Nichts Neues aus Allensbach
Der Deutsche Rat für Kulturelle Bildung hat in diesen Tagen die Ergebnisse einer Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach zum Kulturverständnis, kulturelle Interessen und Aktivitäten von 15- bis 16-jährigen SchülerInnen veröffentlicht. Unter dem Titel „Jugend/Kunst/Erfahrung. Horizont 2015“ weist die Studie einmal mehr auf die sozialen Differenzen hin, die das gebrochene Verhältnis von kulturellem Angebot und dem kulturellen Selbstverständnis junger Menschen unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeit bestimmen.
Die Befunde sind nicht neu. Sie belegen mit neuem Datenmaterial, dass der Sozialstatus des Elternhauses wesentlich über das kulturelle Verhalten bestimmt, dass das Angebot kultureller Bildung in Schulen je nach sozialer Herkunft unterschiedlich ist (und damit bestehende soziale Ungleichheiten bestätigt) und dass das, was die kulturellen Interessen der Jugendlichen bestimmt, mit den „klassischen“ Formen der Kultur nur wenig gemein hat.
Besonders widersprüchlich – wie schon in früheren Studien – erweisen sich einmal mehr Daten, die darauf hinauslaufen, dass Mädchen der Kultur einen höheren Stellenwert beimessen als Jungen. Sie können positiv als eine generelle Änderung des Geschlechterverhältnisses gedeutet werden, die das „Zeitalter der Frauen“ einläuten und so Frauen mithilfe auch der Kultur in die entscheidende Mitte der Gesellschaft drängen lässt. Oder negativ mit der Interpretation, dass Kultur insgesamt an Bedeutung verliert und so bevorzugt von Frauen als „Ersatzspielfeld“ abseits der eigentlich wichtigen Entscheidungsorte (mit ihren ungebrochen männlichen Ritualen der Konfliktaustragung) wahrgenommen wird. Bleiben Indizien aus einer jüngst in Wien durchgeführten Studie zur Kulturbeteiligung, die schlicht darauf hinauslaufen, dass das kulturelle Teilhabeverhalten auch entlang der traditionellen Genderzuschreibung verläuft, wenn Frauen lieber ins Theater gehen und Männer ins Kino.
Auch ForscherInnen haben einen sozialen Hintergrund
In einer ersten groben Einschätzung ließe sich die Studie zum Befund zusammenfassen, dass das im Rahmen kultureller Bildung vermittelte kulturelle Selbstverständnis einen bildungsbürgerlichen Hegemonieanspruch aufrechterhält und sowohl im Kultur- als auch im Bildungsbereich institutionell absichert. Als solches verschärft es vor allem im Zusammenwirken mit der schulischen Verfasstheit bestehende soziale Trennungen und beraubt die davon negativ Betroffenen (kollektiv als „Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern“ apostrophiert) ihres eigenen kulturellen Selbstverständnisses („Ihre eigenen, stärksten Interessen – Filme, Rock- und Popmusik sowie Soziale Medien – rechnen aber deutlich weniger Schülerinnen und Schüler der Kultur zu“).
Offensichtlich wird mit den Studienergebnissen eine eklatante Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wenn sich VertreterInnen kultureller Bildung in den letzten Jahren in ihren Bekenntnissen überschlagen haben, sich vor allem an „sozial benachteiligte Jugendliche“ wenden zu wollen, um so deren kulturelle Ein- und Aufstiegskarrieren zu befördern. Und jetzt zeigt sich – jedenfalls in dieser Zusammenschau – dass sich am Grundkonflikt kultureller Teilhabe nichts geändert hat: Ein kleinerer Teil der Gesellschaft hat Kultur und gibt sie an seine Kinder weiter, ein größerer Teil hat keine Kultur und – vielleicht ist das das eigentlich Neue an der Situation – hat auch kein Problem damit.
