Nieder mit d(ies)er Kultur! Es lebe die Kunst!
Die politische Landschaft Europas verändert sich zurzeit grundlegend. Immer mehr Länder des alten Kontinents stehen vor rechtspopulistischen Herausforderungen, die bislang bewährte politische Konsensmodelle in Frage stellen. Egal ob in Frankreich, Italien, den Niederlanden, Großbritannien, Dänemark oder Schweden, ob in Ungarn, der Slowakei oder in Polen, nicht zu reden von Österreich, gewinnen national-konservative Parteien an Einfluss und verändern das Klima der öffentlichen Meinung. Gemeinsam ist ihnen die Ablehnung des politischen Projekts Europa, damit die Ablehnung offener Gesellschaften samt Einschränkung der Bürgerrechte, die auf dem Altar mit Nationalismus, von autoritärem Denken und Staatsinterventionismus geopfert werden sollen.
Deutschland stellte da lange eine wegweisende Ausnahme dar, das sich aufgrund seiner geschichtlichen Erfahrungen in besonderer Weise der Idee der europäischen Integration verbunden wusste (und daraus durchaus wirtschaftliche Vorteile zu lukrieren vermochte). Mit der Zunahme gesellschaftlicher Unzufriedenheit, die sich zuletzt in politischen Projekten wie der Alternative für Deutschland (AfD) zu verdichten vermag , scheint diese Sonderstellung an ihr Ende gekommen zu sein; die AfD ist drauf und dran, sich in den Landesparlamenten nachhaltig festzusetzen, um so einen fundamentalen Wandel im politischen Denken auch der Deutschen in Richtung Polarisierung voranzutreiben.
Der französische Wirtschaftswissenschafter Jean Pisani-Ferry spricht in dem Zusammenhang vom Entstehen einer neuen Ideologie. Verwunderlich in einer Zeit, in der die etablierten Parteien ihre ideologischen Vorstellungen zunehmend der Alternativlosigkeit des Markts geopfert haben. Die tiefere Ursache ortet er in einer nachhaltigen Verschlechterung der Lebensverhältnisse, vor allem der unteren Mittelschichten, deren Zorn über äußere Zwänge und damit verbundener Machtlosigkeit wesentlich zum Aufkommen populistischer Politiken beigetragen hätten.
Analysiert man die Losungen der VertreterInnen alternativer Politikkonzepte etwas genauer, dann wird rasch der spezifisch kulturelle Begründungszusammenhang deutlich, der diese neue Ideologie mit Leben füllen soll. Gerade im Zusammenhang vermehrter Migration verweisen die Wortführer nur allzu gerne auf die Gefahr der Zerstörung ihrer nationalen Kultur. Sie repräsentiere so etwas wie eine ebenso unveränderliche wie metaphysische Schicksalsgemeinschaft, die sich entlang spezifischer Werte (in der Regel der unhinterfragbaren sozialen Über- und Unterordnung) definiere, die es um jeden Preis gegen jede Form der „kulturfremden“ Zuwanderung zu verteidigen gälte.
Auf der Grundlage solcher Behauptungen nationaler kultureller Verfasstheiten werden nur zu gerne Verfallsszenarien entwickelt, die drauf hinauslaufen, einerseits die Ursachen sozialer Fehlentwicklungen zu verschleiern wie andererseits zivilisatorische Errungenschaften jenseits nationaler Grenzziehungen – sei es die Universalität der Menschenrechte oder demokratisch legitimierte Formen der Konfliktaustragung – in Frage zu stellen.
Ich habe in meinem letzten Blog „Was ist österreichisch?“ auf die Wertefibel des österreichischen Außen- und Integrationsministeriums hingewiesen, die ZuwanderInnen mit den besonderen kulturellen Werten des Zusammenlebens in Österreich vertraut machen will. Schon beim ersten Durchblättern zeigt sich ein Dilemma, das für mich darin besteht, dass die darin angeführten Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Republikanismus, Menschenwürde, Demokratie, Freiheit oder Menschenwürde gerade nicht auf eine wie immer geartete nationale Kultur verweisen, sondern Ideale einer westlichen Zivilisation beschreiben, die zwar nicht in allen Ländern in gleichem Ausmaß realisiert worden sind, in jedem Fall aber das schiere Gegenteil zum Hochhalten nationaler Besonderheiten darstellen.
