„Ned de Seitn, de da, du Trottl. Nichtgenügend“
Angeregt zu dieser Blogausgabe hat mich diesmal ein Essay des Doyens der österreichischen Erziehungswissenschaften Karl Heinz Gruber zu seiner abenteuerlichen Ausbildung zum Lehrer. Er teilt in dem Beitrag mit den Leser*innen ganz persönliche Erlebnisse, viele von ihnen recht widrige, die ihn dennoch zu einem begeisterten Lehrer gemacht haben. Auch wenn er spätestens in seinem ersten Arbeitsjahr von seinen hochfliegenden Träumen auf den Boden der Realitäten zurückgeholt wurde.
Vielleicht sind die Widrigkeiten prägender als noch so gut gemeinter Zuspruch
Wenn ich mich seit vielen Jahren mit Kultureller Bildung beschäftige, so ist das wahrscheinlich nicht ganz zufällig. Immerhin bin ich in einem Musikerhaushalt aufgewachsen; mein Vater war Geiger und Trompeter und hat wesentlich mitgeholfen, nach dem Zweiten Weltkrieg den Jazz (gegen manchen Widerstand der Klassikfraktion) in Österreich salonfähig zu machen. Gesehen habe ich ihn selten; er spielte 363 Tage (Heiliger Abend und Karfreitag waren die einzigen spielfreien Tage) im Jahr in Bars und Nachtclubs, nach dem morgendlichen Heimkommen schlief er bis in den frühen Nachmittag. Manchmal kamen Schüler vorbei: ich erinnere mich an einen jungen Mann mit Hasenscharte, den mein Vater bei Intonationsfehlern sehr rüde behandelte. Erhalten geblieben ist ein Bild von mir als Fünfjährigem, der – angetan mit einer Schaffner-Uniform – die Trompete bläst. Angeblich konnte ich damals die C-Dur-Tonleiter fehlerfrei spielen; mein Vater war ganz stolz, wollte mich aber nicht weiter am Instrument üben lassen, weil er um meine Gesundheit besorgt war.
Stattdessen sollte ich Klavier lernen. In der Volksschulzeit besuchte ich ein katholisches Halbinternat. Im ersten Jahr wurden wir von einem liebevollen Pater unterrichtet, der uns für jeden Einser einen Strohhalm in die Weihnachtskrippe legen ließ, auf dass das Christuskind weich liegen möge. Als mein Vater für mich einen Klavierlehrer suchte, bot sich ein anderer Lehrer dieser Schule an. Bald stellte sich heraus, dass der Lehrer Weinzettl selbst gar nicht Klavierspielen konnte und mir so wohl auch nur wenig beibringen konnte. Dafür aber verkaufte er die Stachelbeeren – eine Handvoll für einen Schilling – die mir zuvor meine Großeltern für einen Schulausflug mitgegeben hatten. Uns faszinierte aber vor allem, dass das Schloss Pernegg, in dem wir untergebracht waren, damals völlig baufällig war. Wir konnten durchs Dach den freien Himmel sehen. Zum Frühstück gab es ranzige Butter.
Auf den geistlichen Pater Schober folgte ab dem zweiten Schuljahr der weltliche Lehrer Paltram. Als traumatisierter Kriegsheimkehrer (was mir damals natürlich nicht bewusst war) führte er ein infames Regime, um vor allem die Schwachen zu karnifeln. (Manchmal fuhr die Klasse an Mittwoch-Nachmittagen nach Fertigstellung der Hausaufgaben mit einem Bus ins Grüne. Einmal musste ich die meine so lange – ich glaube es waren zehn Versuche – neu schreiben, bis ich vom Fenster aus die Abfahrt des Busses mit den anderen Schülern beobachten konnte.) Das Lernprogramm der dritten Klasse bestand ausschließlich im Dividieren. Lehrer Paltram nominierte dafür jeweils einen seiner Lieblinge, der mitten in einem Rechnungsvorgang den Namen eines Mitschülers aufzurufen hatte. Dieser sollte mitten im Rechengang ansatzlos laut weiterrechnen.
