Reden über die Salzburger Festspiele
„Im Bereich der Kunstvermittlung sind in den letzten Jahren kaum Erfolge zu ersehen“. Ich gebe zu, dass ich einigermaßen überrascht war über diese Wortmeldung des früheren Kunstministers Rudolf Scholten, die dieser im Rahmen einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung zu möglichen Visionen der Salzburger Festspiele äußerte. Sie blieb weithin unkommentiert. Allein die Präsidentin Helga Rabl-Stadler verdrehte in meine Richtung ein wenig die Augen. Ich nehme nicht an, dass Scholten damit die BesucherInnen – überwiegend Freunde der Salzburger Festspiele – beruhigen wollte, sie bräuchten sich vor einer Invasion bislang abseits stehender sozialer Gruppen, die sich morgen massenhaft auf den begehrten Plätzen des Festspielhauses niederlassen würden, nicht zu fürchten. Eher schon habe ich es als ein Alarmsignal gesehen, das daran erinnert, dass sich die Vielfalt an Theorie und Praxis von Kunstvermittlung selbst bei wohlmeinenden Key Figures des Kulturbetriebs noch nicht durchgesprochen hat. Es könnte aber auch sein, dass gerade im Ambiente der Salzburger Festspiele eine demonstrative Wertschätzung des Kunstschaffens – wofür Rudolf Scholten in besonderem Maße steht – nach wie vor die Einsicht, ein solches vollende sich erst im Rezipienten (und zwar unterschiedlich je nach dessen Habitus) behindert.
Die Paneldiskussion war nur eine im Rahmen eines Symposiums zur „Zukunft der Festspiele – ihre Bedeutung für die europäischen Festspielkulturen und ihr Publikum“, das von der Universität Salzburg in seiner historischen Bibliotheksaula ausgerichtet wurde. Als einer der ganz wenigen Nichtinsider war ich als „Querdenker“ eingeladen, eine provozierende Außensicht einzubringen und tauchte doch ein in einen Kosmos der ganz besonderen Art, dessen ExponentInnen mit ihren starken Behauptungen bis lang stark genug waren, dieses kulturelle Ausnahmeereignis seit fast 100 Jahren am Leben zu erhalten.
Journalisten definieren den kulturpolitischen Auftrag?
Dieser Erfolg hat auch damit zu tun, dass alle direkt und auch indirekt beteiligten Akteursgruppen ganz genau zu wissen behaupten, wie die Salzburger Festspiele funktionieren (müssen). Besonders deutlich wurde das anhand zweier Beiträge der Kulturjournalisten Heinz Sichrovsky („News“) und Manuel Brug („Die Welt“), deren Beiträge darin bestanden, manifestartig zu vermelden, was die Leitung der Salzburger Festspiele zu tun habe. Statt ihre Funktion als „Berichterstatter“ zu präzisieren, beanspruchten sie für sich „ohne jeden Genierer“ – nicht ohne Seitenhiebe auf vorgeblich ignorante und inferiore PolitikerInnen, die sich tunlich nicht einmischen sollten – die Position von kulturpolitischen Gralshütern und machten damit einmal mehr das bestehende Herrschaftsverhältnis zwischen Medien und Politik deutlich.
Das war schwere Kost für den designierten Intendanten Markus Hinterhäuser, der am Ende erschöpft meinte: „Heute wurden mindestens 25 Punkte über ‚Festspiele der Zukunft‘ formuliert, und ich fürchte, ich kann nicht einmal dreieinhalb davon erfüllen“. Er wehrte sich mit der Skizzierung eines Konzepts „intuitiver Intelligenz“. Dafür bedürfe es zum Teil aufwendiger und auch mühsamer Suchbewegungen im Kunstfeld, zur Schaffung nicht voraussagbarer Glücksfälle (die er an Hand seiner Bemühungen, William Kentrige für eine Produktion „Wintereise“ für die Wiener Festwochen zu gewinnen deutlich machte). Faszinierend war dabei seine Art des öffentlichen Nachdenkens, etwa über den Satz von Paul Valéry, der für ihn denk- und handlungsleitend geworden ist: „Das Gedächtnis erwartet die Intervention des Gegenwärtigen“.
Die beeindruckende Kontinuität eines krisensicheren Stammpublikums
Prosaischer waren da schon Aussagen zur bestehenden Publikumsstruktur der Festspiele. Dazu lieferte Bernd Gaubinger, Geschäftsführer der Osterfestspiele Daten aus 2011, die die besondere Bedeutung der Stammgäste (72%) deutlich machen: Mehr als 62% der BesucherInnen haben die Festspiele bereits mehr als 10mal besucht. Nachdenklich kann freilich das Durchschnittsalter der BesucherInnen machen, das seit der letzten Befragung weiter zugenommen hat und 2011 bei rund 60 Jahren lag.
Mit meinem Beitrag wollte ich vor allem auf die verschärften sozialen Bedingungen in den europäischen Gesellschaften hinweisen, die – hervorgerufen durch die aktuellen Krisenerscheinungen – früher oder später auch massive Auswirkungen auf weite Teile des Kulturbetriebes haben werden. Noch suggerieren die von Gaubinger vorgestellten Zahlen eine weitgehende Kontinuität der bestehenden Publikumsstruktur, die sich durch einen selektiven Konsumhabitus von Krisengewinnern auszeichnet. Diese Form der Homogenität des sozialen Gefüges stellt sicher, dass sich die BesucherInnen im bestehenden Ambiente der Festspiele wiedererkennen und mit wenigen Ausnahmen unter sich bleiben können.
