Mehr kulturelle Bildung – ja, bitte!
In diesen Tagen moniert der Deutsche Rat für kulturelle Bildung die Einhaltung des Regierungsvertrags der Großen Koalition aus dem Jahr 2013, in dem ein politisches Bekenntnis zur „gleichen kulturellen Teilhabe von allen Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ festgeschrieben wurde. Angekündigt wird eine Studie des Instituts Allensbach, die „relativ dramatische und relativ verheerende Ergebnisse“ verspricht. Der Sprecher des Rates Holger Noltze dazu: Der Zugang zu Kultureinrichtungen ist ungebrochen vom persönlichen Hintergrund, damit vom Bildungsgrad der Eltern und von der Schulform abhängig.
In Österreich gibt es keinen derartigen Rat, der sich für kulturelle Bildung stark macht und als Anwalt kultureller Interessen junger Menschen auftritt. Stattdessen ist das Thema kulturelle Bildung mit der Neuauflage der großen Koalition weitgehend von der kultur- und bildungspolitischen Agenda verschwunden. Offensichtlich wird es als zu wenig attraktiv für die Profilierung der neuen politischen Akteure angesehen. Und gespart werden muss auch.
Jetzt will ich nicht behaupten, dass die Vernachlässigung kultureller Bildung habe unmittelbar zum aktuellen politischen Desaster, das Österreich in diesen Tagen erschüttert, beigetragen. Nicht von der Hand zu weisen ist hingegen die Vermutung, dass der Unwille bzw. die Unfähigkeit der regierenden Koalitionsparteien, dem weiteren Aufstieg der FPÖ zur führenden Kraft eine überzeugende Antwort entgegenzusetzen, auch das kulturelle Gefüge des Landes nachhaltig erschüttert. Einst angetreten mit der Losung, „die Altparteien mit einem nassen Fetzen vor sich her zu treiben“ (Jörg Haider) arbeitet diese „rechtsextreme, ausländer-, minderheiten- und elitenfeindliche Gruppierung“ (Christian Rainer im Wochenmagazin profil) heut konsequent an der Selbstentmachtung des politischen Establishments, dem jede Vorstellung für eine bessere Zukunft abhandengekommen zu sein scheint.
Die Ewiggestrigen als einzig verbleibende Zukunftshoffnung vor den Toren der Macht
In Vorbereitung der Mutter aller Wahlschlachten in der Bundeshauptstadt Wien, die für Oktober dieses Jahres vorgesehen ist, affichiert die FPÖ zurzeit ein großformatiges Wahlplakat mit ihrem Parteiführer HC Strache. Er wird dort gefeiert als der „Einzige für unsere Werte und Kultur“. Eine starke Ansage, die sich vorrangig an diejenigen in der Gesellschaft richtet, die bislang vom traditionellen Kulturbetrieb ausgeschlossen waren, während alle anderen ins Reich der ethischen Verwahrlosung und der Kulturlosigkeit verwiesen werden. Liest man das Werbematerial der Partei im Detail, dann richtet sich dieses Statement ebenso gegen die staatliche Förderung einer „Schweinkram Hochkultur“, im Rahmen dessen „militante Linksextreme in Sadomaso belehrt würden – inklusive Auspeitschen sowie Nadel- und Wachsspiele“ wie von Anti-Rassismus-Aufklärungsprogrammen von BerufsschülerInnen oder von Roma-Kulturvereinen.
Auf der Suche nach einer genaueren Bestimmung dessen, was der letzte Mohikaner der Werte und Kultur für verteidigungswert hält, wird man im FPÖ-Parteiprogramm fündig. Dort heißt es: „Wir bekennen uns zu unserem Heimatland Österreich als Teil der deutschen Sprach- und Kulturgemeinschaft. Sprache, Geschichte und Kultur Österreichs sind deutsch. Die überwiegende Mehrheit der Österreicher ist Teil der deutschen Volks-, Sprach- und Kulturgemeinschaft“.
