Leidenschaften, Floskeln und Mitwirkung – Mehr „mit“, weniger „für“
Manchmal denke ich mir, wir sind verrückt geworden. Dieser Eindruck überkam mich jedenfalls im Film „Die geliebten Schwestern“ von Dominik Graf, als in der Szene der Antrittsvorlesung an der Universität Jena der Darsteller Friedrich Schillers mit wenigen Sätzen deutlich machte, um wie viel weiter (oder näher dran) Menschen in ihrer Ausdrucksfähigkeit ihrer leidenschaftlichen Suche nach Wahrheit und Schönheit schon einmal waren. Es ist offenbar ein unstillbarer Erfahrungshunger, der den Schwestern Charlotte und Caroline von Lengefeld zu Beginn des 19. Jahrhunderts bislang unerhörte Worte in den Mund legte und sie unüberwindlich geglaubte Schranken überwinden ließ. Da mochte Schiller nicht nachstehen, wenn er um die beiden mit den Worten warb: „Ich glaube, dass wir noch bei Lebzeiten eine andere Welt erleben werden“.
Auch wenn wir im weiteren Verlauf des Films zusehen können, wie die verengenden Verhältnisse bürgerlichen Besitzstandsdenkens sukzessive die Köpfe und Herzen ergreifen und das soziale Experiment an den Realitäten scheitert, so bleiben – zumindest in Grafs Interpretation des historischen Geschehens – die unauslöschlichen Erfahrungen, es probiert zu haben (und dem/der ZuseherIn zumindest eine Anmutung von dem, wie es – auf der Grundlage der Erfahrungen von Menschen, die sich schon so weit vorgewagt haben – sein könnte).
Die Angst vor dem Scheitern geht um
Von dieser Haltung, scheint heute nur mehr wenig übrig geblieben. Geht es jedenfalls nach dem deutschen Soziologen Heinz Bude, dann ist die gegenwärtige gesellschaftliche Verfasstheit von allem anderen als dem Mut, sich zu exponieren und sich Experimente zuzumuten geprägt. In seinem jüngsten Buch „Gesellschaft der Angst“ beschreibt er einen verunsicherten Mittelstand, der aus Angst vor dem Abstieg jegliches Risiko scheut, zumal jeder Fehltritt den gesellschaftlichen Absturz bedeuten könnte. Das Ergebnis sei die weitgehende politische Handlungsunfähigkeit bis weit in die Mittelschichten hinein, die sich an die Hoffnung klammern, es solle nicht (noch) schlechter werden. Diese Haltung führe zu einer Angststarre, zu einer Lähmung, die den Fortbestand der gegebenen Verhältnisse als weitgehend unbeeinflussbar in Kauf nimmt und doch immer mehr an Boden verliert. Budes Gegenrezept: „Weiter kommt nur, wer Scheitern in Kauf nimmt: Wir müssen wieder lernen, mit dem Scheitern umzugehen und Fehler als eine Realität des Lebens anzuerkennen“.
Das Panorama, das Graf mit seinem Film vor uns ausbreitet, beschreibt die Umwälzungen einer traditionellen Gesellschaft, deren Selbstverständnisse an der revolutionären Zeitenwende zu Beginn des 19. Jahrhundert allesamt über den Haufen geworfen wurden. Einer restaurativen Politik gelang es nur zu schnell, den kurzen Sommer des Aufbegehrens wieder in konventionelle Bahnen zu lenken und damit alternative Lebensentwürfe als wahlweise utopisch oder verwerflich abzuwerten.
Zunehmend verdichtet sich in mir der Eindruck, als stünden wir heute an der Schwelle einer ähnlich umfassenden Zeitenwende, die wir als unfreiwillige Mitwirkende an der Aufrechterhaltung eines neuen „Ancien Regimes“ einer Klasse von Reichen als solche noch nicht fassen können. Da ist weithin keiner, der gegenwärtig in der Lage wäre, auch nur halbwegs glaubwürdig von einer „anderen Welt“ zu sprechen, die wir noch erleben würden. Statt dessen Zukunftslosigkeit, soweit das Auge reicht.
Weil wir nicht wissen, was und wie es wird, schlägt Bude ein neues Kapitel des politischen Experimentierens auf. Er empfiehlt die Öffnung von Experimentierfeldern, in denen der Umgang mit einem Scheitern geübt werden kann, das nicht den endgültigen Absturz besiegelt sondern die notwendige Voraussetzung für einen suchenden Neubeginn darstellt.
Kunst vermittelt Kompetenzen aller Art und wir brauchen mehr Kreativität und bla, bla…..