Kulturelle Bildung als institutioneller Nachweis, den Vorschriften zu folgen
Am Ende des Semesters benötigte Paltram auch Notennachweise in den Gegenständen, die während des Jahres von ihm nicht verhandelt worden sind. Unvergesslich ist mir ein Szenario in den letzten Schultagen, bei dem Paltram ein altes Harmonium traktierte. Wir Schüler hatten uns in alphabetischer Reihe aufzustellen, um nacheinander über seinen Rücken schauend ein Lied vom Blatt zu singen. Einmal schrie Paltram wild um sich, als der Schüler Zuzzi offensichtlich falsch einsetzte: „Ned de Seitn, de da, du Trottl. Nichtgenügend“. Wenn ich jetzt noch hinzufüge, dass die gemeinsamen Mittagessen oft eine furchtbare Tortur waren, das Gespiebene regelmäßig aufgegessen werden musste („niemand verlässt davor den Raum“) und wir uns – mit dem Gesicht zur Wand – aufstellen mussten, damit die Lehrer im wahrsten Sinn von uns unbeobachtet mit Feuer spielen konnten, versteht vielleicht besser meine bis heute andauernde Skepsis gegenüber konfessionellen Privatschulen.
Zuhause war ich mit dem Klavier auf mich alleingestellt. Mein Vater legte mir unterschiedliche Noten vor, die ich üben sollte. Darunter war auch der Frühlingsstimmenwalzer von Johann Strauss, der nicht und nicht in meine Finger wollte. Voll unbändigem Zorn versuchte ich, das Notenheft zu zerreißen, meine Kraft reichte nur für einen großen Einriss, der mich fortan an meine hilflose Unfähigkeit erinnern sollte.
Kulturelle Bildung ist die Möglichkeit, sich an das „Falsche“ zu erinnern
In der Mittelschule unterrichtete der legendäre Fachinspektor Herwig Knaus Musikerziehung. In der zweiten Klasse konzentrierte sich sein Musikunterricht auf die Formanalyse von Beethovens Bläserseptett; zum krönenden Abschluss besuchte uns eine Truppe von Musikern leibhaftig und spielte das Werk für uns. In Erinnerung geblieben ist mir vor allem ein kleines Pflaster, das der Hornist im Gesicht trug und uns sehr zum Missfallen von Knaus zu unwiderstehlichem Lachanfällen verführte. Auch der Herr Professor wandte ein eher zweifelhaftes Benotungssystem an. Voller Angst sollten wir der Reihe nach ans Klavier treten, auf dem er ein Ton am unteren Ende der Klaviatur anschlug und einen am oberen: „Was für ein Intervall ist das?“ war für ihn die erfolgsentscheidende Frage.
Ganz anders die Stimmung im Fach Bildnerische Erziehung. Der Lehrer, dessen Name mir verloren gegangen ist, sah seine Aufgabe in erster Linie darin, uns Geschichten zu erzählen. Während wir zeichneten, entführte er uns in allerlei fantastische Welten und wir konnten nicht genug kriegen. Als er starb, folgte ihm sein Kollege Pichl, der wesentlich tatkräftiger in Erscheinung trat. Gerne provozierte er unseren Widerspruch. Heute kann ich sein Verhalten im Geiste eines frühen 68ers als einen Versuch eines unangepassten Künstlers interpretieren, den es in die Schule verschlagen hat und der dort den Anspruch unternimmt, die herrschenden Autoritätsverhältnisse zu irritieren. Als einer meiner Mitschüler sich seiner Aufforderung, sich zu setzen, standhaft widersetzte, schob er ihn brutal mitsamt dem vor ihm stehenden Tisch durchs Klassenzimmer. Er wollte damit offenbar seiner Tatkraft unmittelbaren Ausdruck geben. Wir aber hatten seither einfach Angst vor ihm. Ob sich mein Freund Ernst im so entstandenen Chaos dann doch noch irgendwo hingesetzt hat und ob wir in diesen Umständen überhaupt zum Zeichnen gekommen sind, weiß ich nicht mehr.
Kulturelle Bildung ist, sich grandios seine eigene Welt zu basteln
Im Werkunterricht hatte es mir vor allem der Kartoffeldruck angetan – Über Monate schnitt ich in alle Kartoffeln, derer ich habhaft werden konnte, die unterschiedlichsten Muster und bedruckte damit alles, was mir unter die Hände kam. Sehr geholfen hat mir auch das Erlernen, Zahnstocher zusammenzukleben und daraus Bauwerke zu basteln. Als ich nach meinem 12. Geburtstag für Monate ins Spital musste, baute ich mit dieser Technik im Bett liegend beeindruckende Brücken, die ich für meine Modelleisenbahn nutzen wollte.
In der Zwischenzeit hatte ich doch trotz meines Scheiterns an Strauss etwas Klavierspielen gelernt und schaffte die Aufnahmeprüfung in die Vorbereitungsklasse an der Musikhochschule. Die Professorin, die sich im Übrigen nur für ihren Lieblingsschüler (der immer in Begleitung seiner Mutter zum Unterricht kam) widmete, rügte mich wegen meiner zu kurzen Hände und empfahl mir, auf Schlagwerk umzusatteln. Wenn ich das aber nicht wolle, dann solle ich doch regelmäßig an meinen Händen ziehen und diese so zu verlängern suchen (dass Robert Schumann auf diese Weise seine Fingergelenke kaputt gemacht hatte, hat sie mir nicht mitgeteilt).