Dieses Bekenntnis lässt an überwunden geglaubte Zeiten erinnern. Dazu zwingt sie der FPÖ einen Spagat auf, der sie zwischen der Konstruktion eines halbwegs konsistenten Österreichbildes und einer vorgeblich naturhaften Zugehörigkeit zur deutschen Kulturgemeinschaft hin und her pendeln lässt. Diesen Widerspruch zu bändigen, scheint vor allem deshalb notwendig, weil im Parlament echte Österreicher und deutschnationale Burschenschafter in ein und derselben freiheitlichen Gestalt sitzen. Deren geringstes Problem besteht, darin, ob ÖsterreicherInnen in Zukunft zum Sessel Stuhl oder zur Paradeiser Tomate sagen sollen. In Erwartung einer baldigen Umsetzung ihrer menschenverachtenden Ideologie, die eine – wenn es sein muss – gewaltsame Trennung der „unseren“ von allen „anderen“ zu rechtfertigen versucht, lassen sie Erkenntnisse zum eigenen fehlerhaften Gebrauch der deutschen Sprache ungerührt über sich ergehen.
Womit wir bei einem zentralen Mittel kultureller Politikgestaltung (mit beträchtlichen Auswirkungen auf eine inhaltliche Bestimmung kultureller Bildung) dieser Partei wären, die sich anschickt, führende Kraft eines ansonsten traditionell konservativen Landes zu werden. Ihr Anspruch auf unbedingte Verteidigung eines irgendwie zugleich deutschen wie österreichischen Kultur- und Wertehaushalts basiert ungebrochen auf der Existenz eines homogenen Volkskörpers, der von politisch anlassbezogenen Unterscheidungsmerkmalen geprägt ist, wer und was dazugehört und was nicht. In Stellung gebracht wird das Kriterium der kulturellen Zugehörigkeit vor allem zur Vertiefung sozialer Gräben und damit verbundener Schuldzuweisung an all diejenigen, denen die kulturelle Zugehörigkeit abgesprochen wird. Und dazu eignen sich im Moment Flüchtlinge und Asylwerber, die – jeder und jede für sich – alle Hände voll zu tun haben, ihre elementaren Existenzgrundlagen zu sichern, am allerbesten.
Ideen Ewiggestriger, könnte man einwenden, wäre da nicht der Umstand, dass die FPÖ mittlerweile von einer eindeutigen Mehrheit, vor allem der männlichen jüngeren Generation gewählt wird, die sich von entsprechender Rhetorik angezogen fühlt, sich vielleicht sogar Vorteile davon verspricht. Gerne ins Treffen geführt werden dabei Wahlanalysen, wonach es sich bei diesen Parteigängern vor allem um verunsicherte Krisenverlierer handelt, die von den etablierten nicht mehr erreicht werden. Mit ihrer Parteinahme würden sie versuchen, in der Wahlzelle ihrem Ärger über ihre eigene Inferiorität Luft zu machen. Man könnte diesen Protestausbrüchen zynisch entgegen halten, dass den politischen Führern die Motive ihrer Wählerinnen herzlich wurscht sind, solange diese sie auf der aktuellen Erfolgswelle ins Zentrum der politischen Macht tragen.
Über das faktische Ende kultureller Homogenität
Dort angekommen wird ihr führendes Personal versuchen – wie die jüngste Geschichte der FPÖ-Regierungsbeteiligungen eindrucksvoll belegt – sich einmal mehr an öffentlichem Eigentum zu bereichern. Um dies zu verschleiern werden die VertreterInnen ihr Programm der kulturellen Homogenisierung als Voraussetzung für eine weitere Renationalisierung Österreichs konsequent weiter vorantreiben. Sie werden sich dabei in guter Gesellschaft mit einer Reihe anderer Kräfte in Europa wissen, die sich die Zerstörung des europäischen Projekts auf die Fahnen geschrieben haben.
