Machtversuchungen und kulturelle Bildung
„Die Formen von Herrschaft, die hier wirken und alle Einteilungen vorgenommen haben, sind längst wie unsichtbare Anweisungen in die Hirne graviert, auf dass sie sich selbst vervielfältigen und schließlich wie Naturgesetze erscheinen“ (Pierangelo Maset, Beauty Policy).
Vom 12. bis zum 14. Februar trafen sich politische EntscheidungsträgerInnen, ForscherInnen und andere Fachleute aus dem Bereich kultureller Bildung in Amsterdam, um an der europäischen Konferenz „Quality Now! Arts and Cultural Education to the Next Level“ teilzunehmen. Die Veranstaltung wurde vom niederländischen Ministerium für Kultur, Bildung und Wissenschaft sowie dem National Centre of Expertise for Cultural Education and Amateur Arts (LKCA), dem Cultural Participation Fund (FCP) und der City of Amsterdam ausgerichtet.
Die Eröffnung nahm die niederländische Königin Máxima vor. Schon die Erwartung, mit einem führenden Mitglied der europäischen Aristokratie zumindest für kurze Zeit einen gemeinsamen Raum zu teilen, sorgte bereits vor Beginn der Veranstaltung für beträchtliche Aufregung und Nervosität bei den TeilnehmerInnen. Sie fand ihren Niederschlag in diversen Social Media Postings frei nach dem Motto: „Ich und die Königin“. Ihre kurze Rede war sehr persönlich gehalten und verstand sich in erster Linie als ein Plädoyer zugunsten von musikalischer Bildung: Vor allem Kinder armer Familien würden aus der Beschäftigung mit klassischer Musik besonderen Nutzen ziehen und die ihnen zur Verfügung gestellten Instrumente wie einen Schatz hüten. Eine ebenso gut gemeinte wie mittlerweile im öffentlichen Diskurs stereotype Generalisierung, die mich fragen ließ, woher eine der reichsten, dazu staatlich alimentierten Frauen Hollands wohl ihre unmittelbaren Erfahrungen mit Kindern, denen es an allem fehlt, was das Leben lebenswert macht, hat.
Kunst schlägt Politik
Auf eine ganz ähnliche Weise begründete danach die amtierende Kultur- und Bildungsministerin Jet Bussemaker die Einführung eines neuen musikalischen Schwerpunktes in niederländischen Volksschulen. Demnach sollen künftig „Teaching Artists“ und andere VertreterInnen von Kultureinrichtungen regelmäßig am schulischen Unterricht teilnehmen und so den Mangel an musikalischen Angeboten kompensieren helfen. Ihre Erzählung führte uns nach Argentinien und machte uns vertraut mit dem Schicksal des jungen Lucas, der – wie kann es anders sein – aus völlig deprivierten Verhältnissen stammt und dank El Sistema seine musikalische Bestimmung erfährt. Mit seinem Violinspiel – so die Sozialdemokratin Bussemaker – sei es Lukas möglich geworden, eine höhere Schule zu besuchen. Seit kurzer Zeit sei er nach Holland übersiedelt und bereite sich am Amsterdamer Konservatorium auf eine Virtuosenlaufbahn vor. Ihre politische Schlussfolgerung: Das Beispiel zeige, welch herausragende Rolle Musik für die Lebensgestaltung für alle Menschen haben könne. Und ich stelle mir vor, wie es sein wird, wenn sich demnächst einige Millionen junger LateinamerikanInnen um Aufnahme an einer holländischen Musikuniversität bewerben werden…
Als langjähriger Beobachter muss ich mich anhand dieser Aussichten wohl mit einem Paradigmenwechsel anfreunden: Noch vor 20 Jahren hätte die Geschichte von Lucas – zumindest aus politischem Mund – einen völlig anderen Ausgang genommen. Sie wäre darauf hinausgelaufen, das politische Bewusstsein von Lucas soweit zu schärfen, dass er erkennen kann, worin die Ursachen für seine soziale Erniedrigung liegen und ihn zu ermutigen, sich mit politischen Mitteln für die Durchsetzung seiner und seinesgleichen Interessen einzusetzen. Heute wird ihm eine Geige geliehen und – so ferne er sich im Wettkampf der Talente durchzusetzen vermag – eine musikalische Karriere in Aussicht gestellt. Und so kann in kühner Generalisierung jedenfalls den TeilnehmerInnen von „Quality now!“ suggeriert werden, es handle sich hierbei die Verwirklichung sozialen Fortschritts.
