
„Österreich als Versuchsstation des Weltuntergangs“ (Karl Kraus)
Das Christkind schenkt Österreich eine neue Regierung. Knapp vor Weihnachten hat der österreichische Bundespräsident eine Koalitionsregierung aus Sozialdemokraten und Konservativen angelobt, die beide zusammen bei den letzten Nationalratswahlen gerade noch auf etwas mehr als 50% der Wählerstimmen gekommen sind. Im Vergleich dazu waren es in den 1950er Jahren noch rund 90%. Würde heute in Österreich gewählt – darin sind sich alle Meinungsforscher einig – ginge die rechtspopulistische FPÖ als klarer Wahlsieger hervor. Ihrem Obmann Hans-Christian Strache, der im Wahlkampf eine Neuinterpretation christlicher Nächstenliebe ausschließlich für Inländer vorgelegt hat, wäre die Position des Bundeskanzlers der selbsternannten „Kulturnation Österreich“ nicht mehr zu nehmen. Im Moment aber bereitet er sich auf die kommenden Europawahlen vor und versucht, eine Allianz aus einer Reihe von Europa skeptischen bis feindlichen Parteien zu schmieden. Deren Wählerpotential speist sich vorrangig aus der zunehmenden Frustration der KrisenverliererInnen über die Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse, die sie der europäischen Politik zuschreiben. Damit kann die neue Fraktion mit der FPÖ an der Spitze im europäischen Parlament ein klares politisches Ziel verfolgen, das darin besteht, den weiteren Einigungsprozess mit allen Mitteln zu torpedieren.
Der bisherige und nunmehr wiederbestellte konservative Vizekanzler Michael Spindelegger hatte im Zuge der Koalitionsverhandlungen tiefgreifende Reformen versprochen, vor allem, um die „Wirtschaft zu entfesseln“. Herausgekommen ist ein Koalitionsübereinkommen, das keinerlei neue Akzente erkennen lässt. Es finden sich keine überzeugenden politischen Ziele. Stattdessen beschränkt sich das Dokument auf eine lange Liste unverbindlicher Ankündigungen, die selbst von den Protagonisten als kleinster gemeinsamer Nenner beschrieben wird. Strache und seine Freunde freut es.
Zum Zustand der politischen Kultur: Die Unzufriedenheit ist groß, der politische Anspruch klein
Bereits im Wahlkampf machte sich in weiten Teilen der Bevölkerung großer Unmut über die erstarrten politischen Verhältnisse breit. „WutbürgerInnen“ aller Couleurs meldeten sich zu Wort; neue politische Gruppierungen zogen in den Wahlkampf. Und sie alle ließen Hoffnungen über grundlegende Reformen im Bildungs-, Gesundheits-, Sozial- oder auch Kulturbereich aufkeimen. Aus all dem wird jetzt wohl nichts, die Lähmung nimmt ihren Lauf, bis noch Schlimmeres passiert.
Die Weigerung, diesmal einen größeren Wurf zu versuchen, hat selbst innerhalb der Regierungsparteien zu heftigen Kontroversen um brisante politische Inhalte geführt. Trotzdem vermochten sich die WortführerInnen des schieren Machterhalts noch einmal durchzusetzen. Ihnen schlägt jetzt eine verheerende mediale Berichterstattung entgegen, der die neu ernannten RegierungsvertreterInnen nur wenig überzeugende Argumente entgegen zu halten vermögen.
Im Grund reduziert sich ihre Verteidigungslinie auf die notwendige Beachtung verschiedenster Interessensvertretungen, seien die Länder, die Bünde, Gewerkschaften, Kammern oder andere Lobbyisten, die im Lauf der Verhandlungen zu berücksichtigen waren, um überhaupt handlungsfähig zu bleiben. Ihre Strategie der kleinen Schritte (in alle Richtungen) versuchen sie mit dem Argument einer möglichst breiten demokratischen Einbeziehung aller gesellschaftlichen Kräfte in die politischen Entscheidungsprozesse zu legitimieren. Damit aber erweisen sie sich selbst als entscheidungsschwach, blockierend und gefesselt von Einflussnahmen aller Art. Und so mutieren sie – wohl ungewollt – zu Grablegern einer repräsentativen Demokratie, deren Intentionen sich nie darauf beschränkt haben, es allen recht zu machen, sondern deren gewählte RepräsentantInnen es als ihre erste Aufgabe sahen, sich mit der ganzen Kraft ihrer Überzeugungen (und der Macht ihrer Funktionen) für die Realisierung ihrer Vorstellungen einer gedeihlichen gesellschaftlichen Entwicklung einzusetzen.
