Plädoyer für den Einsturz der Festung Europa
Es könnte sich in diesen Tagen lohnen, nochmals die beiden Bände Karl Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ aus dem Jahr 1945 hervorzuholen. Popper war 1937 vor der drohenden Naziherrschaft nach Neuseeland geflohen und trat in Christchurch eine Professur an. Als Exilant verfasste der Philosoph, dessen nahe Verwandten allesamt im totalitären System der ethnisch religiösen Purifizierung den gewaltsamen Tod fanden, ein umfassendes Plädoyer für eine offene Gesellschaft. Den Regeln der liberalen Demokratie folgend, so seine Hauptthese, solle sich der Nationalstaat (als momentanes Übel) auf die Grundversorgung der in seinem Territorium lebenden Menschen beschränken und zur Minimierung des Leidens beitragen.
Karl Popper zählt wahrscheinlich zu einem der von österreichischen PolitikerInnen meistzitierten Philosophen. Und doch konnte sein nachhaltiger Einfluss auf die politische Elite (für deren Abschaffung er übrigens war) nicht verhindern, dass mit der Ankunft einer täglich wachsenden Anzahl von Flüchtlingen an den östlichen und südöstlichen Grenzübergängen die amtierende Innenministerin Johanna Mikl-Leitner lauthals den Ruf nach Schließung der Gesellschaft ausstoßen lässt. Offensichtlich müde und überfordert sucht die konservative Politikerin im Angesicht desorientierter Flüchtlinge ihr Heil im „Bau einer Festung Europa“, während der danebenstehende sozialdemokratische Verteidigungsminister meint, dazu schweigen zu können.
Eigentlich könnten wir stolz darauf sein, dass Flüchtlinge Europa als sicheren Hafen ansehen
Karl Popper wusste aus eigener Anschauung, in welche Exzesse Konstruktionsversuche geschlossener Gesellschaften zwangsläufig führen. Zugleich war er Nutznießer der Aufnahmebereitschaft anderer Länder gegenüber jenen, die sich damals Not und Gewalt ausgesetzt sahen. Und er konnte noch miterleben, dass sich seine Idee der liberalen Demokratie in weiten Teilen Europas durchzusetzen vermochte. Spätestens mit dem Fall des Eisernen Vorhangs schien die Gefahr, auf diesem Kontinent könnten sich die VertreterInnen geschlossener Gesellschaften noch einmal durchsetzen, ein für alle Mal gebannt. Also könnten es die EuropäerInnen zuerst einmal mit Stolz und Freude erfüllen, dass sie selbst nicht mehr den Spuren Poppers in andere Teile der Welt folgen müssen, um ihr Leben vor den Angriffen totalitärer Machthaber zu retten, sondern dass sich Europa zu einem Ort entwickelt hat, den der große Rest der Welt als sicher und lebenswert erkennt.
Dass dem nicht so ist (und sich stattdessen eine wachsende Anzahl von EuropäerInnen schon wieder mit Auswanderungsgedanken trägt), liegt wohl nicht daran, dass mehr und mehr Flüchtlinge, die nicht mehr an ein gesichertes Überleben in ihren Heimatländern glauben, in Europa ein neues Leben beginnen möchten (und dafür fast jede Strapaze auf sich nehmen). Es liegt wohl eher daran, dass sie für sich in Europa angesichts wachsender sozialer Ungleichheit keine Zukunft mehr sehen. Und es liegt an Aussagen wie jener zum geplanten Festungsbau Europas, dass zumindest bei einem Teil der Bevölkerung die Angst vor einer möglichen Wiederkehr all dessen hervorgerufen wird, was man bislang meinte, ein für alle Mal überwunden zu haben.
Mikl-Leitners Aussage gliedert sich nahtlos ein in einen konservativen Backlash, dessen VerfechterInnen nicht nur meinen, mit der Wiedererrichtung von Zäunen aller Art Flüchtlinge abhalten zu können, sondern bei der Gelegenheit gleich auch ihren Anspruch auf Renationalisierung „gegen die da in Brüssel“ in die Tat umsetzen zu können. Ihr Ziel ist nicht die Etablierung eines staaten-übergreifenden europäischen Krisenmanagements zugunsten einer menschenwürdigen Behandlung der in Europa Schutzsuchenden, sondern die Nutzung der Flüchtlingskrise für den Wiederaufbau geschlossener Gesellschaften.
Es ist sicher kein Zufall, dass diese politische Ansage (begleitet von täglich aufs Neue überschwappender medialer Berichterstattung über die staatliche Überforderung angesichts der Flüchtlingsströme) nur wenige Tage nach den Wahlauseinandersetzungen in Oberösterreich und Wien erfolgt. Beide haben der Freiheitlichen Partei einen großen, wenn auch in Wien nicht den entscheidenden Etappensieg auf dem Weg zur Macht gebracht. Der Führung dieser vorgeblich liberalen Partei ist es innerhalb weniger Jahre gelungen, eben diese Liberalität aus den eigenen Reihen zu verdrängen und statt dessen die nationale Karte auszuspielen, die sich gegen alles richtet, was sich um die Aufrechterhaltung einer offenen Gesellschaft bemüht.