Gibt es kulturelle Bildung an sich?
Die erste Keynote hielt Stéphan Vincent-Lancrin. Als Vertreter der OECD bzw. des Centre for Educational Research and Innovation (CERI) war er Coautor des Bandes „Art for Art’s Sake: The Impact of Arts Education“, der sich – auf der Grundlage von empirisch gesichertem Datenmaterial – mit nachweisbaren Wirkungen kultureller Bildung beschäftigt. In seiner Präsentation blieb Vincent-Lancrin vorsichtig, wenn es um eine datengestützte Bestätigung allzu euphorischer programmatischer Erwartungen geht, die kulturelle Bildung als umfassendes Remedium jedweder persönlicher und gesellschaftlicher Unvollkommenheit anpreist. Statt dessen beschränkte er sich auf die Beschreibung einiger „korrelativer Beziehungen“, die darauf schließen lassen, dass Jugendliche, die sich in besonderer Weise in kulturellen Bildungsprojekten engagieren, diese Haltung wohl auch in anderen Zusammenhängen an den Tag legen.
Beim Zuhören beschäftigte mich vor allem die Frage der unterschiedlichen Intentionen der BetreiberInnen kultureller Bildung. Macht es Sinn, sich kulturelle Bildung als ein weitgehend kontextloses Phänomen vorzustellen, das als solches diese oder jene Wirkung erzielt? Zielführender erscheint es mir, die konkreten Absichten derer, die sich in dem Bereich engagieren, so zu berücksichtigen, dass gefragt werden kann, ob sich diese erfüllt haben oder nicht. Könnte es sein, dass die Wirkung eines Tanzprojektes davon abhängig ist , ob ein/e Lehrer/in dieses initiiert, um es am Ende den Eltern vorzuführen oder um spezifische Probleme der Gruppe, vielleicht sogar ausgewählte thematische Zusammenhänge spielerisch zu bearbeiten. Über diesbezügliche Beziehungen von Absichten und Wirkungen existieren – eigentlich erstaunlich – keinerlei gesicherte Erkenntnisse, wodurch sich die TeilnehmerInnen mit einigen Hinweisen zufrieden geben mussten, die nachzuweisen versuchen, welchen Nutzen kulturelle Bildung an sich hervorbringt, Frei nach Vicent-Lancrin: Auch wenn das Angebot schlecht ist, schaden wird es schon nicht.
Einen Schlüssel zum Verstehen so mancher Widersprüchlichkeiten des Feldes hat mir dann der Beitrag von Ernst Wagner an die Hand gegeben. Als Mitglied des International Network for Research in Arts Education beschäftigte er sich in seiner Keynote mit dem Qualitätsverständnis kultureller Bildung. In seinem Systematisierungsversuchen bezog er sich mehrfach auf eine Studie von EDUCULT, den „Ruhratlas“, die erstmals versucht hat, einen strukturierten Überblick über verschiedene Qualitätsraster zu geben.
Zu Beginn seiner Überlegungen skizzierte Wagner vier Arten der Welterfahrung, die sich in der curricularen Verfassung der europäischen Schule wiederfinden würden: eine kognitiv-instrumentelle, eine ethisch-evaluative, eine ästhetisch-expressive und eine konstitutiv-religiöse. Nun handelt es sich dabei um einen idealtypischen Strukturierungsversuch, der darüber Auskunft zu geben vermag, durch welche Brille SchülerInnen die Welt wahrnehmen und welche unterschiedlichen Instrumente ihnen dafür an die Hand gegeben werden. Trotzdem fällt – gerade in Bezugnahme auf die oben angedeutete legitimierende Darlegung von Wirkungen – auf, dass diese vier Ansätze im historischen Verlauf eine ganz unterschiedliche Gewichtung erfahren haben, die es schwer macht, ein ausbalanciertes Verhältnis herzustellen.