Kultur ist nicht Zivilisation
Und so zeigt sich unversehens noch einmal der Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation, die den Diskurs um die europäische Wertegemeinschaft seit mehr als hundert Jahren durchzieht. Der deutsche Soziologe Wolf Lepenies hat in seiner Studie „Kultur und Demokratie“ eindrucksvoll darauf hingewiesen, dass es sich dabei nicht bloß um ein semantisches Problem handelt, sondern das Denken und Handeln der politischen Entscheidungsträger, etwa im Vorfeld des Ersten Weltkriegs (den er als einen Kulturkampf interpretiert), wesentlich beeinflusst hat. Seiner Analyse nach ging es darum, einer drohenden zivilisatorischen Verflachung durch Industrialismus und Parlamentarismus mittels deutscher Innerlichkeit – gepaart mit autoritärem Durchsetzungsvermögen – entgegenzutreten.
In diesem Sinn tragen auch heute kulturelle Aufladungen der grassierenden politischen Ansprüche auf Renationalisierung durchaus antizivilisatorische Züge, wenn von der Erneuerung einer Ständehierarchie mit festem Oben und Unten die Rede ist, freie Wahlen und Parlamentarismus verachtet werden oder rassistische Zuschreibungen (zurzeit gerne im islamischen Gewand) fröhliche Urstände feiern. Sie machen damit einen negativen Kern des Begriffs der Kultur deutlich, der vorrangig auf Ab- und Ausgrenzung setzt, um sich selbst und die Eigenen in wertender Weise von den anderen, den Fremden, abzugrenzen.
Der aktuelle Erfolg rechtspopulistischer Alternativen, die es offensichtlich verstehen, mit kulturellen Argumenten eine Stimmung zu verbreiten, der sich die etablierte Politik immer schwerer zu entziehen vermag, macht noch einmal die Bedeutung einer Kulturpolitik bewusst, die in der Lage gewesen wäre, den Reichtum des Zusammenlebens von Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensweisen in eine gemeinsame Erzählform zu bringen. Und jetzt sind es ausgerechnet die rechten Zivilisationsgegner, die sich mit Erfolg in der Rekonstruktion nationaler Kultur üben, ohne dabei von überzeugenden Gegenentwürfen behindert zu werden. Immerhin zeigt sich gerade in diesen Tagen schmerzlich, dass sich die Kulturpolitik weitgehend auf die Aufrechterhaltung einer traditionellen kulturellen Infrastruktur beschränkt hat, während man meinte, auf Konzepte für eine neue Kultur, die neue gesellschaftliche Perspektiven schafft, verzichten zu können. (Das trifft auch und in besonderer Weise für Österreich zu, dessen einziger nachvollziehbarer kulturpolitischer Schwerpunkt zurzeit darin besteht, ausgerechnet ein Haus der Geschichte in einem spätfeudalen Repräsentativbau, noch dazu unter Verdrängung des dort untergebrachten Weltmuseums, zu etablieren.) Und so sollte es eigentlich nicht verwundern, wenn trotz eines überwältigenden Engagements der Zivilgesellschaft bei der Betreuung von Flüchtlingen der Begriff der „Willkommenskultur“ von einem Tag zum anderen zu einem Schimpfwort zu mutieren vermochte.
Und es zeigen sich die Konsequenzen einer entideologisierten Kulturpolitik, die den dynamischen Kräften einer autoritären Rechten im kulturellen Gewand in keiner Weise gewachsen erscheint
In das Vakuum, das eine entideologisierte, auf Verwaltungsmodus geschaltete, Kulturpolitik drängen nun alte, bereits überwunden geglaubte politische Vorstellungen von Kultur, mit denen man nur eines machen kann: sie in Frage zu stellen und sich dagegen zu verwehren. In diesem Zusammenhang überkommen mich zugegeben häretische Gedanken, die darauf hinauslaufen, angesichts der anhaltenden, weitgehend subkutan wirkenden Macht des Kulturellen als ein gesellschaftliches Abgrenzungsmittel, auf kulturelle Zuschreibungen gleich überhaupt zu verzichten. Immerhin ist –angesichts der jüngsten Radikalisierungen, deren führende Kräfte in Ungarn, Polen, Frankreich, die Niederlande oder Österreich die Schalthebel der Macht bereits ergriffen haben (oder dabei sind, sie zu ergreifen) – nicht auszuschließen, dass sich in einem Set neuer Kulturkampfinszenierungen jeweils Gruppen mit unterschiedlichen kulturellen Zuschreibungen gegeneinander richten und im Sinne der neuen Machthaber das Geschäft weiterer gesellschaftlicher Spaltung betreiben.