Der Kulturkampf ist eröffnet
Mit dieser Ausrichtung hat sie erfolgreich einen neuen Kulturkampf eröffnet, der hofft, angesichts der aktuellen Krisenerscheinungen noch einmal hart erkämpfte europäische Werte außer Kraft setzen zu können. In ihrer strategischen Ausrichtung kommt der FPÖ (und mit ihr auch allen anderen gleichgesinnten Nationalisten in Europa) eine vermeintliche Schwachstelle in einem spezifisch auf Europa bezogenen Werteverständnis zugute. Dieses besteht schlicht darin, dass es so etwas wie genuin europäische Werte gar nicht gibt. Stattdessen ist der europäische Wertehaushalt zwar Ergebnis ungezählter europäischer politischer Kämpfe, seine inhaltliche Ausrichtung aber universalistisch und so nicht ausschließlich auf Menschen innerhalb der sich immer wieder ändernden Grenzen Europas beziehbar. Sie gelten also für alle Menschen oder gar nicht, auch wenn eine solche Allgemeingültigkeit ein Kardinalproblem für eine – so es sie gibt – europäische Kulturpolitik darstellt.
Im Wissen um diesen (realpolitisch kaum einlösbaren) Universalitätsanspruch ist es den rechtspopulistischen Kräften ein Leichtes, Europa nicht nur als eine wirtschaftliche, sondern vor allem als eine politische Gemeinschaft zu desavouieren und stattdessen die Wiedererrichtung nationaler Kulturräume mit Hilfe von Zäunen aller Art zu fordern. Darin werden bestimmte Werte nach dem Motto „Wir zuerst“ ausschließlich politisch konstruierten Gruppen zugesprochen, während alle anderen draußen zu bleiben haben. Im Unterschied zu Europa als ein perspektivisches Projekt können sie sich dabei auf unterschiedlichste Traditionslinien ethnisch-kultureller oder religiöser Trennungen beziehen. Diese sind zwar ungeeignet, wenn es darum geht, aktuelle Probleme zu lösen, aber sie sind in der Lage, einer verunsicherten Bevölkerung ein Gefühl der Stärke und Sicherheit zu suggerieren; so falsch können diese gar nicht sein, um nicht dankbar angenommen zu werden.
Einer hat es zumindest noch einmal probiert
Dies berücksichtigend können vor allem die jüngsten Wahlen in Wien als eine Zuspitzung des Kampfes um den Charakter des Zusammenlebens in einer offenen oder in einer geschlossenen Gesellschaft interpretiert werden. Entgegen den sonstigen Attitüden einer vom eigenen Überlebenskampf weitgehend ermüdeten Politikerklasse hat sich der amtierende Bürgermeister Michael Häupl zu einem klaren Bekenntnis für eine offene Gesellschaft durchgerungen. Selbst angesichts der konservativen Grundverfassung, die dieses Land auszeichnet (und zuletzt in der oberösterreichischen Regierungsbildung manifest geworden ist), stemmte er sich zusammen mit einer zur Empathie fähigen Zivilgesellschaft gerade noch einmal gegen eine Reprovinzialisierung der Bundeshauptstadt. Und doch musste er anhand des Wahlresultates zur Kenntnis nehmen, dass auch Wien in den letzten Jahren eine tiefe Spaltung erfahren hat, die sich mittlerweile durch alle Bevölkerungsschichten zieht.
Der Konformismus auf dem Vormarsch
Es gibt eine Reihe von Indizien, dass sich diese Spaltung nicht nur auf zunehmend auseinanderdriftende Einkommen oder Bildungsunterschiede bezieht (das auch), sondern ebenso auf die Durchsetzung unterschiedlicher Lebensentwürfe zwischen Konformität und Sicherheit einerseits und Wandel und Entwicklung andererseits. In seiner Wahlanalyse kommt der Jugendkulturforscher Bernhard Heinzlmaier zum Schluss, dass es der FPÖ gelungen sei, sich zum Sprachrohr von vor allem jungen WienerInnen zu entwickeln, die „einen aggressiven Konformismus“ vertreten. Sie würden eine ihnen in Erziehung und Sozialisation aufgezwungene Angepasstheit zur Allgemeinverbindlichkeit erhoben sehen wollen und besonders für all jene negative Sanktionen wünschen, die die engen Normengrenzen des Lebens, die sie in der Wirklichkeit auch selbst bedrücken, nonchalant überschreiten. Für sie zieht eine neue Repräsentationsfigur gesellschaftlicher Eindeutigkeit – gegen alle Widerstände des politischen Establishments – in den Kampf gegen alle „Nicht-Mitmacher“, die vermeintlich Unordentlichen, die Gelösten und Unverkrampften, die Exzentrischen und Nonkonformisten, die Andersfarbigen und Fremdsprachigen, gegen all das, was nicht in die einschränkende Enge ihres provinziellen Weltbildes passt.
