„Mainstream“
Die Feiertage zwischen Weihnachten und Neujahr: Eine Zeit irgendwie dazwischen. Der Alltag des alten Jahres liegt bereits zurück und der des neuen hat noch nicht begonnen. Eine Chance, zur Ruhe zu kommen und sich neu zu orientieren. Ich hab sie mit Hilfe des Buches „Mainstream“ des französischen Forschers und Journalisten genutzt, der in seiner „enquête sur cette culture qui plaît à tout le monde“ draufkommen wollte, wie die Produktion von Kultur, die die Erwartungen eines globalen Publikums über nationale, ethnische, religiöse und sonstige Grenzen hinweg trifft, funktioniert.
Eine höchst demokratierelevante Frage also, zumal Martel über die Produktion kultureller Güter berichtet, in die die Erwartungen des Publikums einbezogen werden. Im Zentrum stehen die Bedingungen der Filmproduktion in Hollywood. Am Anfang der Entscheidungsfindung, ob ein Filmprojekt das „green light“ erhält, steht immer die Auswahl des potentiellen Publikums entlang der entscheidenden Kriterien „Alter, „Geschlecht“ und „Hautfarbe“. Als Ideal wird die Produktion eines „four-quadrant-films“ angestrebt, der sich gleichermaßen an Männer und Frauen über und unter 25 Jahren richtet. Dazu werden „focus groups“ gebildet, die zusammen mit „test-screenings“ und qualitativen Interviews umfassende Informationen nicht nur für die inhaltliche Ausrichtung sondern auch für die geplante Marketingstrategie erlauben. Sorgfältig ausgewählten Gruppen werden daraufhin erste Trailer gezeigt, um ihre Reaktionen zu beobachten. Darauf hin wird eine Vorkampagne in den Kinos lanciert und in Talkshows, die von, den Studios angeschlossenen Fernsehkanälen ausgestrahlt werden, die mitwirkenden SchauspielerInnen präsentiert.
Daraufhin werden nochmals „focus groups“ eingeladen, die darüber Auskunft geben sollen, was und wie intensiv sich die TeilnehmerInnen die Details der bisherigen Berichterstattung gemerkt haben (In der Marketingsprache heißt das „stickiness“, also ob und wie sehr das bisher Produzierte in den Köpfen „klebt“). Das kann zu weiteren Veränderungen führen, etwa eine Dialogszene durch eine Aktionszene zu ersetzen, um insbesondere den Erwartungen der jungen Männer entgegen zu kommen. In diesem Stadium – so Martel – könne ein erfahrener Marketeer bereits mit einer sehr geringen Fehlerwahrscheinlichkeit das Ausmaß des Erfolgs des Films voraussagen, ohne dass dieser überhaupt in die Kinos gekommen wäre. Immerhin gilt es vorher noch das Erscheinungsdatum zu überlegen, das in verschiedenen Teilen der Welt je nach Feiertagskultur noch einmal Einfluss auf das Publikumsinteresse nehmen kann. Von rund 2 500 Filmprojekten, die dieses – auf dem Verhalten des potentiellen Publikums basierenden – Entscheidungsverfahren durchlaufen, schaffen es rund ein Zehntel in die Kinos.
Nun ist Hollywood eine Industrie und ihr erstes Betriebsmittel ist es, mit seinen Produkten Geld zu machen (von denen das Filmemachen nur eine minoritären Anteil von rund 20% ausmacht, während der weiteren Franchise-Kette, die vom Betrieb von Studio eigenen Fernsehkanälen, Eventparks, Hotellerie und Gastronomie bis zu Kreuzfahrtangeboten reicht, immer mehr an Bedeutung gewinnt).
Europa als Residuum künstlerischer Eigensinnigkeit?
Das ist in Europa (noch) anders, zumal die Tradition eigensinniger Kunstproduktion von den global agierenden Marktkräften zunehmend als ein elitäres Überbleibsel eingeschätzt wird. Daher ist es kein Wunder, wenn der alte Kontinent im Rahmen der Produktion von „kulturellem Mainstream“ längst von Brasilien, Indien oder China überholt worden ist.