Demokratiemüdigkeit als Resultat – Das große Warten auf noch Schlimmeres
Just an dem Abend, an dem für die neue österreichischer Bundesregierung weißer Rauch aufstieg, habe ich ein informelles Kamingespräch mit einem führenden Vertreter der Industrie besucht, zu dem auch eine Reihe von EntscheidungsträgerInnen eingeladen waren. Als die ersten Details bekannt wurden, füllte den Raum vor allem eines: süffisantes bis zynisches Gelächter. Der Rest war mehr oder weniger zorniges Räsonieren darüber, was nicht gelungen ist.
Mich hat vor allem der defätistische Grundkonsens irritiert, der über der Veranstaltung lastete. Was mir hier entgegenschlug, war Demokratiemüdigkeit pur: Da war niemand mehr, der bereit gewesen wäre, die Fahne der Demokratie offensiv hochzuhalten. Stattdessen beschränkten sich die Beiträge auf Klagen über ein weitgehend erstarrtes System, das in seiner Selbstreferentialität zugunsten des Machterhalts um jeden Preis jedwede Initiative abwürgen würde.
Die Gäste schienen in der Einschätzung eines allgemeinen Niedergangsszenarios (das die neu ernannte Bundesregierung vorgibt, bestmöglich verwalten zu wollen) darin übereinzustimmen, dass ein eigenes politisches Engagement erst gar nicht mehr versucht werden braucht. Am Ende der Veranstaltung empfahl der Gastgeber, über Lohnenderes bzw. Erfreulicheres zu sprechen und darüber hinaus das Beste aus der grassierenden Unzufriedenheit zu machen (bzw. zu warten, bis – so oder so – die politischen Karten neu gemischt werden).
Moderne Wahlforscherin wird Leiterin eines altmodischen Familienministeriums
Um in der öffentlichen Wahrnehmung der Einschätzung weitgehender Kontinuität eines überkommenden Politikbetriebs etwas entgegenzusetzen, hat sich die konservative Partei zu einer Reihe origineller Personalentscheidungen durchgerungen. Darunter etwa die Bestellung einer Wahlforscherin zur Leiterin eines neu geschaffenen Familienministeriums, das mit seiner schieren Existenz in die heile Welt der Nachkriegszeit zurückweist.
Auch dazu eine kleine Geschichte: Vor einigen Jahren verbrachte ich mit meiner Familie die Weihnachtsfeiertage in einem Salzburger Hotel, in dem sich auch zwei Berater des damaligen Bundeskanzlers einquartiert hatten. Diese – Urlaub hin oder her – studierten jeden Morgen die Boulevard-Zeitungen in allen Details, um sich auf dieser Grundlage darüber zu verständigen, welche Themen auf die öffentliche Agenda gesetzt werden sollen. Diesen medialen Umweg braucht die neue Bundesregierung mit der Bestellung von Sophie Karmasin zur Familienministerin nicht mehr zu nehmen. Mit ihr hat sie nunmehr auf professionelle Weise das Ohr unmittelbar am Puls der WählerInnen, kann ihre Entscheidungen daran orientieren und braucht sich folglich auch keine eigenen, den Stammtisch übersteigenden politischen Konzepte mehr zu überlegen.