Die unmittelbar anrührende Rede Schillers über das, was das Leben lebenswert macht, hat mich erschrecken lassen über die Floskeln, mit denen wir uns heute über kulturelle Bildung verständigen. Es ist, als ob einige Marketing-Fachleute der Szene ein rigides Sprachregime auferlegt hätten, um mit immer gleichen Floskeln, in denen möglichst oft die Begriffe „Kreativität“, „Innovation“ „Nutzen“, darüber hinaus „benachteiligte Zielgruppen“ und „Kompetenzerwerb“ verwendet werden müssen, die Notwendigkeit kultureller Bildung anzupreisen. Diese Art der Sprachregelung ist verständlich vor dem Hintergrund eines verschärften Legitimierungsdrucks des Sektors, der davon ausgeht, potentielle Förderer und Unterstützer verstünden nur diese Sprache (was definitiv nicht stimmt). Gefährlich aber wird es, wenn kulturelle BildnerInnen beginnen, selbst an diese Phrasen zu glauben und sich danach zu verhalten. Sie bedienen sich eines Jargons, dessen Hauptzweck dahingehend verkommt, die mangelnde Substanz des eigenen Anliegens durch eine möglichst klangvolle Sprachhülle zu verdecken. Und doch können wir schon nicht mehr hören. Dass sie sich dabei der Sprache derer bedienen, die sie vorgeben, mit ihren Bemühungen überwinden zu wollen, sie also in eine durchaus selbstgestellte Falle tappen, bleibt dabei weitgehend unbemerkt.
Die österreichische Literaturkritikerin Daniela Strigl hat sich zuletzt im Presse Spektrum vom 15. November 2014 in ihrem Beitrag „Der letzte Schrei“ mit Fragen der Sprachkritik beschäftigt, die sich auch auf den Bereich der kulturellen Bildung anwenden lassen. Sie beklagt darin “eine kollektive Kapitulation vor der Phrase, dem Modewort, dem Jargon“. Für sie stellt diese Form der sprachlichen Uniformierung ein Symptom für eine geistige Stromlinienförmigkeit dar, das den Verzicht auf die eigene Denkarbeit impliziert. Durchaus in Anlehnung an Budes Befund einer Angst, möglichst nicht aus dem Mainstream auszubrechen, ortet sie einen Niedergang von Polemik und Pamphlet, die sich an den gegebenen Sprachregelungen zu reiben wagen: „Ja, Widerspruch ist anstrengend“. Aber die Gefahr, in die sich auch und gerade die beredsten AdvokatInnen kultureller Bildung begeben, wenn sie vermeinen, sich einem sprachlichen Mainstream andienen zu müssen, ist nicht zu unterschätzen: „Dort, wo man sich selber nichts denkt, übernimmt man das Vorgedachte, das heißt: das von der Macht einem Zugedachte“.
Intendiert die Orientierung auf Kompetenzerwerb die Außerkraftsetzung der Kunst als Form des Widerstands (z.B. auf Kompetenzerwerb zu pfeifen)?
Es ist nicht verwunderlich, dass diese Form der Sprachkritik mit den aktuellen Versuchen einer weiteren Zurückdrängung von „Literatur“ im Rahmen der Einführung der Zentralmatura zusammenfällt. Anstatt noch einmal auf das spezifische Widerstandspotential, das in der Auseinandersetzung mit Literatur als einer Kunstform liegt, zu rekurrieren, haben die VertreterInnen der germanistischen Zunft gemeint, die Rhetorik der Verursacher bedienen zu müssen: „In der Auseinandersetzung mit literarischen Texten werden vielfältige Kompetenzen vermittelt, die in einer kulturell dynamischen und globalisierten Welt von hoher Bedeutung sind“. Ein besseres Beispiel für die Pervertierung ursprünglicher literarischen Absichten kann es nicht geben; nicht nur Schiller (ein Blick in seine „ästhetischen Briefe“ macht Sie sicher!) ist es wohl um etwas anderes gegangen.
Mitwirken statt behandelt werden
Auf der Suche nach Experimentierräumen, in denen Scheitern erlaubt ist, kommen wir um Orte neuer Mitwirkung nicht herum. „Kunden schätzen Produkte eher mehr, die ihnen das Gefühl geben, an der Entstehung beteiligt gewesen zu sein, egal, ob sie dafür einen Bausatz zusammen gebaut oder die Entwickler online ermutigt haben“. Das ist der zentrale Satz in Chris Andersons Buch „Makers – das Internet der Dinge: die nächste industrielle Revolution“. Jetzt schrauben ja schon seit geraumer Zeit Kunden von Ikea an ihren Möbeln herum. Die Hoffnungen, die sich mit den aktuellen Entwicklungen des „Internet der Dinge“ ergeben, gehen jedoch einen Schritt weiter. Sie schaffen die Voraussetzung dafür, Menschen aus ihrer passiven KonsumentInnen-Rolle zu befreien und sie zu aktiven KoproduzentInnen ihrer Lebensverhältnisse zu machen.