Auf Anregung unseres umtriebigen Klassenvorstands organisierten wir öffentlich zugängliche Schulveranstaltungen. Der Beethoven-Abend war gut besucht und ist mir unvergessen. Wir kündigten dazu Friedrich Gulda an, ohne ihn jemals kontaktiert zu haben. Also musste ich und einige meiner ebenfalls Klavier spielenden Freunde so tun, als könnten wir Beethoven-Sonaten selbst spielen. (Die Noten hatte mir übrigens mein Vater geschenkt, der ansonsten überhaupt nichts mit der Wiener Klassik am Hut hatte. Wie er mir berichtet hat, habe er die Noten in der Zeit der Wirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit gekauft, als das Geld täglich an Wert verlor und er von seinen Ersparnissen einfach alles kaufte, was er bekommen konnte.) Von zu Hause nahm ich auch das Radiogerät mit, um Musikbeispiele abspielen zu können.
Kulturelle Bildung ist, über Dinge zu reden, von denen man partout nichts versteht – und doch etwas davon hat
Nachhaltig beeindruckt war ich von unserem Deutschlehrer Professor Adel (wohl vor allem deshalb, weil er einmal einen Deutschaufsatz von mir als beispielhaft vorlesen ließ). Zu seinem Programm gehörte, dass jeder Schüler (Mädchen gab es damals nur in der altsprachigen Parallelklasse, leider) einmal im Jahr ein Gedicht vorzutragen hätte. Irgendwie ist mir mein Terminkalender abhandengekommen. So wurde mir erst an einem Freitag klar, dass ich bereits am darauf folgenden Montag dran wäre. Also blätterte ich in einer Sammlung von Schiller‘schen Gedichten und stieß auf das Kürzeste „Die Aftermuse“. Leider war die Ausgabe in kurrenter Schrift und ich konnte nicht herausfinden, ob das „f“ eigentlich ein „s“ ist, ob also das Gedicht die „Aftermuse“ oder die „Astermuse“ behandelt. Egal. Ich hatte sowieso keine Ahnung, um was es in dem Text ging. Ich schaffte das Auswendiglernen über das Wochenende bestenfalls der ersten beiden Strophen. Als ich in der nächsten Deutschstunde bereits in der ersten zu stolpern begann, brach Adel das Experiment ab, ließ mich den großen Rest vorlesen und entließ mich – nach einer Lektion über die Bedeutung guter Vorbereitung – mit einem „Genügend“. Eine Inhaltsanalyse des von mir gewählten Gedichtes erübrigte sich. Zum Schulschluss schenkte er uns einen Auszug einer von ihm verfassten theoretisch-germanistischen Arbeit – ich habe sie bis heute nicht gelesen.
In der fünften Klasse scheiterte ich an Latein. (Auch der Lateinlehrer hat sich tief in mich eingebrannt; Stickler hat er geheißen. Immer makellos gekleidet stellte er den großen Unnahbaren dar. Seine hauptsächlichen Waffen waren ein penibel gespitzter Bleistift und ein A4-Blatt, das er als sein Gedächtnis zu einem schmalen Streifen zusammengeklebt hatte. Mit leiser und doch scharfer Stimme rief er jeweils einen Namen in die Angst besetzen Reihen, der mit der Übersetzung fortzufahren hatte, um im Anschluss still Fehler und Note zu notieren.) Also wechselte ich in eine Lehr- und Versuchsanstalt für chemische Industrie. Mein Vater hatte mir von einem seiner Auslandsengagements einen Chemiebaukasten mitgebracht und auf diese Weise meine weitere Schulkarriere vorherbestimmt. Kulturelle Bildung war fortan offiziell kein großes Thema mehr. Und doch unterrichtete uns in der Rosensteingasse Roland Heger in Deutsch und Geschichte. Als Autor einer mehrbändigen Monografie zum „Österreichischen Roman des 20. Jahrhunderts“ war ihm die Nachkriegsliteratur ein besonderes Anliegen. Also fügte er meiner Leseliste für die Matura Autoren wie Wolfgang Borchert „Draussen vor der Tür“ oder den jungen Peter Handke mit seinen „Hornissen“ hinzu. Einmal mehr habe ich nichts verstanden und war doch sehr beeindruckt.