Wirtschaft und Wissenschaft im neuen administrativen Clinch
Naturgemäß besonderen Widerspruch hat die Entscheidung der neuen Koalitionäre hervorgerufen, das Wissenschaftsministerium gleich ganz abzuschaffen und die Wissenschaftsagenden künftig dem Wirtschaftsminister zu überantworten. Damit wird – wie von vielen interpretiert – ein historischer Fortschritt rückgängig gemacht, der 1970 erstmals zur Errichtung eines eigenen Wissenschaftsministeriums geführt hat. Der Grund lag damals wie heute in einer traditionellen KünstlerInnen- und Intellektuellenfeindlichkeit. Laut Eurobarometer bewertet die österreichische Bevölkerung die Wichtigkeit von Wissenschaft und Forschung unter allen EU-Ländern am geringsten.
Wäre das nicht selbst ein zynischer Befund, könnte man in diesem Fall der neuen Bundesregierung dankbar sein, wenn sie mit dieser Entscheidung die „Verhältnisse zur Kenntlichkeit verzerrt“ hat. Mit der Zusammenlegung von Wirtschafts- und Wissenschaftsangelegenheiten trägt sie dem Umstand Rechnung, dass wirtschaftliche Überlegungen und damit verbundene Effizienzerfordernisse zunehmend auch den Wissenschaftsbereich dominieren. Nutzen statt Kritik hieß bereits in den letzten Jahren die Losung, die sich folgerichtig nunmehr auch in der öffentlichen Administrationsstruktur wiederspiegelt. Die bisherigen Stellungnahmen aus dem Wissenschaftsbereich deuten darauf hin, dass sich darüber ein größerer gesellschaftlicher Konflikt ergeben könnte. Dies auch deshalb, weil es innerhalb des Kunst- und Wissenschaftsbetriebs auch Stimmen gibt, die dafür werben, die nunmehr möglichen Synergieeffekte zwischen Wirtschaft und Wissenschaft zu nutzen. Der neue Wirtschafts- und Wissenschaftsminister Reinhold Mitterlehner ist jedenfalls zufrieden und verweist auf England, wo sich eine ähnliche Zusammenlegung der Kompetenzen bewährt hätte. Schon haben sich erste Protestplattformen gebildet.
Der junge Mann und Österreichs Stellung in der Weltpolitik
Große Aufmerksamkeit hat auch die Bestellung des erst 27 Jahre alten bisherigen Staatssekretärs für Integrationsfragen Sebastian Kurz zum neuen Außenminister Österreichs erzeugt. Seine Bestellung fiel mit einem besonderen außenpolitischen Desaster zusammen, das mit der völligen Abwesenheit des offiziellen Österreich bei den Trauerfeierlichkeiten zum Tod Nelson Mandelas in Südafrika offenbar wurde. Nicht erst mit diesem Affront hat Österreich deutlich gemacht, dass sich der Kleinstaat im Herzen Europas – der sich noch in den 1970er Jahren als Vermittler in internationalen Konflikten zu definieren vermochte – von der internationalen politischen Bühne abgemeldet hat und statt dessen ausschließlich auf die nationale Karte setzt. Da ist es – so das politische Kalkül – nur konsequent, das Amt des Außenministers aus ausschließlich innenpolitischen Erwägungen zur Imagepolitur der konservativen Partei einem diplomatisch völlig unerfahrenen jungen Mann anzuvertrauen.
Zugute zu halten ist dem Shooting Star freilich, dass es ihm als Integrationsstaatssekretär gelungen ist, mit einer guten Performance die gegen sein Alter vorgebrachten Einwände zu entkräften. Wenn aber in diesen Tagen einer der europäischen Eminenzen, der langjährige Luxemburger Ministerpräsident Jean-Claude Juncker in einem Spiegel-Interview vor dem Hintergrund der anhaltenden finanziellen und ökonomischen Problemen, der darauf beruhenden wachsenden Desintegration Europas und damit verbundenem Zorn und Frustration immer weiterer Teile der europäischen Bevölkerung das Wort „Krieg“ in den Mund nimmt und von einer europäischen Kriegsgefahr warnt, dann ist Feuer am Dach. Mit dieser Enttabuisierung des europäischen Vokabulars bringt Juncker einerseits die möglichen Konsequenzen eines Scheiterns des europäischen Projektes auf den Punkt und belegt andererseits die Notwendigkeit, diesen neuen, bislang undenkbar gewordenen Herausforderungen nicht nur mit innenpolitischer Profilierungserwartungen sondern vor allem mit entsprechender diplomatischer Erfahrung auf dem internationalen Parkett zu begegnen. Dazu noch ein Detail: Über eine mögliche stärkere Rolle Österreichs im europäischen Integrationsprozesse findet sich in diesem konsequent innenpolitisch ausgerichteten Koalitionsübereinkommen nichts.