Zur Verdeutlichung: Mit Ausnahme einiger Fundamentalisten kämen heute nur wenige VertreterInnen des konstitutiv-religiösen Ansatzes ernsthaft auf die Idee, die sozialen Wirkungen religiöser Weltsichten als deren Letztbegründung ins Treffen zu führen (das gilt auch, wenn sich kirchliche Wohlfahrtseinrichtungen wie die Caritas um die Milderung sozialen Elends bemühen). Dabei beruhte für lange Zeit weltliche Herrschaft vorrangig auf religiösen Grundlagen („Von Gottes Gnaden“); die Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit bzw. die politische Nützlichkeit für die Herrschenden ergab sich unmittelbar aus einer umfassend religiös bestimmten Weltsicht der Untertanen.
Heute scheint die religiöse Brille weitgehend durch einen kognitiv-instrumentellen Ansatz ersetzt, der sich als die treibende Kraft kapitalistischer Modernisierung erwiesen hat. Seine Anwendung steht mittlerweile für alles, was individuelle ebenso wie kollektive Entwicklung ausmacht. Entsprechend hat der kognitiv-instrumentelle Ansatz wenige Probleme mit jedweden Nutzenerwartungen. Diese stellen vielmehr die Voraussetzung für jeden weiteren Stabilisierungsversuch seines hegemonialen Charakters dar, der jeden, der darin nicht schon die ganze Welt erkennt, zum irrationalen Obskuranten erklärt. Ähnliches ließe sich über den ethisch-evaluativen Ansatz sagen, mit dem großen Unterschied, dass sich seine Wirkungen nicht beliebig objektiven lassen, sondern diese anhand unterschiedlicher sozialer Interessensverhältnisse immer wieder neu ausverhandelt werden müssen.
Ästhetisierung der Welt im Zentrum – Kulturelle Bildung am Rand?
Bleibt der ästhetisch-expressive Ansatz, dessen VertreterInnen sich in Amsterdam einmal mehr als in einem besonderen Widerspruch gefangen zeigten, der es schwer macht, ihn in seiner Eigentlichkeit zu begreifen. Immerhin steht die empfundene Randständigkeit kultureller Bildung einer umfassenden Ästhetisierung aller Lebensbereiche gegenüber, die Welterfahrung zunehmend entlang der Vermittlung ästhetischer Zeichen vermittelt. Und damit dem ästhetisch-expressiven Ansatz eine ganz neue Bedeutung zuweisen könnte.
Anstatt aber diese umfassende ästhetische Transformation – samt den damit verbundenen politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Konsequenzen – ins Zentrum kultureller Bildungsbemühungen zu rücken, verweist der aktuelle Diskurs ungebrochen auf seinen religiösen Ursprung, die kulturelle Bildung zu einer Glaubenssache und jedwede Zweifler zu ignoranten Abtrünnigen erklärt. Aber auch der kognitiv-instrumentelle Ansatz wird nur zu gerne die Pflicht genommen, wenn es darum geht, vor allem naturwissenschaftliche Erkenntnisse (siehe dazu den Hype der Neurowissenschaften im Bereich der kulturellen Bildung) auf die Mühlen der eigenen Legitimationssteigerung umzulenken. Bleibt die ethisch-evaluative Dimension, die eng mit dem Anspruch kultureller Bildung auf Weltverbesserung korreliert und kulturelle Bildung zu einer Variante des Ethikunterrichts erklärt. Auf dieser Grundlage wäre kulturelle Bildung (siehe die Eingangsstatements der PolitikerInnen) in ganz besonderer Weise geeignet, sozialen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken und so das Bild einer heilen Welt aufrecht zu erhalten.
Wie aber steht es mit den genuin ästhetischen Erfahrungen? Ich gebe zu, dass mich im Laufe der Veranstaltung ein nagender Verdacht überkommen ist, der darin besteht, dass die meisten VertreterInnen kultureller Bildung vielleicht gar kein Interesse an ästhetischen Fragen haben bzw. diese bestenfalls für zweitrangig halten. Immerhin fällt auf, dass das, was in solchen Veranstaltungen wie „Quality now!“ künstlerisch geboten wird, in aller Regel künstlerisch weitgehend irrelevant erscheint und so auch keinerlei kunstspezifischen Qualitätsansprüchen zu genügen vermag. Und dass das niemanden stört. Und so ist es nicht verwunderlich, dass der Sektor, wie er sich zur Zeit präsentiert, gar keine eigenen, sich (nur) aus ihrem ästhetisch-expressiven Ansatz ergebenden Erkenntnisse über die Welt beizusteuern vermag sondern gezwungen ist, sich mit den Brosamen anderer Weltsichten zufrieden zu geben.
