Publikumsbefragung der andern Art: Dürfen, nein sollen Proleten den Wiener Musikverein besuchen?
Die Gesellschaft der Musikfreunde als Trägerin des Wiener Musikvereins begeht in diesen Tagen ihr 200jähriges Bestandsjubiläum. Just in der Endphase der napoleonischen Kriege machte es sich diese private Initiative des Wiener Bürgertums zur Kompensation ihrer politischen Schwäche zu seiner Hauptaufgabe, „die vorhandenen klassischen Werke zur Aufführung zu bringen“. Neben den laufenden Konzertveranstaltungen zählte dazu auch der Betrieb einer Musikschule, aus der später das bis heute bestehende Konservatorium (heute Konservatorium Wien Privatuniversität) hervorgehen sollte.
In den Gründungsstatuten findet sich ein interessanter Aspekt, der deutlich macht, wie sehr sich die Auswahl der Musikstücke seit damals in Richtung Musealisierung geändert hat, wenn die Gründer darauf besonderen Wert legten, „nicht nur die neue sondern auch die bestehende Musikliteratur aufzuführen“. Offenbar war damals der Wunsch nach „Neuem“ wesentlich stärker ausgeprägt als heute, wonach das Publikum bereits aufgeführte Werke nicht wieder gespielt wissen wollte, weil sie sie ja ohnehin schon gehört hätte.
Obwohl in privater Trägerschaft (bis heute kommen nur rund 4% des Budgets aus öffentlicher Förderung) half in den 1860er Jahren Kaiser Franz Joseph mit, das neue Musikvereinsgebäude gegenüber der Wiener Karlskirche als Areal der Gesellschaft unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Und so kam es 1870 zur feierlichen Eröffnung des von Theophil Hansen im historisierenden Stil konzipierten Bauwerks, das – nach Vorbildern aus der griechischen Antike gebaut – einen Tempel für die Musik repräsentieren sollte.
Von Beginn an wird der Wunsch der Mitglieder deutlich, unter sich zu bleiben. Das Publikum bestand in erster Linie aus fördernden und unterstützenden AbonnentInnen; nur ein kleiner Teil der Karten kam in den freien Verkauf. Dieser Anspruch der Repräsentanz einer privilegierten sozialen Stellung kommt in der Architektur deutlich zum Ausdruck, verweist sie doch ganz unmittelbar auf das griechische Gesellschaftsmodell, das eine Minderheit von den Mühen der Arbeit befreiter BürgerInnen zum Inbegriff eines demokratischen Gemeinwesens und damit zum Träger des kulturellen Lebens erklärt, während der große Rest an Unfreien von jeglicher Mitentscheidung ausgeschlossen bleibt und doch die Bürde zu tragen hat, den Bestand dieses Gesellschaftsmodells sicherzustellen.
Alles Walzer!
Die ganze Welt kann sich zumindest einmal jährlich ein Bild von der Symbolkraft dieser Architektur machen, wenn im prunkvollen Goldenen Saal das Neujahrskonzert stattfindet, um auf diese Weise den Traum einer, scheinbar alle Klassenunterschiede vergessen machenden, walzerseligen Musikstadt Wien zu befestigen. Dieser, scheinbar über die Zeiten hinweg, ewig gültige Eindruck trägt sicher dazu dabei, dass der Musikverein nach wie vor als der Ort konservativer Musiktradition angesehen wird.
Und doch blieb auch in diesem Haus die Zeit nicht völlig stehen. Immerhin werden vermehrt Kompositionsaufträge vergeben und deren Ergebnisse auch aufgeführt. Dazu kam es im Keller des Hauses zum Neubau von insgesamt vier Konzertsälen, deren Programmierung schon einmal vom klassischen Repertoire abweichen darf. Die Finanzierung hätte ursprünglich vom amerikanischen Musikmäzen Alberto Vilar sicher gestellt werden sollen. Nachdem dieser abgesprungen war, half Frank Stronach aus, ein Umstand, der ihn hoffentlich noch nicht zum Kulturminister einer künftigen österreichischen Bundesregierung prädestiniert. (Hier ein Sketch, in dem österreichische Kabarettisten Frank Stronach bei einem Zusammentreffen mit echten „Proleten“ portraitieren.) Und auch ein Vermittlungsprogramm speziell für Kinder und Jugendliche wurde auf den Weg gebracht, in der Hoffnung, damit dem schleichenden Älterwerden des erwachsenen Publikums entgegenzuwirken.
Die „Prolos“ und das Ende der Demokratie
Und jetzt etwas ganz anderes: Einer der wichtigsten österreichischen Propagandisten des Neoliberalismus, der Journalist Christian Ortner hat zuletzt ein Buch mit dem Titel „Prolokratie“ veröffentlicht, das umstandslos zur Nummer eins auf den österreichischen Bestseller-Listen avancierte. Darin stellt er die These von der zunehmenden „Verblödung des Wählers“ auf und befürchtet, dass das Wahlverhalten von Proleten die Demokratie in die Pleite führt und den Weg für ein autoritäres Regime frei machen würde.