Kulturelle Bildung ist, sich frei spielen
Der zerstreute Professor Heger, der uns auch noch am späten Nachmittag mit „Guten Morgen“ begrüßte, bot auch ein Freifach „Literatur“ an. Bei einer Performance kam mir die Funktion des Musikers zu. Ich sollte einen Text mit einer Melodika begleiten. Ich entschloss mich für ein freies Improvisieren. Heger war zuerst dagegen. Auf Einspruch meiner Kolleg*innen willigte er schließlich ein; keine Ahnung, was und wie ich schließlich begleitet habe. An der Schule unterrichtete damals noch eine junge Lehrerin namens Julia Schutting. Unablässig an ihrer langen Halskette spielend versuchte sie uns angehenden Chemieingenieur*innen einen Weg durch die Geschichte zu weisen. Weit und breit kein Hinweis, dass aus ihr einmal mit Julian Schutting einmal einer der großen österreichischen Gegenwartsautoren werden würde.
Unbedingt erwähnen muss ich, dass einmal einer der Professoren zwei Karten für das Theater an der Wien verlost hat. Wie das Glück so will, gewann ich diese ausgerechnet zusammen mit meiner großen Flamme, die ich bis dahin schüchtern aus der Ferne verehrt hatte. Also ging ich mit ihr ins Theater und durfte sie danach sogar nach Hause begleiten. Der Beginn eines kleinen Techtelmechtels …
Nach der Matura im Jahr 1970 konnten die Absolvent*innen unter hunderten freien Stellen wählen. Kein Grund zur Eile also, sofort in das Berufsleben einzutreten. Also probierten wir vieles aus. Alles, was mein Vater damals repräsentierte (also auch seine Musik) lehnte ich ab. Die daraus resultierende Verirrung kanalisierte ich im Wunsch, möglich allen meinen Neigungen gleichzeitig nachzugehen und „alles Mögliche“ zu studieren. Also schrieb ich mich gleichzeitig als Musik- und als Chemiestudent ein. Aber schon nach zwei Jahren erhielt ich das Angebot, eine Stelle als Musikerzieher an einer Lehranstalt für wirtschaftliche Frauen(!)berufe anzunehmen. Voller Stolz nahm ich an und nahm mir vor, nach all meinen Erfahrungen als Schüler nicht nur den Musikunterricht von Grund auf zu erneuern. Aber das ist eine andere Geschichte.
Kulturelle Bildung ist das existenzielle Bedürfnis, sich ein Leben lang mit Kunst zu beschäftigen
Ob mich wohl alle diese Eindrücke (und wohl noch viele mehr, an die ich keine bewusste Erinnerung mehr habe) in meiner Einstellung zu Kultureller Bildung geprägt haben? Wahrscheinlich schon, vielleicht aber ganz anders als beabsichtigt. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, war es wohl die unbewusste Einsicht, der herausragenden Musikalität meines Vaters nicht gewachsen zu sein, die meinen Weg am direktesten bestimmt hat. Diese Einsicht schreit nach einer Erklärung, die es nicht gibt. Wenig verwunderlich, dass das Irritierende, ja das Verstörende, das Unabgeschlossene, damit das Unvorhersehbare, das Unerwartete, das Unwägbare und das im Letzten Unausdrückbare mich so ein Leben lang begleitet haben. Um all dem damit verbundenen Unsagbaren (und doch so existenziell Wichtigen) eine halbwegs adäquate Ausdrucksform zu geben und es so aushaltbar zu machen, hat mir Kunst sehr geholfen.
Was das ist, will ich gar nicht so genau wissen, zumal mir nach all diesen Geschichten ein Sinn des Lebens darin zu liegen scheint, mit Hilfe des Mediums Kunst beispielhaft etwas zu suchen lernen, was man nicht finden kann (und doch nicht aufhört zu fragen, warum das so ist). Das nenne ich Kulturelle Bildung. Weil Kunst, wie ich sie verstehe, ganz eng mit meinen Vorstellungen des Lebendigseins (die immer auch die Beschäftigung mit dem Tod beinhalten) verbunden ist, werde ich die Antwort hoffentlich erst ganz am Ende erreichen, wenn das Befragen der Welt ein Ende hat. Dazwischen mögen kurze Momente der vorauseilenden Einsicht auftauchen, ich nenne sie Glück.
In der Zwischenzeit übe ich Bachs Wohltemperiertes Klavier 2. Teil. Musiker werde ich damit keiner mehr. Aber ich erfahre täglich neu mit zunehmendem Staunen einen Sinn für mein Leben.
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