Es war nicht Aufgabe der Studie, darüber nachzudenken, welche Konsequenzen sich aus diesen Daten für den Sektor kultureller Bildung ergeben. Immerhin arbeitet der Erziehungswissenschafter Christian Rittelmeyer in einer angefügten „Position“ noch einmal deutlich heraus, dass unsere Vorstellungen eines guten Unterrichts mit der Einbeziehung der Künste eng verbunden sind und ein dergestalt künstlerisch reicher und vielfältiger Unterricht ganz generell „Bildungsaspirationen“ junger Menschen erhöht. Darüber hinaus empfiehlt er weitere Forschungen, ohne noch einmal speziell auf den, für das Feld besonders typischen blinden Fleck im Bereich sozialer Ungleichheit hinzuweisen.
Der Zorn des Mittelstands über den Verlust seiner kulturellen Vormachtstellung
Vielleicht lohnt an dieser Stelle der Hinweis, dass Kulturpädagogik von Beginn mit der Übernahme hegemonialer Ansprüche eines, die kapitalistische Dynamik treibenden Mittelstandes gewesen ist (George Geahigan). Diese wollte sich mithilfe einer umfassenden kulturellen Erziehung in seiner gesellschaftlichen Überlegenheit wiedererkennen und sich gegenüber dem Rest der Gesellschaft positiv abgrenzen. Diese Sonderstellung ist bis heute in den Köpfen führender VertreterInnen des Kulturbetriebs, wenn etwa der Intendant der Salzburger Festwochen Sven-Eric Bechtolf in einem Interview zum diesjährigen Beginn für die Wahrung des Status des „Bildungsbürgers“ plädiert.
Aus seinem Mund klingt das heute so: „Ich bin für Innehalten – und ein Nachdenken zum Beispiel über den Begriff "Bildungsbürgertum". Jeder zweitklassige Talkshow-Moderator darf mit säuerlicher Miene das "Bildungsbürgertum" diskreditieren. Aber was wären wir ohne das Bildungsbürgertum? Es ist eines der kostbarsten Güter, das wir haben. Eine Demokratie ist angewiesen auf das Bildungsbürgertum! Diese Menschen, die teure Weine trinken und dabei über das Bildungsbürgertum schwatzen: Die machen mich sauer. Denn die sitzen auch in politischen Parteien und plädieren dann für die Abschaffung des Burgtheaters: "Das ist ja nur fürs Bildungsbürgertum!" Es wird noch so weit kommen, dass man den, der in die Oper geht, als grauenhaften Bourgeois bezeichnet, als Besitzstandsbürger und Konterrevolutionär. Der gesellschaftliche Konsens wird immer mehr erodieren – aufgrund von Gedankenfaulheit“.
Die ewige Wiederkehr des Verlusts der Mitte
Unschwer anzunehmen, dass Bechtolf und seine Freunde – ganz im Sinne der Allensbach-Ergebnisse – das, was ihnen kulturell wichtig ist, bevorzugt an ihre Kinder weitergeben, während alle anderen auf, sei es mediale oder alkoholische, Ersatzbefriedigungen verwiesen werden. Bestätigt werden sie darin von kulturpessimistischen Klischees, die mittlerweile auf eine lange Tradition zurückblicken können. Ihr Beginn fällt zusammen mit der Herausgabe des Buchs „Verlust der Mitte“ des prominenten Kunsthistorikers Hans Sedlmayer, der darin den Verlust eines hegemonialen, den Mittelstand bestimmenden Harmoniestrebens beklagte und diese in Bezug zur damals aktuellen Kunst- und Architekturentwicklung setzte (und so ungewollt ein bislang unerreichtes Interesse an moderner Kunst auslöste).
Seine gesellschaftskritischen Befunde mit kulturellen Mitteln erlangten eine neue Konjunktur mit den aktuellen Krisenerscheinungen, die allesamt auf einen sinkenden Einfluss der bislang dominierenden Mittelschichten (samt ihrer kulturellen Ausdrucksformen) schließen lassen. Einschlägige soziologischen Studien führen beträchtliche Einkommensverluste, Schrumpfen der Zughörigkeit und verringerte Aufstiegschancen als wichtigste Indizien an. Auch wenn sich die Deutsche Bundeszentrale für politische Bildung noch tapfer gegen diesbezügliche Stereotypisierungen wehrt, kommen ähnliche Einschätzungen nicht nur aus der konservativen Ecke. Sie umfassen mittlerweile auch einflussreiche Teile der fortschrittlichen Linken, wenn Leitfiguren wie Chantal Mouffe davon spricht, dass das System der Mitte drauf und dran sei zu kollabieren. Die Vermutung liegt nahe, dass diesbezügliche Einschätzungen auch die Fähigkeit des Kulturbetriebs, hinreichendes symbolisches Kapital (Pierre Bourdieu) speziell für die Aufrechterhaltung des Anspruchs ihrer Klientel, das gesellschaftliche Zentrum zur Verfügung zu stellen, beeinträchtigen.
