswissenschaftliche Einrichtung, die sich mit der Volkserhebung gegen den damaligen universellen Machtanspruch der ungarischen kommunistischen Partei widersetzte. Ihre Versatzstücke wurden vom ungarischen VERITAS-Verlag übernommen, der sich im Auftrag der nationalpopulistischen Partei Fidesz darauf spezialisiert hat, die „wahre ungarische Kultur“ gegen alle Standards des internationalen Wissenschaftsbetriebs unter die Leute zu bringen.
Ein besonderes Anliegen ist den ungarischen Machthabern die Umgestaltung des öffentlichen Raums. So wurde 2013/14 der Kossuth tér, der Platz vor dem Parlament, völlig umgestaltet. Eine Reihe ehemaliger ungarischer Heldenfiguren wie der erste Staatschef nach dem Ende des Ersten Weltkriegs Mihály Károlyi verschwanden über Nacht. Auch die Statue des Reformkommunisten Imre Nagys wurde entfernt, wohl um keine Erinnerungen an den Kampf gegen den Autoritarismus früherer Regime aufkommen zu lassen. Kulturpolitisch besonders relevant war die Entfernung der Statue von Georg Lukasz, dem kommunistischen Kulturphilosophen (und Lehrer von Agnes Heller) und Kulturminister in der Regierung von Imre Nagy aus dem Szent István Park. Bei der Gelegenheit wurde auch gleich sein Archiv aufgelöst. Im Gegenzug erhielt der bereits angesprochene Autor Albert Wass 45 Denkmäler, die über das ganze Land verteilt wurden.
Eine breite Öffentlichkeit fanden die Versuche der Schließung der Central European University mit allen auch vor offenem Antisemitismus nicht zurückschreckenden Mitteln, um so Vorstellungen eines spezifisch nationalen Wissenschaftsbetriebs durchzusetzen. Dieser beansprucht sich angesichts der wachsenden Gefährdungen der nationalen Unabhängigkeit (z.B. von der verhassten EU-Bürokratie) von internationalen Einflüssen möglichst abzugrenzen.
Wenn nicht nur in Ungarn u.a. mit den Mitteln der Geschichtsklitterung das Rad der Geschichte zurückzudrehen versucht wird (der polnisch-englische Soziologe Zymunt Bauman sprach in dem Zusammenhang von „Retrotopie“) so geht dieses bislang politische Vorhaben einher mit einer beträchtlichen Schwächung der politischen Analyse in und außerhalb Ungarns. So konnten wir uns allzu lang im Geist westlicher Arroganz im Glauben wiegen, der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 sowie die EU- Mitgliedschaft Ungarns 2004 würde unweigerlich zur Befestigung spezifisch westlicher Werte der liberalen Demokratie führen, deren Umsetzung die volle Entfaltung künstlerischer Gestaltungsansprüche zu garantieren vermögen.
Es ist anders gekommen: Als sich die wirtschaftlichen Erfolge für alle Ungarn nicht sofort einstellten, zog sich eine Mehrheit an Enttäuschten auf die Akzeptanz eines politischen Systems zurück, das zwar wenig Aussicht auf Verbesserung und Erneuerung bietet, dafür aber in autoritärer Tradition die Chance bietet, sich irgendwie zurecht zu finden bzw. sich durchzuwursteln. Angesprochen werden damit genau die Charakteristika menschlichen Handelns, die Ezer in seinen Bildern zeigt: Niederfallen, sich individuell Mut zusprechen, sich wieder aufrichten, wieder in ein undurchschaubares Dickicht geraten, einfach weiter machen, ein Leben lang. Irgendwie wird es schon gehen. Während sich die einen obszön bereichern (wovon angesichts grassierender Korruption nicht so gern gesprochen wird), winkt den vielen anderen in ihrem täglichen Überlebenskampf immerhin das Symbol der nationalen Stärke.
Die Neuauflage des Ost-West-Konflikts findet nicht entlang nationaler Grenzen sondern innerhalb dieser statt.