Die Süddeutsche Zeitung hat in diesem Zusammenhang ein Experiment gestartet, in dem es hundert LeserInnen eingeladen hat, gemeinsam eine Kritik dieses Buches zu verfassen. Die Zeitung wollte sich diesmal nicht darauf beschränken, aus dem berufenen Mund eines Fachmanns/ einer Fachfrau eine Kritik für ihre LeserInnen zu veröffentlichen, sondern eine solche gemeinsam mit ihnen zu erstellen: „Menschen sollen sich nicht nur dafür interessieren, sondern sich auch sehr inspirierend daran beteiligen, wie eine Buchkritik entsteht“. Ein ähnliches Anliegen fällt mir im Zusammenhang mit dem Projekt „no education“ der Ruhrtriennale ein, bei dem junge Leute eingeladen werden, nach den Vorstellungsbesuchen Kritiken zu verfassen.
Apropos junge Menschen: Die Frage ihrer aktiven Mitwirkung stand auch im Zentrum eines europäischen Treffens, das von der belgischen Initiative „Vitamine C“ ausgerichtet wurde. Ausgangspunkt war einmal mehr, der von Heinz Bude diagnostizierte Stillstand eines ebenso verunsicherten wie (noch) privilegierten Mittelstandes. Es liegt in seiner Natur, dass ihre Mitglieder immer älter werden; umso rabiater versuchen sie, ihre wohlerworbenen Rechte, die sie im historischen Fenster der Nachkriegszeit erworben haben, auch und gerade gegen die nachfolgenden Generationen zu verteidigen. Die an dieser Stelle schon mehrfach angesprochenen skandalösen Arbeitslosenraten bei jungen Menschen in Europa (in der Regel weit höher als bei älteren Jahrgängen), denen als Wartende auf bessere Zeiten jede Perspektive genommen wird, sind dafür nur ein schlagender Beleg. Als solche zahlen sie unverschuldet die Rechnung für ein Versagen einer Entscheidergeneration, die vermeint, mit der Strategie des more of he same wenn schon nicht die Welt, so doch sich selbst in die Pension retten zu können.
Diese besondere historische Konstellation (samt den daraus zu erwartenden gefährlichen Auswirkungen) reflektierend, entstand bei den TeilnehmerInnen des Treffens ein jugendpolitisches Konzept, das daraus hinausläuft, Programme kultureller Bildung für junge Menschen durch solche mit jungen Menschen zu ersetzen. Dass das funktionieren kann, hat etwa das Roundhouse in London bewiesen, wenn an diesem Veranstaltungsort junge Menschen nicht nur bei einzelnen Projekten mitmachen dürfen, sondern diese auf allen Ebenen in die Entscheidungsfindung und Umsetzung eingebunden sind und somit die Gesamtstrategie entscheidend mitbestimmen. In Rotterdam gibt es mittlerweile ein „Schattenkabinett“ aus JugendvertreterInnen, die die Entscheidung der Stadtpolitik kritisch hinterfragen und Einfluss nehmen. Und auch das „Freiwillige soziale Jahr in der Kultur“ in Deutschland bietet dafür Anstöße.
Was spricht denn dagegen, junge Menschen aktiv in kulturpolitische Entscheidungen einzubeziehen und davon zu profitieren (zumal sich Kinder sich im familiären Kontext längst als vollwertige Partner bei Konsum- und Freizeitentscheidungen etabliert haben)? Für viele in die Jahre gekommene KulturverwalterInnen mag es noch als ein Affront wirken, nicht mehr alleine an den Schalthebeln der Entscheidung hantieren zu können; stattdessen schreiben sie es sich als ein besonderes Verdienst zu, in paternalistischer Manier Projekte für junge Menschen bereit zu stellen. Aber diese Form des „Gewährens“ schafft keine Zukunft mehr.
Statt dessen schlagen wir ein neues Miteinander vor. Dabei ist uns bewusst, dass es zuerst um eine Haltungsänderung geht und dieses damit von symbolischem Wert ist; den wachsenden Generationenkonflikt wird der Kulturbetrieb so oder so nicht lösen. Immerhin ist zu erwarten, dass sich so manche Sprachregelungen als das erweisen werden, was sie sind: sinnentleerter Sprachschrott zur Aufrechterhaltung eines falschen Status quo. Zudem könnte bei einigen VertreterInnen der bisherigen Alleinentscheider die Lust steigen, sich auf das eine oder andere Experiment einzulassen, vor dem sie bisher aus Angst vor dem Scheitern zurückgeschreckt sind. Die Neugierde und der Entdeckerdrang junger Menschen könnte sie womöglich mitreißen. Und es könnte sich als eine lustvolle Therapie gegen die grassierende Handlungsunfähigkeit erweisen.
Kunst- und Kultureinrichtungen, die bereit sind, sich auf das Experiment „junge Menschen nicht nur als Zielgruppe ihrer Angebote sondern als Mitentscheider“ einzulassen, bitte melden!
Bildnachweis: © Gioconda Beekman
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