Kulturelle Bildung ging schon mal ans Ganze
Kulturelle Bildung (im bewussten Gegensatz zur Kulturpädagogik), vor allem im außerschulischen Bereich, war in gewisser Weise eine Antwort auf dieses mittelständische Suprematiestreben, wenn deren VertreterInnen versucht haben, sich vorrangig an den großen Rest der Gesellschaft zu wenden und mit ihnen neue „kulturelle Verkehrsformen“ zu entwickeln. Retrospektiv lässt sich sagen, dass diesbezügliche Bemühungen – mit individuellen Ausnahmen – an der aktuellen Verschärfung der sozialen Gegensätze nichts zu ändern vermocht haben. Sie haben aber mitgeholfen, eine neue Vielfalt an lebensweltlichen Bezügen zu den ihnen Anvertrauten herzustellen, der immer wieder das Gefühl aufkommen hat lassen, es ginge vorrangig um die teilnehmenden Jugendlichen und nicht das jeweils spezifische Angebot des Kulturbetriebs. Als persönlich Involvierter ist mir in diesem Zusammenhang immer wieder aufgefallen, dass es diejenigen kulturellen BildnerInnen waren, die aus einem ähnlichen sozialen Milieu gekommen sind wie die TeilnehmerInnen, denen es gelungen ist, ein ebenso vertrauenserweckendes, wie der jeweiligen Konstellation angemessenes Lernsetting zu entwickeln.
Bei einer ersten Durchsicht der Allensbach-Studie fällt auf, dass bereits das Fragesetting weit hinter diese Entwicklungen zurückfällt. Stattdessen erweisen sich die BefragerInnen (ohne sich explizit zu deklarieren) einmal mehr als RepräsentantInnen eines oben angedeuteten schichtspezifischen Kulturverständnisses, das von sich behauptet zu wissen, was Kultur ist und was nicht. Dementsprechend bleiben die Stimmen derer, die sich – wie immer die Ausgrenzungsterminologie lautet – als Nichtzugehörige disqualifiziert haben, außen vor; ihnen haftet per se ein Makel an, sei es, dass sie vom – von den BefragerInnen vorab definierten – Kulturangebot nicht Gebrauch machen, sei es, dass sie das, was sie selbst kulturell umtreibt, erst gar nicht als von kultureller Bedeutung ansehen.
Warum sollen sich junge Menschen einen eigenen Kulturbegriff erarbeiten, wenn ihre kulturellen Praktiken nicht ernst genommen werden?
Warum aber – so könnte die umgekehrte Frage lauten – sollen junge Menschen, die nicht einem kulturaffinen mittelständischen Milieu angehören, das was ihnen ästhetisch wichtig ist, als von allgemeiner kultureller Relevanz deklarieren. Was hätten sie davon außer, dass sie einmal mehr kulturell enteignet würden? Und was wären die Folgen, wenn das, was ihnen kulturell genuin zu eigen ist, in einem ihnen äußerlichen hegemonialen Kulturverständnis aufgeht, innerhalb dessen sie ansonsten kein Mitspracherecht genießen?
Ungewollt bricht mit dieser Studie ein Stigmatisierungswille durch, der vieles, was mit der wachsenden Vielfalt pluralistischer Gesellschaft kulturell scheinbar friedlich nebeneinander existiert, entlang vorgegebener sozialer Hierarchisierung nochmals in eine Rangliste zwingt. Wenn eine solche Hierarchie kultureller, sozial zumindest mitbestimmter Besonderheiten mittels selektiver Datengenerierung konstruiert wird, dann stellt sich die Frage, was anderes könnte/sollte damit bezweckt werden als eine Befestigung verungleichender Zuschreibungen und damit eine weitere Stigmatisierung der davon Betroffenen.