Der neue, exzessive Legitimationsbedarf von Kunst
Dazu ein Detail: Die Veranstalter ermöglichten auch Besuche ausgewählter kultureller Einrichtungen, die in herausragender Weise Education- und Outreach-Programme anbieten. Nach kurzem Nachdenken bin ich der Gruppe gefolgt, die die Vermittlungsinitiative „NedPhO GO!“ des Niederländisch Philharmonische Orchesters besucht hat. Untergebracht in einer umgewidmeten Kirche in einem sozialen Brennpunkt, sieht es das Orchester als seine Aufgabe, die BewohnerInnen des Quartiers und darüber ganz Amsterdams bei ihrer Arbeit aktiv einzubeziehen und für klassische Musik zu gewinnen:
„The NedPhO|NKO is known for its active participation in all matters cultural and social. As NedPhO GO! musicians play in classrooms and hospitals, community centres and housing co-operatives, parks and squares. They play in all sorts of places in Amsterdam, but always with the same aim: to convey the love of music to infants and children, the handicapped and the imprisoned, children with a serious illness, old people with Alzheimer’s and all Amsterdammers who would not normally go into a concert hall. The NedPhO|NKO seeks to be accessible to as wide an audience as possible and has therefore made NedPhO GO! a permanent part of its activities. Outside their normal concert work, our players share their passion for music with many different groups from our society every week, with around one hundred extra performances per year.“
Und auch eine kleine Auswahl an positiven Vorurteilen darf in der Selbstdarstellung nicht fehlen: „People who are sick forget why they are in the hospital; handicapped children dance to the sound of Ravel’s Bolero in the Concertgebouw; old people with dementia unexpectedly sing along; classes from schools come to visit and people from other cultures are inspired by the sounds of the Western symphonic tradition.“
So sympathisch überzeugend sich die Präsentation gestaltete, so kann der instrumentelle Charakter dieser Aktivitäten nicht völlig außen vor gelassen werden. Immerhin bringen sie – wie sich schon jetzt beobachten lässt – eine nachhaltig wirksame Gentrifizierung des Grätzels mit sich, in dem es schick geworden ist, sich anzusiedeln, weil ein kirchliches Nachfolgeinstitut die bisherigen Strukturen aufmischt – und im letzten doch vom Wunsch geleitet wird, sich entlang neuer kulturpolitischer Vorgaben so weit zu legitimieren, dass ihr künstlerisches Tun auch in Zukunft von der öffentlichen Hand eine materiell wirksame Privilegierung erfährt.
Hören Sie auf, naiv zu sein!
Als letzter Keynote Speaker sprach der niederländische Erziehungswissenschafter Marc Vermeulen. Schon zu Beginn machte er klar, dass er von kultureller Bildung keine Ahnung habe und sich daher auf seine Rolle des wohlmeinenden Beobachters beschränken wolle. Vielleicht gestaltete sich gerade deshalb sein Beitrag besonders anregend, wenn es ihm gelang, mit seiner Präsentation einen größeren Zusammenhang zwischen kulturellen Bildungsangeboten und den Wirkungen staatlicher, privatwirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Interessensgruppen im Verlauf des sozialen Wandels herzustellen. Geht es nach ihm, dann ist es die Analyse dieser Zusammenhänge, die es überhaupt erst möglich macht, die realen Einfluss- und Aktionsmöglichkeiten kultureller Bildung (samt damit verbundener Qualitätsvorstellungen) zu diskutieren.
Sein Schlussbemerkung könnte uns noch länger beschäftigen: „Hören Sie auf, naiv zu sein!“, meinte er und lud dazu ein, den politisch-sozialen Kontext, innerhalb dessen sich kulturelle Bildung bewegt, mehr als bisher zu berücksichtigen. Seine Befürchtung: Wenn es nicht gelingt, die eigenen professionellen Anliegen in die politische Arena zu tragen, dann würden weit mächtigere externe Kräfte – wie bisher? – über den Sektor verfügen und ihm die kultureller Bildung fernen Qualitätsvorstellungen zugrunde legen, die ihren Interessen am ehesten entsprechen.
Ihren VertreterInnen bliebe dann – das hat Vermeulen nicht mehr gesagt – ein kurzer Augenblick der Euphorie, während dessen die Königin vor und mit ihnen gesprochen hat.
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