Versierte Beobachter wie der bulgarische Gesellschaftswissenschafter Ivan Krastev sehen in der kontroversellen Konstellation zwischen Ungarn und der Europäischen Union die Wiederauflage des alten West-Ost-Konflikts, der liberale gegen autokratische Herrschaftsformen gegeneinander gestellt hat. Diese Konfliktzonen erscheinen aber heute nur mehr vordergründig geographisch gezogen. Die Lage ist brisanter, weil sich Ost und West ineinander verschoben haben und liberale gegen autoritäre Herrschaftsformen heute eine zentrale Bruchlinie in nahezu allen europäischen Ländern, nicht zuletzt in Österreich ausmachen.
Wusste sich das westliche Gesellschaftsmodell in der Phase der wirtschaftlichen Prosperität nach 1945 gegenüber einer autoritären gesellschaftlichen Verfasstheit, wie sie die Staaten des Ostblocks darstellten, eindeutig überlegen so scheint dieses Modell heute mannigfach desavouiert: Wirtschafts- und Finanzkrisen, globale Konkurrenz, ökologische Krisen, Migration und vielfache Evidenzen sozialer Desintegration stellen die Handlungsfähigkeit liberaler Demokratien im Osten ebenso wie im Westen des Kontinents zunehmend in Frage.
Aus spezifisch österreichischer Sicht zeichnet sich noch keine eindeutige Antwort auf diese Entwicklung ab. Da sind zum einen die „Westler“ und damit die Befürworter einer alternativlosen Einbindung der nationalen Ökonomien in das globale Wirtschaftssystem, dem nicht erst die letzte österreichische Bundesregierung mit neoliberalen Maßnahmen zu entsprechen versucht hat. Andererseits ist da die immer größere Versuchung für alle „Ostler“, die wachsenden Herausforderungen einer globalen Wirtschaft mit autoritären Mitteln zu beantworten. Auch diese Kräfte fanden sich in der letzten Bundesregierung.
Die jüngsten Diskussionen um das Ibiza-Video deuten unisono darauf hin, dass die FPÖ, allen voran Herbert Kickl in seiner Eigenschaft als Innenminister mit seiner Prätorianer-Truppe kurz davor war, Österreich in einen autoritären Staat umzuwandeln. Es ist – jedenfalls fürs Erste – nur der besonderen Blödheit des ehemaligen Vizekanzlers Heinz-Christian Strache zu verdanken, dass diesbezüglichen Gedankenspielen einer von deutsch-nationalen Burschenschaftern dominierten FPÖ-Führung mit der Veröffentlichung des Videos die Umsetzung verunmöglicht wurde.
Die vorverlegten Wahlen in Österreich stellen in diesem Zusammenhang nur ein Zwischenspiel auf dem möglichen Weg dorthin dar. Es steht zu befürchten, dass die Bewunderung Straches für die Transformation der ungarischen Gesellschaft zwecks Herstellung einer exklusiv-oligarchischen Machtbasis von mehr und mehr Menschen geteilt wird, als den Verfechtern der liberalen Demokratie lieb sein kann. In Österreich ebenso wie in Ungarn. Und darüber hinaus in vielen andern europäischen Ländern, in denen die Hoffnung breiterer Teile der Gesellschaft auf Verbesserung ihrer individuellen Lebensverhältnisse zusammen gebrochen ist, um mit Hilfe eines neuen „starken Mannes“ auf Rache zu sinnen.
Mit der Veröffentlichung der Hintergründe durch die beiden mutigen Journalisten erfahren wir mehr über die Verstrickungen österreichischer Politiker in eine Strategie zur Herstellung autoritärer Verhältnisse, an denen Österreichs Geschichte nur allzu reich ist. In ihrem Denken und Handeln steht ein neues politisches Personal nicht mehr für die große Sehnsucht, die viele Menschen im Wunsch nach Überwindung totalitärer Allmachtsphantasien in den ehemaligen Ostblockländern einst auf die Straße getrieben hat, sondern für das schiere Gegenteil: für die Rekonstruktion autoritärer Herrschaftsformen.