Kultur als Wohlfühltermin
Bleibt die Neuausrichtung des Kunst- und Kulturbereichs. Auch hier gibt es Änderungen, die freilich in eine andere Richtung gehen als viele KünstlerInnen im Wunsch nach einem eigenen Kulturministerium erhofft hatten. Die nunmehrige Entscheidung, Kunst und Kultur neben Beamten und Medien einem neu gegründeten Kanzleramtsministerium zu überantworten, stellt vor allem eine politische Falsifikation eines bisher als besonders erfolgreich angepriesenen Modelles des Zusammenwirkens von Bildung, Kunst und Kultur in einer gemeinsamen Zuständigkeit dar. Ab sofort ressortieren Bildung, Kunst und Kultur wieder in unterschiedlichen Ministerien. Dazu wird die bisherige Finanzministerin Kultursprecherin der Konservativen. In ihrer neuen Funktion hat sie mit der Bemerkung aufhorchen lassen, ab nun ausschließlich mehr „Wohlfühltermine wahrnehmen zu wollen“. Es wird sich zeigen, ob sich in dieser neuen Konstellation ausschließlich negative oder auch positive Auswirkungen für das zentrale kultur- und bildungspolitische Thema „Kulturvermittlung“ der vergangenen Bundesregierung ergeben werden.
„Österreich als kleine Welt, in der die große ihre Probe hält“(Marie von Ebner-Eschenbach)?
Ich erzähle diese Geschichte der Neubestellung der österreichischen Bundesregierung, weil sie mir in mehreren Punkten weit über Österreich symptomatisch erscheint. Karl Kraus hat das Österreich der Zwischenkriegszeit als „Versuchsstation des Weltuntergangs“ bezeichnet. Davon, dieses zweifelhafte Prädikat wiederzuerlangen ist das Land – nach einer beeindruckenden Erfolgsgeschichte der letzten 70 Jahre – noch weit entfernt. Und doch deutet immer mehr darauf hin, dass der gegenwärtige Zustand des politischen Systems auf einen Endpunkt zuläuft, dessen Konsequenzen nicht nur Österreich betrifft und die ich mir – auch deshalb – nur ungerne vorstellen mag.
Ich glaube nicht, dass ausgerechnet „kulturelle Bildung“ etwas dagegen auszurichten vermag. Sehr wohl aber die jeweiligen (gesellschafts-)politischen Haltungen, auf deren Grundlage wir künftig kulturelle Bildung betreiben wollen. Dazu wünsche ich uns allen vielfältige, kluge und kritische Überlegungen, die wir 2014 gut brauchen können.
Der Mozart-Effekt ist auch nicht mehr das, was er einmal war
Zuvor aber muss ich Ihnen noch eine enttäuschende Mitteilung machen: Den sogenannten „Mozart Effekt“ gibt es doch nicht. Was viele bereits vermutet haben, hat jetzt eine Harvard-Studie bestätigt: Mozart kann vielleicht glücklich machen, klüger macht er nicht. Die Ergebnisse reihen sich ein in die Erkenntnisse des „Rats für kulturelle Bildung“, der jüngst versucht hat, in einer Broschüre mit dem Titel „Alles immer gut“ so manch liebgewordenen positiven Zuschreibungen kultureller Bildung zu entmystifizieren. Ihre Broschüre sei – allenfalls in Ergänzung zum neuen Regierungsprogramm der österreichischen Bundesregierung – als Feiertagslektüre aus ganzem Herzen empfohlen.
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