Diese Art eines hegemonial gewordenen Konformismus hatten wir schon einmal. Im Gefolge des rasanten Wiederaufbaus der Nachkriegsära führte er zwar nicht unmittelbar zur Wiederauflage autoritärer Herrschaftsformen, nichtsdestotrotz sprachen damals Autorinnen wie Elfriede Gerstl von einer „innenpolitisch und kulturpolitisch erstickenden Friedhofsruhe“. Gegen eine solche versprach der 1970 neu an die Macht kommende Bruno Kreisky mit einer „durchaus radikalen Kulturpolitik“ unter besonderer Einbeziehung der oben von Heinzlmaier angesprochenen „unsicheren KantonistInnen und vaterlandslosen GesellInnen“ seine Form der offenen Gesellschaft mit all seiner Vielstimmigkeit zu realisieren.
Auf dem Weg in die neue Festung – Pühringer und Haimbuchner weisen uns den Weg
Nach Jahren der immer wieder erneuerten Hoffnung auf ein „kleineres Übel“ sind wir heute mit dem sukzessiven Rückbau dieser offenen Gesellschaft konfrontiert. Der Ausgang dieses Prozesses ist mehr als ungewiss; immerhin erweisen sich alle Sonntagsreden zur Vielfalt und individuell kreativen Gestaltungskraft jedes Einzelnen als Motor gesellschaftlicher Prosperität angesichts der aktuellen politischen Verhältnisse als schiere Camouflage. Wie weit wir damit bereits gekommen sind, beweisen in diesen Tagen Politiker wie Josef Pühringer, der früher immer wieder glaubhaft für ein kritisches Kunstschaffen und das damit verbundene vielfältige Kulturleben in seinem Bundesland aufgetreten ist und jetzt gegenüber seinem neuen Regierungspartner FPÖ klein beigeben muss. Diese hatte u.a. für ihre konformitätswütige Gefolgschaft symbolträchtig im Arbeitsübereinkommen gefordert, die Verwendung der deutschen Sprache in den Schulpausen zu verankern (offenbar auch um den Preis der Anschuldigung menschenrechtswidrigen Verhaltens.
Und wie wär‘s mit einer radikalen Bildungspolitik?
Zuletzt habe ich eine Veranstaltung des Renner-Instituts zur Präsentation eines Buches „Bildung – Chancen – Gerechtigkeit“ besucht. In der Diskussion war man schnell bei pragmatischen Detailfragen, während die Bildungsfunktion von Schule angesichts der dramatischen politischen Veränderungen in Österreich weitgehend unhinterfragt blieb. Also bin ich der Versuchung erlegen, nachzufragen, ob sich angesichts des Wahlverhaltens, vor allem der jungen Generation, nicht gravierende Konsequenzen für das System Schule ergeben würden.
Meine diesbezügliche Vermutung betrifft nicht nur den skandalösen Umstand, dass mittlerweile rund ein Viertel der SchülerInnen die Schule verlassen, ohne sinnerfassend lesen und sinnstiftend schreiben zu können, ohne dass darüber ein breiter öffentlicher Aufschrei erfolgen würde. Dieser Umstand stellt hoffentlich nicht nur für mich mehr als ein Indiz dafür dar, wie massiv Schule in ihrer gegenwärtigen Form zum Chancenvergleich beiträgt und so den Boden für soziale Trennungen aufbereitet. Meine Vermutung bezieht sich aber auch auf einen wachsenden Druck zur Vereinheitlichung und damit zur Konformisierung (etwa in Form von Standardisierungen), der nur mehr alibihaft durch Angebote des individuellen kreativen Gestaltens gemildert wird. Da können sich engagierte Lehrkräfte noch so sehr bemühen, zu einer umfassenden Persönlichkeitsentwicklung der ihnen anvertrauten SchülerInnen beizutragen; im herrschenden Institutionenkorsett bleiben sie gutgemeinte Versuche, den Konformitätsdruck eines überkommenen Systems Schule zumindest temporär zu überwinden, wenn es darum geht, ansonsten handlungsleitende nationale, ethnische, religiöse oder sonst als eindeutig konstruierte Zuschreibungen zugunsten der Idee einer offenen Gesellschaft hinter sich zu lassen.
Über die Funktion der Kunst und ihr Potential bei der Dekonstruktion von Identitätszuschreibungen
Meine These im Rahmen der Diskussion bestand darin, dass die Befassung mit den Künsten eine besonders gute Methode dazu darstellt, um den Verlockungen der „Identitätsfalle“ (Amartya Sen) in und außerhalb der Schule zu entkommen. Gerade die Vielfalt an Gegenwartskunst zielt darauf ab, jede Form der Eindeutigkeit zurückzuweisen, ja diese zum Tanzen zu bringen. Stattdessen bietet sie die Möglichkeit, jede Form der Konformität in Frage zu stellen und sich mit dem Uneindeutigen, dem Verwirrenden, ja dem Enigmatischen auseinander zu setzen und darin den Reichtum des Lebens zu erkennen.
Umberto Eco hat dazu bereits in den 1960er Jahren das bahnbrechende Buch „Das offene Kunstwerk“ verfasst. Zum Beitrag der Kunst als unerlässlichem Bestandteil einer offenen Gesellschaft nächstes Mal mehr.
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