Nun gibt es eine Menge Blödheit in allen gesellschaftlichen Gruppen. Der Neopolitiker Stronach führt uns die Seine gerade in aller Drastik vor. Es ließe sich aber auch von einer perennierenden „Verblödung des Konzertpublikums“ sprechen, wenn beim Neujahrskonzert am Ende des Programms der Radetzky-Marsch erklingt und das Publikum dumpf mitzuklatschen beginnt, ohne sich dabei noch einmal bewusst zu werden, dass es just der auf diese Art noch einmal ins Grab hinein affirmierte Feldmarschall Radetzky war, der die bürgerliche Revolution von 1848 blutig niedergeschlagen hatte, um auf diese Weise den Emanzipationswillen ihrer frühen bürgerlichen Vorgänger (der sie ihren Wohlstand und Einfluss verdankten) auf eine Weise nieder zu kartätschen, die bis heute nachwirkt.
In Ortners Kritik findet sich ein Wort über all die mächtigen Meinungsmacher, die – verschärft durch die aktuelle Krise – unmittelbares ökonomisches und politisches Interesse daran haben, das demokratische System zu schwächen. Und so reduziert sich das wachsende soziale Auseinanderdriften der verschiedenen sozialen Gruppen auf die Verachtung der Krisenverlierer im Rahmen gepflegter intellektueller Diskurse: „Prolos“ sind eben von Natur aus faul und ungebildet (das kann man jeden Tag in irgendwelchen Sozialreportagen aufs Neue beobachten) und folglich selber schuld, dass es ihnen so geht wie es ihnen geht. Eigentlich verwunderlich, dass der Vorwurf, „Prolos“ würden zuwenig Kulturveranstaltungen besuchen, in dem Zusammenhang – wenn überhaupt dann nur – eine sehr untergeordnete Rolle spielt.
Dass es sich bei dieser Art von kollektiven Generalzuschreibung um eine mehr als fragwürdige Legitimierungsstrategie zur Aufrechterhaltung der Suprematie einer zunehmend verunsicherten Mittelschicht handelt, versucht der junge Journalist des Independent Owen Jones in seinem Buch „Chavs“ (siehe dazu die jüngste Kritik in der Stadtzeitung Falter von Sibylle Hamann: „Die Dämonisierung der Arbeiter und Proleten“) nachzuweisen. Owen schreibt in einem Klima der sich verschärfenden sozialen Gegensätze gegen die wachsende „Dämonisierung der Arbeiterklasse“ an. In seiner Analyse wird deutlich, dass Ortners Generalbefund auch gelesen werden kann als Angstlust der Sieger, die sich über die Besiegten lustig machen bzw. jedenfalls als Versuch, sich gegenüber denen da unten abzugrenzen und sie in ihren unerfreulichen Lebensumständen dort unten festzuschreiben.
Jetzt tut sich für mich ein fundamentaler Widerspruch auf, der darin besteht, dass einerseits kulturpolitisch dafür geworben wird, bestehende Kunst- und Kultureinrichtungen für neue, vorwiegend sozial benachteiligte, Publikumsschichten zu öffnen und attraktiver zu gestalten. Und andererseits das Pamphlet über die „Prolokratie“ als Bestseller gehandelt wird, um auf diese Weise ideologische Zerrbilder zur kollektiven Diffamierung der aktuellen Krisenverlierer unter die Leute zu bringen.
Wie hält es das Wiener Konzertpublikum mit den „Prolos“?
In diesem Zusammenhang schlage ich eine etwas ungewöhnliche Versuchsanordnung im Rahmen einer Publikumsforschung vor. Eine solche könnte herausfinden, ob das aktuelle Musikvereinspublikum eher den Thesen Christian Ortners oder denen Owen Jones zustimmt. Das Ergebnis würde darüber Auskunft geben, ob die Sklaven von einst ihren Status als Unfreie überwinden konnten und sich nunmehr als im Tempel der Musik frei und gleichberechtigt bewegen können. Weniger symbolisch gefragt, ob sich die sogenannten „neuen Zielgruppen“ heute willkommen fühlen können, weil es nur mehr um das authentische Musikerlebnis und nicht mehr um die soziale Zuschreibung geht.
Mein Verdacht: Das Machtverhältnis (in dem Fall zu definieren, ob jemand dazugehört oder nicht) bleibt in den konzeptionellen Überlegungen von Kunst- und Kultureinrichtungen zur Öffnung für angeblich alle gerne unberücksichtigt. Und so bleibt offen, warum ausgerechnet diejenigen, die einerseits als für die Demokratie untaugliche Minderleister diskriminiert werden, die freudige Bereitschaft aufbringen sollen, sich auf ein Kulturangebot einzulassen, das aus einem Geist einer Tradition geschaffen wurde, der es darauf anlegte, sich von ihnen abzugrenzen.