Das betrifft insbesondere die Zukunft der europäischen Städte, die sich gerne unter dem Vorzeichen der Hausse im Bereich der Cultural Industries als die neuen kulturpolitischen Zentren gerieren und doch angesichts der demographischen Veränderungen zunehmend Gefahr laufen, zu neuen Aufmarschgebieten von Kulturkämpfen zu werden. Auch wenn heute „Kultur“ – als zunehmend unter dem Primat der Marktwirtschaft stehend – gesellschaftspolitisch verharmlost wird, so lassen sich doch unschwer Szenarien denken, die darauf hinauslaufen, die bestehende Vielfalt nebeneinander existierender Lebens- und Arbeitsweisen, die eine moderne Stadt auszeichnen, durch das Dominantwerden eines autoritativen Machtanspruchs, der noch einmal darüber verfügen will (und auch darüber verfügen kann), wer oder was zu „unserer Kultur“ gehört und was nicht, noch einmal grundsätzlich in Zweifel gestellt werden können (Städte wie Budapest oder Warschau führen uns das bereits in aller Drastik vor). Dagegen spräche manches dafür, unter diesen Prämissen „Kultur“ „Kultur“ sein zu lassen und sich darauf zu beschränken, ein vielfältiges Zusammenleben in einem zivilisatorischen Korsett zu sich kommen zu lassen.
Wie halten wir es mit dem negativen Kern von Kultur?
Spätestens mit dem Erstarken eines kulturellen Anspruchs rechtspopulistischer Kräfte, über (die) Kultur der jeweiligen BürgerInnen zu verfügen, zeigt sich nochmals das Doppelbödige, ja das Gefährliche einer Kultur, die meint, sich ausschließlich auf sich und das je eigene beziehen zu können. In ihrem Beitrag „Kultur ist kein Integrationskurs – oder wenn, dann für alle“ zur laufenden Serie der Süddeutschen Zeitung „Was ist deutsch?“ hat die Intendantin des Berliner Maxim-Gorki-Theaters Shermin Langhoff darauf hingewiesen, dass sich der Diskurs um Kultur im deutschsprachigen Raum schon seit jeher um das prekäre Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden rankt. So sei es für Hegel – entgegen Herders Kugelmodell – einer national homogenen Kultur noch weitgehend selbstverständlich gewesen, Kultur aus der Beschäftigung mit dem Fremden heraus zu entwickeln. Erst später sei mit den Vorstellungen einer besonderen deutschen Innerlichkeit das Raunen um das kulturell nur homogen fassbare deutsche Wesen dominant geworden, das uns bis heute auf verhängnisvolle Weise begleitet.
Dieses kulturelle Raunen – so war die Hoffnung – sei mit der Vernichtung jeglicher Moralität (wie sie der Kulturbetrieb in besonderer Weise für sich beansprucht hat) durch den Faschismus ein für alle Mal zu Grabe getragen worden. An seine Stelle sei eine andere, eine Kritik-Kultur getreten, an deren Spitze die Kunst als eine Form der kritisch-politischen Praxis treten sollte.
Kultur ist nicht Kunst
Und so tut sich neben dem bereits genannten Klärungsbedarf im Spannungsverhältnis von Kultur und Zivilisation noch eine weitere „Begriffsverschlampung“ auf, die sich ins aktuelle kulturpolitische Gerede geschummelt hat. Es ist schon einige Zeit her, dass ich auf die unreflektierte Ineinssetzung von Kunst und Kultur in „kunstundkultur“ hingewiesen habe. Der Philosoph Rudolf Burger hat bereits 1983 in einem Beitrag „Kultur ist keine Kunst“ vermutet, dass diese Form des wahllosen Gebrauchs grassierende Entideologisierungstendenzen einer politisch dekretierten alternativlosen spätkapitalistischen Gesellschaft repräsentieren würden. Bereits damals meinte er, dass eine beliebige Vertauschung von Kunst und Kultur zur Produktion eines ideologischen Scheins führen würde, der darauf hinauslaufe, Gesellschaftstheorie durch kulturphilosophisches Geschwafel zu ersetzen: „Die Versöhnung von Kunst und Kultur ist die Ideologie einer Gesellschaft, die sich selbst in ihren Eigentums- und Machtverhältnissen kein Thema ist und die deshalb die Defizite der Sozialpolitik der Kulturpolitik zur symbolischen Verarbeitung überlässt“.