Der Grund liegt in einer wesentlich größeren Bedeutung des künstlerischen Eigenwerts kultureller Produktion in Europa, der sich zunehmend als Nachteil im internationalen Wettbewerb erweist. Ursprünglich als Errungenschaft gefeiert, droht der Anspruch künstlerischer Autonomie, der sich nur mühsam vom Geschmack sowohl seiner Auftraggeber als auch des Publikums zu emanzipieren versucht hat, zunehmend ins Abseits zu geraten. Besonders deutlich wird das zur Zeit in weiten Teilen des Kulturbetriebs in den postkommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas, wo sich die Publikumszahlen in den letzten Jahren zum Teil dramatisch verringert haben (Als Beispiel kann dafür der Theaterbetrieb in Bulgarien herhalten, wo sich die jährlichen BesucherInnen-Zahlen zuletzt von rund 10 Mio. auf 3 Mio. reduziert haben).
Nicht ganz so dramatisch erscheint die Situation in den meisten westeuropäischen Ländern wo – im Schlepptau vor allem britischer Initiativen – immer mehr Kultureinrichtungen „audience development“ betreiben, in der Hoffnung, damit neue Publikumsschichten für ihr Programm zu begeistern. Mit einer Vielzahl zusätzlicher Angebote, die von Einführungen, Begegnungen mit KünstlerInnen, Vermittlungsprogrammen, streams von Aufführungen bis hin zu Auftritten in den social media reichen, soll der Kontakt mit den Publika intensiviert und damit das Standing verbessert werden.
Die unmittelbare Mitwirkung des Publikums an der Programmgestaltung – die dem oben angedeuteten Auswahlverfahren in Hollywood auch nur annähernd entsprechen würde – bildet aber bis heute die große Ausnahme. Zu groß ist da bis jetzt der Unbedingheitsanspruch künstlerischer Produktion (in aller Regel ermöglichst durch öffentliche Förderung), die darauf abstellt, die Qualität eher daran zu bemessen, inwieweit es gelingt, den Geschmack des Publikums zu irritieren als ihm zu entsprechen.
Abstimmungen zum künstlerischen Programm per Internet
Es blieb dem renommierten Hamburger Thalia Theater vorbehalten, diese tief sitzende Produktionslastigkeit mit einer Aktion der besonderen Art zu durchbrechen. Mit dem Anspruch, einen Beitrag zur Demokratisierung des Kulturbetriebs leisten zu wollen, lud das Haus eine anonyme Öffentlichkeit ein, den Spielplan mitzubestimmen. Mittels Postkarten und im Netz konnten Stücke nach freier Wahl vorgeschlagen werden. Rund 5500 Personen beteiligten sich an dieser Aktion, die sich – wie der Dramaturg Carl Hegemann meinte – zu keiner repräsentativen Wahl sondern zu einer Reihe von Überraschungen führen sollte.
Neben dem Rock-Musical „Peers Heimkehr“ fanden sich zwei vergessene Dramen aus den Kriegs- und Nachkriegstagen, Friedrich Dürrenmatts „Die Ehe des Herrn Mississippi“ und Thorton Wilders „Wir sind noch einmal davon gekommen“ unter den „Siegerstücken“. Bald schon stellte sich heraus, dass letztere beiden von einem Netzaktivisten mit dem Pseudonym „Friedrich T.Halia Wilder“ offenbar erfolgreich kampagnisiert wurden und zumindest auch Kampnagel, das konkurrierende Theaterunternehmen in der Stadt, hat dieses „basisdemokratische Verfahren“ wesentlich beeinflusst.
Über da Thalia-Theater ergoss sich in der Folge eine Flut an hämischen Kommentaren, die sich über die scheinbare Naivität der Initiatoren ebenso mokierte wie sie über die grundsätzliche Unmöglichkeit räsonierte, kulturelle Aktivitäten „demokratisch“ zu verhandeln. Während der Intendant Joachim Lux und sein Dramaturg Carl Hegemann zurzeit heftig zurückrudern („Die künstlerische Freiheit bleibt unangetastet. Der Publikumsentscheidung kann auch durch fünfminütige Voraufführungen zu anderen Stücken entsprochen werden“) hat diese Provokation es doch geschafft, eine breitere Diskussion zum prekären Verhältnis von „Demokratie“, „Partizipation“ und „Kulturschaffen“ auszulösen.