Die Frage, ob und wenn ja in welcher Form traditionelle Kunst- und Kultureinrichtungen, die dazu geschaffen wurden, die gesellschaftliche Position ausgewählter NutzerInnen mit kulturellen Mitteln zu überhöhen, überhaupt in der Lage sein können, den kulturpolitischen Ansprüchen ihrer universellen Öffnung zu entsprechen, bleibt bislang von politischer und daher auch institutioneller Seite weitgehend tabuisiert. Und so kann allein die Architektur der Einrichtungen weiterhin ihre selektive Macht der Zuschreibung ungehindert entfalten und die Fortdauer eines hegemonialen Anspruchs aufrechterhalten, der allen, die von klein auf sozial stigmatisiert wurden, in einer sehr unmittelbar-sinnlichen Weise deutlich macht, dass sie da nichts verloren haben.
Es ist lange her, aber es gab eine Zeit als Pierre Boulez gefordert hat, „die Heiligen Kühe“ zu schlachten.
Genügt es also, einige Kellerräume zu adaptieren und ansonsten möglichst die Tradition zu wahren, um bis dahin ausgeschlossene Menschen dazu zu bringen, ausgerechnet aus kulturellen Gründen freudig ein soziales Milieu aufzusuchen, das andernorts nicht müde wird, ihnen zu vermitteln, das es nichts von ihm hält? Unberücksichtigt bleiben dabei die paar Aufsteiger, die wissen, dass sie diese Form der Erniedrigung aushalten müssen, um weiter nach oben zu kommen, um im Erfolgsfall – wie Pierre Bourdieu vermutet – von unten als soziale Verräter denunziert zu werden.
Institutionelle Überlegungen in anderen Städten gehen davon aus – anders als in Österreich, wo die Gegenwart in den Untergrund verbannt wird (siehe auch das MuseumsQuartier, Joanneum in Graz, der geplante Ausbau der Bundesmuseen unter dem Maria-Theresien-Platz, …) – dass es notwendig sein kann, radikale Um- bzw. Neubauten vorzunehmen, um den Bedürfnissen eines neuen Publikums besser entsprechen zu können. Und selbst dann gibt es keine Erfolgsgarantie.
Andere Ansätze gehen über bauliche Veränderungen hinaus. Programme wie „Creative Partnerships“, darauf gerichtet, das kreative Potential von sozial benachteiligten SchülerInnen zu fördern, haben erst gar nicht – weil als ein aussichtsloses Unterfangen angesehen – versucht, noch einmal das Interesse der jungen Menschen für den traditionellen Kulturbetrieb zu wecken. Stattdessen sahen es ihre BetreiberInnen als vorrangiges Ziel an, mit ihnen neue kulturelle Orte der Verständigung zu kreieren, die von den Jugendlichen angenommen und als die ihren erkannt werden.
Kultureinrichtungen als Repräsentationsformen eines unauflöslichen Widerspruchs zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Kann es also sein, dass sich historisch gewachsene Kultureinrichtungen nicht beliebig „demokratisieren“ lassen? Dass sie ihren Charakter als Manifestationen des Ein- und Ausschlusses nicht beliebig abzugeben vermögen und stattdessen in einem unauflösbaren Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit gefangen bleiben?
Vieles deutet darauf hin, dass die kulturpolitischen Versuche der letzten Jahre, diesen Widerspruch zu bearbeiten, gegen manche „lip services“ de facto dazu geführt haben, den bestehenden Trend zur Musealisierung des Angebots zugunsten eines privilegierten (wenn auch zunehmend verunsicherten) Mittelstandes eher noch beschleunigt haben. Die NutznießerInnen wurden dabei für ihre kulturelle Treue mit weiterer Umverteilung von unten nach oben belohnt.
Jüngstes Beispiel: Zurzeit entsteht ausgerechnet in Tirol für die Festspiele Erl der größte Orchestergraben der Welt. Trotz stagnierender Kunst- und Kulturbudgets, die vor allem die freie Szene auszubaden hat, investieren Land Tirol und der Bund in dieses Projekt jeweils 8 Millionen Euro.
Damit können Opern- und Konzertaufführungen jetzt auch im Winter stattfinden, wobei jede gekaufte Karte mit 50 Euro an Steuermitteln subventioniert wird. Es ist zu vermuten, dass die von Ortner gescholtenen „Prolos“, die sich keine ordentliche Heizung mehr leisten können, nur in sehr geringer Anzahl nach Erl pilgern werden, um in den Genuss dieser Form von staatlichen Unterstützung zu kommen. Noch wahrscheinlicher: Sie wollen erst gar nicht und begnügen sich mit „Proletenfernsehen“.
In wenigen Tagen haben Sie wieder Gelegenheit, zumindest via TV das Neujahrskonzert mitzuverfolgen. Vielleicht wechseln Sie diesmal die Brille. Es könnte ja sein, dass die Kamera in die 12. Reihe schwenkt, dort wo mit einigem Glück Christian Ortner Platz genommen hat und neben einem richtigen „Prolo“ zu sitzen kommt.
Prosit Neujahr und Frohe Festtage wünscht Ihnen
Michael Wimmer
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