Burger konnte noch nichts von einer tendenziell mehrheitsfähigen Kulturideologie rechtspopulistischer Kräfte vor dem Hintergrund einer anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrise gepaart mit bislang unvorstellbarer Brutalisierung an den europäischen Rändern wissen. Ungeachtet dessen verwies er schon damals auf die Fragwürdigkeit kulturpolitischer Maßnahmen zur Lösung sozialpolitischer Probleme (was Rechtspopulisten zur Schaffung politischer Glaubwürdigkeit nicht davon abhält, diese Probleme bei den – oben angesprochenen – verunsicherten unteren Mittelschichten in kulturelle Superioritätsansprüche umzudefinieren, und die deswegen noch lange nicht ein Theater, Konzert- oder Opernhaus betreten).
Und Burger beklagte den mit der Ineinssetzung von Kunst und Kultur verbundenen Verlust des kultur-kritischen Potentials, das Kunst wie kein anderes Medium auszuzeichnen vermag. Genau darauf bezieht sich Langhoff, wenn sie der Kunst vorrangig einen desintegrativen, und damit einen vereinnahmenden, bzw. gesellschaftliche Widersprüche harmonisierenden und Kulturvorstellungen entgegenwirkenden Charakter zuschreibt: „Kunst im Sinn von Kritik-Kultur war desintegrativ, in dem sie sich nicht vereinnahmen lassen wollte, sie schoss oft am Ziel vorbei, und das war gut so“.
Auf der Suche nach einer anderen, einer Kritik-Kultur – oder Kunst als kulturelles Desintegrationsmittel
Geht es nach Langhoff, droht heute selbst der Kunst, die lange Zeit von Vorstellungen einer „besseren“ – weil überkommende nationale Homogenitätsvorstellungen überwindende – Kultur getragen war, als gefälliges Betriebsmittel des Markts der Wille zur Gegenwehr abhanden zu kommen. Zu ihrer Wieder-Verlebendigung sei sie heute mehr denn je auf Einflüsse von außen angewiesen. Und dazu könnten Zuwanderer mit ihren ganz unterschiedlichen formalen ebenso wie inhaltlichen Bezügen in besonderer Weise beitragen (wenn man sie nur ließe).
Nach ihrer Interpretation war es noch nie so wichtig, Kunst und Kultur hinlänglich voneinander zu unterscheiden. So sehr das, was im Mainstream unter „Kultur“ firmiert, heute von den Re-Nationalisten aller Länder erfolgreich für sich beansprucht wird, so entwicklungsfähig erscheint es, Kunst noch einmal als kulturelles Desintegrationsmittel in Stellung zu bringen. Als solche kann sie den aktuellen Trend der Rekonstruktion hermetischer Kulturvorstellungen, die sich vorrangig gegen Zuwanderer richten, auf eine Weise stören, die eine diesbezügliche Auseinandersetzung überhaupt erst möglich wird. Das wird den von Jean Pisani-Ferry diagnostizierten Trend wachsender Bedrohung zivilisatorischer Errungenschaften nicht Einhalt gebieten, vielleicht aber auf eine Weise kenntlich machen, dass dahinter weitere Alternativen diskutierbar werden, die über das Angebot der Rechtspopulisten hinausweisen. Die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, obliegt – entgegen allen euphorischen Selbstüberschätzungen – nicht dem Kunstinteressierten, sondern dem/der BürgerIn (citizen/citoyen), der/die bereit und fähig ist, seine/ihre Interessen gegen herrschende Widerstände nicht nur individuell, sondern auch politisch zu vertreten.
Gastfreundschaft ist die Voraussetzung von Glück
Zuletzt hat sich der deutsche Filmemacher und Gesellschaftsanalytiker Alexander Kluge über richtiges Verhalten in komplexen Zeiten geäußert. Seine Zuversicht als langjähriger Zeitzeuge bezieht sich darauf, dass Europa in den letzten Jahren eine Menge an „Reserven“ aufgebaut hätte, um auch die aktuelle politische Krise Europas ohne Rückfall in die Barbarei zu überstehen.
Als noch wichtiger erweist sich angesichts der aktuellen Krisenerscheinungen seine Forschungsmethode nicht als Habicht, sondern als Maulwurf gesellschaftlicher Verhältnisse, als einer, der draufkommen möchte, was den je einzelnen umtreibt. Für sie alle hat er – Kultur hin oder her – einen Rat parat, mit dem er allen selbsternannten europäischen Festungsbaumeistern, die ans Leben keine anderen Ansprüche haben als dass Ruhe herrscht, entgegentritt: Gastfreundschaft ist die Voraussetzung von Glück.
Würden wir diesen Rat befolgen, wäre die aktuelle Zuwanderung nicht Auslöser von Angst, sondern Ausdruck menschlichen Strebens nach einem sinnerfüllten Leben.
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