Dass sich die Realitäten in weiten Teilen Europas von Vorstellungen einer für alle verbindliche Kultur entfernt haben, braucht an dieser Stelle nicht besonders betont werden. Sie orientieren sich nicht mehr an überkommenen Homogenitätsphantasien, sondern an einem Bild, das die Deutsche Bundeszentrale für politische Bildung 2012 gezeichnet hat: „Wer heute in Deutschland lebt, sieht sich also keiner geschlossen-einheitlichen Kultur gegenüber. Vielmehr herrscht, wie in den meisten freiheitlichen westlichen Gesellschaftlichen, eine pluralistisch-heterogene kulturelle Gemengelage aus vielfältigen historischen Erfahrungen, gemeinsamen westlich-europäischen Werten und genuin nationalen Eigenarten vor.“
Kultur neu denken – Kulturelle Bildung inhaltlich neu ausrichten
Und doch: Der aktuelle Aufwind nationalistischer Kräfte – der in Österreich die Segel des politischen Schiffs besonders eindrucksvoll blähen lässt – ist drauf und dran, die beschriebenen Errungenschaften kultureller Weiterentwicklung zugunsten Pluralität und Vielfalt nachhaltig zur Disposition zu stellen.
Da sich die FPÖ-Angebote vorrangig an die sozialen Gruppen richten, von denen der Rat für kulturelle Bildung meint, dass diese nach wie vor kulturpolitisch am stiefmütterlichsten behandelt werden, orte ich einen verstärkten Bedarf, sich über inhaltliche Schwerpunktsetzungen einer kulturellen Bildung, die sich auf der Höhe der Zeit weiß zu verständigen. Man muss nicht den Kalauer von Anne Bamford in ihrem „Wow Faktor“ wiederholen, dass nicht jede Form der kulturellen Bildung per se gut und gar keine kulturelle Bildung manchmal besser als schlechte kulturelle Bildung ist. Es genügt, die aktuellen politischen Entwicklungen nicht nur in meinem Land, die mich zugegebener Maßen sehr betroffen macht, ernst zu nehmen. Sie erfordern unmittelbar, sich nicht nur über die Optimierung der Organisationsformen sondern auch über Inhalte unseres Fachzusammenhangs neu zu verständigen und – wenn wir sie als die richtigen erkannt haben – in die (kultur-)politische Arena zu tragen.
In der vergleichenden Beobachtung fällt auf, dass kulturelle Bildung in einer Reihe europäischer Länder nach wie vor als Mittel der nationalen kulturellen Identitätsversicherung herhalten muss. Mit einer solchen inhaltlichen Ausrichtung arbeitet sie nolens volens denjenigen Kräften zu, die das europäische Integrationsprojekt gefährden. Dies umso mehr, als es die europäischen Einrichtungen bislang weitgehend vermieden haben, die Dominanz bestehender nationaler Kulturkonstruktionen zu überwinden und gemeinsame europäische Kulturvorstellungen an deren Stelle treten zu lassen.
Sie gehen dabei an europäischen kulturellen Realitäten absichtsvoll vorbei, die sich ungeachtet freiheitlicher Wirklichkeitsproduktion längst an transkulturellen Konzepten orientieren, die nicht mehr Halt vor willkürlich gezogenen geographischen oder sonstigen Grenzen machen. Kulturelle Bildung käme in diesem Zusammenhang nicht nur die oben eingemahnte Aufgabe zu, Theater- oder Konzertbesuche zu ermöglichen (die Geschichte lehrt eindrücklich, dass dieses Angebot auch in autoritären Systemen funktionieren kann), sondern „Kultur neu zu denken“ und damit der Erschöpfung des politischen Diskurses eine anzustrebende Perspektive eines besseren Lebens entgegenzusetzen. Kleine Anregung dazu: die Schaffung sogenannter „Dritter Räume“ (Homa Baba), in denen unterschiedliche kulturelle Hintergründe aufeinandertreffen, sich kennenlernen, sich austauschen, Konflikte austragen, sich wertschätzen und sich gegenseitig bereichern können – und auf diese Weise ein vielfältiges, sich laufend weiterentwickelndes Menschenbild entstehen lassen, das sich nicht mehr ein für alle Mal an der Ausprägung quasi naturhafter kultureller Besonderheiten festmachen lässt.