Viel erfolgsversprechender erschiene mir in dem Zusammenhang neue Kommunikationsformen zu entwickeln, die darauf hinauslaufen, den Austausch zwischen den unterschiedlichen kulturellen Szenen zu befördern, die – geht es nach den Studienergebnissen – weitgehend nicht aufeinander bezogen nebeneinander existieren und sich so auch nicht wechselseitig befruchten können. Kann es sein, dass weite Teile einer ungebrochen mittelständisch dominierten kulturellen Bildungsszene schlicht keine Erfahrungen damit haben, was junge Menschen außerhalb des eigenen sozialen Milieus machen, in welcher Vorstellungswelt sie leben, welchen Werten sie folgen und welche (ästhetischen) Ausdrucksformen sie wählen. Es könnte immerhin so manche professionelle Voreingenommenheit relativieren, in diesen Milieus fände kulturell nichts statt; jedenfalls nichts, was es lohnen würde, im Rahmen kultureller Öffentlichkeiten wahrgenommen zu werden. (In diesem Zusammenhang fällt auf, dass es innerhalb des akademischen Wissenschaftsbetriebs in den letzten Jahren zu einer signifikanten Stärkung der Kulturwissenschaften gekommen ist, deren zentrale Aufgabe ist, Licht auf die kulturellen Besonderheiten in allen Teilen der Gesellschaft zu werfen. Umso erstaunlicher ist es, dass diesbezügliche Ergebnisse nicht oder bestenfalls an den Rändern des Diskurses um kulturelle Bildung Eingang finden – und so ein Studiensetting erlaubt, das die sozialen Realitäten einer auf kulturelle Vielfalt basierenden Gesellschaft ausschließlich negativ antizipiert.)
Ein bisschen mehr Rancière könnte nicht schaden: „Ein Sich-nützlich-Machen für unterdrückte Menschen muss eine andere Gestalt annehmen…“
Warum macht man eine solche Studie, habe ich mich letztlich gefragt. Ganz offensichtlich wird hier nochmals eine – an Pierre Bourdieus‘ Habitus-Theorie angelehnte – Weltsicht strapaziert, die auf eine Hierarchisierung der Gesellschaft durch Kultur hinausläuft und mit ihren Ergebnissen eine diesbezügliche Bestätigung erfährt. In der aktuellen Auseinandersetzung mit diesem Wissenschaftszugang wurden immer wieder alternative Sichtweisen eingebracht, von denen die von Jacques Rancière wahrscheinlich am prominentesten geworden ist. Dieser widersetzt sich in besonderer Weise der (falschen) Bestätigung bestehender Ungleichheiten durch die Ergebnisse einer vorgeblich fortschrittlichen Wissenschaft. Seine Forderung läuft auf eine Überwindung Bourdieu’scher Zuschreibungen im Rahmen bestehender Ungleichheiten auf: Ein Sich-nützlich-Machen für unterdrückte Menschen muss eine andere Gestalt annehmen, wenn es nicht zur Fortsetzung der Unterdrückung mit anderen, nämlich wissenschaftlichen Mittel kommen soll.
Die daraus resultierende Frage an das Feld der kulturellen Bildung ist eine zweifache: Sie bezieht sich erstens auf die Entscheidung darüber, ob dieses Feld vom Verhältnis zwischen UnterdrückerInnen und Unterdrückten geprägt ist (wenn nein, beschränken sich die vorliegenden Ergebnisse aus Allensbach auf eine neutrale Situationsbeschreibung, der über die Kenntnisnahme kein darüber hinausgehender Handlungsimperativ innewohnt). Und wenn ja, wie wissenschaftliche Forschungssettings in Zukunft gestaltet werden können, die einem „Sich-nützlich-Machen“ zumindest näher kommen.
Meine Vermutung läuft darauf hinaus: Ohne die Betroffenen aktiv einzubeziehen wird es – insbesondere im kulturellen Zusammenhang – nicht gehen. Ihnen dabei – wo immer sie herkommen – eine aktive Stimme zu geben, könnte sich als ergiebiger erweisen als die Abfrage, wie oft sie zuletzt in einem klassischen Konzert gesessen sind (oder sie sich in passiver Haltung in einer Musikstunde in der Schule gelangweilt haben).
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