Und es gibt doch Alternativen – Über das andere Ungarnbild anhand der Philosophin Agnes Heller
Wenn sich Akós Ezer in seinem künstlerischen Oeuvre vor allem an Einzelschicksalen abarbeitet, möchte ich zum Abschluss noch auf eine ungarische Persönlichkeit hinweisen, die es verdient, unser Ungarn-Bild gegen alle medialen Untergangsszenarien stärker als bisher zu beeinflussen. An ihrer Person zeigt sich ganz unmittelbar, dass Ungarn auch ganz anders repräsentiert werden kann, als wir das zurzeit erfahren.
Ich habe in diesen Tagen die Biographie der kürzlich verstorbenen ungarischen Philosophin Agnes Heller „Der Wert des Zufalls“ – die von Georg Hauptfeld in Form gebracht wurde – gelesen. In ihrem langen Leben, das vor einigen Wochen zu Ende gegangen ist, war sie mit immer neuen Auflagen autoritärer Regime konfrontiert, denen sie – zum Teil im letzten Augenblick – als gebildete Kosmopolitin auf immer neue Weise entkommen konnte. Mit ihrer Fähigkeit, „querzustehen“ repräsentierte sie in den USA, in Australien sowie in weiten Teilen Europas ein kosmopolitisches Ungarnbild, das in krassem Gegensatz steht zu aktuellen politischen Strategien der Verengung einer ungarischen kulturellen Identität.
Sie repräsentiert ein Leben mit einem unbedingten Freiheitsanspruch als dem letzten, weil entscheidendsten menschlichen Daseinsgrund. Wir alle müssen unser tägliches Leben bewältigen, jeden Tag aufs Neue. Aber uns ist auch auferlegt zu entscheiden ob und wie wir als „Freie“ die Welt in ihrer unauslotbaren Mannigfaltigkeit wahrnehmen und an ihrer Ausgestaltung mitwirken wollen – oder nicht. Künstler*innen in ihrer Ausgesetztheit sind dafür nach wie vor ein gutes Role Model. Hellers Werdegang macht deutlich, dass Leben nur dann gelingt, wenn Alternativen möglich sind, aber auch, dass diese gegen Widerstand erkämpft werden müssen und Kraft kosten, sich jedenfalls nicht von selbst ergeben.
An ihr können wir lernen, dass wir uns in Österreich auf Dauer nicht mit einer Beobacher*innen-Rolle werden begnügen können. Wir werden nicht umhin können, das, was Strache in einem öffentlich gemachten Blitzlicht an Geisteshaltung seiner Gesinnungsgemeinschaft offenbart hat, ernst zu nehmen. Spätestens mit ihm wird uns in Ungarn die eigene Zukunft vorgeführt.
Noch können wir frei entscheiden, ob wir den Ambitionen dieses neuen König Ubu von Österreich folgen wollen, um uns dann zu beschweren, dass Künstler*innen den Auftrag zum Widerstreit nicht ausreichend nachgekommen sind.
Das Bekenntnis Ezers, unpolitisch zu sein und doch solche Portraits geschundener Existenzen zu malen, könnte uns dabei eine Warnung sein.
Information des Künstlerhauses Graz
Mit Ákos Ezer (*1989 Pećs, lebt in Budapest) präsentiert das Künstlerhaus einen ungarischen Maler der jüngeren Generation, der sich thematisch nah an der Realität der Gegenwart seines Heimatlandes abarbeitet. Gegenstand seiner Malerei sind fortlaufend absichtsvoll oder slapstickhaft stürzende, zumeist männliche Figuren. Eine neue Bildserie zeigt zudem riesenhafte Portraits mit verdrehten Hälsen. Der Sturz und die körperliche Verrenkung werden zu inhaltlichen Gesten in Ákos Ezers Werken; diese ereilen die Protagonist*innen zumeist in Alltagssituationen. Mit seinen durch die eigenartigen Bewegungen entrückt wirkenden Körpern erzählt der Künstler kraftvoll vom Scheitern, dem Ungeschick und der Fehlbarkeit des Einzelnen und der Gesamtgesellschaft. Ezers farbenfrohe und figurative Kompositionen bedienen sich einer abstrakten Formsprache, wobei eine konzeptuelle Prise Humor das Abbild der Stolpersteine des privaten wie auch öffentlichen Lebens schärft.
Bild: © Krétakör, Free School. Abgerufen hier am 09.09.2019.
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