Europäische Integration und kulturelle Verständigung
Der österreichische Autor Robert Menasse, der sich seit Jahren um eine Vertiefung des Verständnisses der europäischen Idee bemüht, hat in der jüngsten Ausgabe der Presse mit seinem Essay „Nicht mehr, noch nicht“ die Antiquiertheit (und zugleich Gefährlichkeit) grassierender Renationalisierungstendenzen beschrieben. Ihm erscheint die weitere Vertiefung der europäischen Integration eine historische Notwendigkeit, ohne die es keine Zukunft für den Kontinent gibt. Auf den Punkt gebracht: „Die Nationalstaaten werden untergehen. Je früher wir uns mit diesem Sachverhalt vertraut machen, desto besser für unsere demokratische und selbstbestimmte Zukunft. Oder es wird wieder Schutt und Asche geben, Misere, Trümmerlandschaft, massenhaft ermordete Sündenböcke und tote Sünder. Und wir werden ganz furchtbar betroffen vor den rauchenden Trümmern stehen und murmeln: Das soll nicht wieder geschehen dürfen.“
Ich lese aus diesen Zeilen ein Plädoyer für eine gestiegene Verantwortung auch bei den VertreterInnen kultureller Bildung. Sie entscheiden wesentlich mit, welcher Kulturbegriff in ihren Aktivitäten verhandelt wird und ob bzw. wie ein solcher politisch instrumentalisiert wird. Bisherige Begründungsmotive im Rahmen eines neoliberalen Diskurses, die darauf hinauslaufen, junge Menschen – und sei es mit kulturellen Mitteln – fit für den Konkurrenzkampf zu machen werden als Bestandsgarantie der befassten Einrichtungen allein nicht ausreichen. Stattdessen spricht die aktuelle politische Situation dafür, das vernachlässigte Projekt der Emanzipation wieder aufzunehmen, das die individuelle – ebenso wie die kollektive – Fähigkeit der aktiven Mitwirkung am – ansonsten zunehmend devastierten – gesellschaftlichen Leben wieder in den Mittelpunkt rückt.
Erste, zugegeben noch sehr bescheidene Versuche, etwa in Form des Projekts „New Alliances for Europe“ im Rahmen dessen sich zuletzt eine Reihe von Arts Educators aus ganz Europa und darüber hinaus zusammengefunden hat, gehen in die richtige Richtung.
Weil es nicht angeht, eine solche Analyse ohne positive Aussichten enden zu lassen, möchte ich auf zwei Aktivitäten besonders hinweisen, die sich als Beispiele von Good Practice erweisen könnten. Da ist zum einen die aktuelle Mehrspartenbiennale des Museums für Angewandte Kunst in Wien mit dem Titel „Ideas for Change“, die künstlerisches Handeln auf konkrete gesellschaftspolitische Umstände bezieht und sich um „kreative Lösungen für die globalen Herausforderungen der Gegenwart“ bemüht.
Und da ist das Projekt „urbo kune“ des führenden österreichischen Ensembles für Gegenwartsmusik, das im Verlauf von 25 Stunden vom Werden, Entstehen, Funktionieren und Wirken einer neuen mustergültigen Stadt, die als die Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Europa erdacht und errichtet wird, erzählt. Als Abbild dieser Stadt ist die Oper ein Mischwesen aus utopisch-künstlerischer Fiktion und konkreten konzeptuellen Entwurfsarbeiten.
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