In diesem Zusammenhang ist eine Reihe von Analysen zum heruntergekommenen Begriffsverständnis von Demokratie erschienen, die weit über den Kulturbetrieb hinausweisen. Till Briegleb etwa von der Süddeutschen Zeitung spricht von einem „Abstimmen für die Graburne“. Die Wahl sei ein exemplarische Beispiel dafür, wie selbstverständlich hohl die Begriffe „Demokratie“ und „Partizipation“ mittlerweile geworden seien: „Dank eines inflationären Abstimmungsverhaltens, das sich in Rankings, Bewertungen, Statistiken, aber vor allem in Umfragen niederschlägt, hat sich das Gefühl einer globalen User-Demokratie selbst dort durchgesetzt, wo man es eigentlich besser wissen sollte: in Medien und Institutionen, die zu Kritik und Selbstkritik verpflichtet sind.“
Was hier auf den Punkt kommt, ist eine Kritik an einer kulturellen Produktionsweise, die sich an den ästhetischen Prädispositionen seines potentiellen Publikums orientiert. Vereinfacht gesagt: Die Kundenerwartungen sollen bestmöglich bedient werden. Das sei im Kapitalismus legitim, aber möglicherweise eine Verkürzung eines Demokratieverständnisses, dem zumindest Briegleb unterstellt, es komme mittlerweile weitgehend ohne Argument und Verantwortung aus: „Unkontrollierte Abstimmungen ohne Konsequenzen für den Wählenden zeugen eben nicht von der Herrschaft des Volkes, sondern von moderner Marktforschung. Like-Buttons, Netzbewertungen und Internetabfrage dienen vor allem der Impulsabfrage, zum Erzeugen von Stimmungsbildern, mit dem Unternehmen ihre Angebote besser justieren können, ohne sich auf irgendeine Mi8tbeswtimmung oder Verbindlichkeit zu verpflichten. Gerade Netz-Voting in seiner wesenhaften Willkür verhält sich zu wesenhafter Demokratie wie Exorzismus zu Biologie“.
Demokratie muss gefordert und kann nicht gewährt werden
Ungewollt verweist diese Analyse nicht nur auf die aktionistische Spielplanwahl des Thalia-Theaters (das dieses Experiment „sicher nicht“ wiederholen möchte) sondern auf die viel weitergehende Mainstream-Produktion“, das nach Martel mittlerweile den handlungsleitenden Maßstab für das globale Kulturschaffen bildet.
Bei Briegleb gibt es einen entscheidenden Satz: „Demokratie muss gefordert, nicht gewährt werden“. Wenn das stimmt, dann hat der europäische ebenso wie der internationale Kulturbetrieb ein sehr grundsätzliches Problem mit der Demokratie. Zu deutlich zeigt sich immer wieder, dass Menschen sehr gut ohne das Angebot des Kulturbetriebs auszukommen bereit sind. Abgesehen von einer kleinen Minderheit erfahren sie für sich keine signifikante Einschränkung ihrer Lebensqualität, wenn sie die bestehenden kulturellen Angebote nicht annehmen. Dementsprechend bescheiden sind diesbezügliche Forderungen breiter Teile der Bevölkerung, im Rahmen seiner demokratischen Mitwirkungsrechte am kulturellen Leben teilzunehmen. Sie reichen in der Regel nicht über die Interessensartikulation der unmittelbar am Betrieb Beteiligten hinaus.
Deren Produktionsbedingungen werden – jedenfalls in Europa – nach wie vor prioritär vom Staat aufrechterhalten. In Ermangelung entsprechender Forderungen beschränkt er sich auf Rezipientenseite weitgehend auf das Gewähren. Mit vielfältigen Maßnahmen soll „Zugang ermöglicht“, „Publikum entwickelt“ und auf diese Weise „Kultur gewährt“ werden. Wie wir alle wissen, halten sich die Erfolge in Grenzen. Und damit auch die Hoffnung, den Begriff der Demokratie mit kulturellem Leben zu erfüllen.
Der Mainstream rückt näher
Also schauen wir zunehmend gebannt in die Vereinigten Staaten, wo man uns vormacht, wie die Einbeziehung des Publikums funktioniert. Auch dort wirt Mitbestimmung nicht gefordert, aber die Produkte werden gekauft. Und so werden zugunsten von „audience development“ in nächster Zeit wohl auch immer mehr europäische Kultureinrichtungen vor Programmentscheidungen „focus groups“ zusammen stellen, „test-screenings“ veranstalten und mit ausgewählten Testpersonen qualitative Interviews zu ihren emotionalen Eindrücken durchführen. Vielleicht können damit die Besucherzahlen noch einmal gesteigert werden.
Einen Beitrag zur kulturellen Demokratisierung stellen sie wohl eher nicht dar; eher schon zur Übernahme des europäischen Sonderfalls in den internationalen Mainstream.
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