Und doch: Die Wirtschaftseliten verlieren die Lust an der Kultur
Größere Nachdenklichkeit bewirkte da schon der von mir ins Treffen geführte Befund des deutschen Eliteforschers Michael Hartmann, der in seinen Studien zum Thema „Klassische Hochkultur und die Hobbys der deutschen Wirtschaftselite“ belegt hat, dass die Beschäftigung insbesondere mit Hochkultur bei deutschen Topmanagern in den letzten Jahren signifikant zugunsten von Sport bzw. Wellness zurückgegangen ist. Dabei hätte Musik, als distinktivste aller kulturellen Aktivitäten am meisten an Boden verloren, während Laufen/Wandern am meisten zu profitieren vermochte. Diese Entwicklung – laut Hartmann – vollziehe sich unter ManagerInnen, die aus der Mittelschicht und der Arbeiterschaft stammen wesentlich schneller und umfassender als unter ihren KollegInnen, die aus bürgerlichen und großbürgerlichen Verhältnissen kommen.
Für die Salzburger Festspiele lässt sich daraus schließen, dass sich der Besuch als Ausweis kultureller Affinität immer weniger als soziales Distinktionsmerkmal eignet; mehr, dass die Wirtschaftseliten (und mit ihnen wohl zunehmend auch das mittlere Management) à la longue als traditionelle Trägerschichten dieses Hochkulturevents par excellence ausfallen werden und es dementsprechend höchst an der Zeit erscheint, sich um Alternativen umzusehen.
Einmal mehr muss Europa herhalten
Und natürlich musste auch im Rahmen dieses Symposions der angeblich so bestimmende Gründungsmythos, der die Festspiele als Ort der Repräsentation eines gemeinsamen Europa immer schon ausgewiesen hätte, strapaziert werden. Immerhin gab es auch einige kritische Stimmen, wie die des Literaturwissenschafters Norbert Christian Wolf, der im historischen Verlauf anhand einiger konkreter Beispiele die Differenz zwischen programmatischem Anspruch und der Wirklichkeit politischer Opportunitäten deutlich machte. Nicht nur für ihn besteht das eigentliche Gründungsmotiv in der künstlerischen Selbstverwirklichung einiger herausragender Künstler, denen es notwendig erschien, sich zur Bestandssicherung ein zeitgeistiges ideologisches Mäntelchen umzuhängen. Und daran habe sich bis heute kaum etwas geändert. Mit dieser Analyse drängte sich mir eine Assoziation zur grassierenden Antragslyrik im Rahmen europäischer Förderverfahren auf, die mit den eigentlichen Intentionen der AntragstellerInnen oft nur wenig gemein hat.
Aber offensichtlich klammern sich nach wie vor Meinungsführer an diesen Mythos einer europäischen Vision, die – jedenfalls für sie – ausgerechnet in einer weitgehend musealisierten barocken Kleinstadt Gestalt angenommen hat. Und so durfte am Panel zum kulturellen Europabild der falsche Hinweis auf einen der Gründungsväter der Europäischen Union Jean Monnet ebenso wenig fehlen, wie jüngste Erklärungen des Kommissionspräsidenten Manuel Barroso in Wien, wonach ausgerechnet die aristokratische Kunstform der Oper den Inbegriff des Europäischen darstellen würde.
Über Politik und Geschichtenerzählen
In seiner Annäherung an das „Europäische der Salzburger Festspiele“ erwies sich der Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer als profunder Kenner der griechischen Sagenwelt, der mit seiner detailreichen Erzählung der Entführung der Europa von Afrika nach Kreta durch Zeus, dem Autor Michael Köhlmeier in nichts nachstand (und sich damit hervorragend über seine Nichtbereitschaft hinweg hantelte, konkrete kulturpolitische Aussagen zu treffen). Kulturpolitisch auch nichts zu sagen hatte „unser Kommissar in Brüssel“ Johannes Hahn, der auf das Geschichtenerzählen gleich ganz verzichtete und sich statt dessen auf die Wiederholung weitgehend inhaltsloser Stehsätze beschränkte. Und so wurde diese Politshow ungewollt zu einem Beleg, warum sich mit einem so beschriebenen Projekt immer weniger Menschen identifizieren wollen.
Spätestens an dieser Stelle überkam mich der Verdacht, dass diese Form des eintönigen Wortgeklingels über die angebliche Erziehung zum Europäertum durch die Narrative der Salzburger Festspiele, das Gros der jungen Menschen zu Events wie „tomorrowland“, einem internationalen Festival für elektronische Musik nachgerade hindrängt, wo niemand über Politik spricht, dafür aber mittlerweile Hunderttausende irgendwo in den Outskirts von Brüssel auf unmittelbar sinnliche Weise auf ein transnationales Miteinander eingestimmt werden, wie sie es bei den Salzburger Festspielen niemals zu finden vermögen.
Die Veränderungen im Bereich der Kulturkritik als Metapher für das, was auf den Kulturbetrieb zukommt.
Aufregender fand ich da schon die Berichte einiger KulturjournalistInnen, die in drastischen Bildern über die zunehmende Randständigkeit, bzw. den Bedeutungsverlust von Kunst- und Kulturkritik im Printmedienbereich – heißen diese „FAZ“ oder „Salzburger Nachrichten“ – zu klagen wussten. Als Reaktion darauf berichtete der Theaterkritiker Dirk Pilz vom überraschenden Aufstieg seiner elektronischen Plattform „nachtkritik.de“, die sich wachsender Beliebtheit erfreut und ganz neue Möglichkeiten für die Kunstberichterstattung bzw. Kritik eröffnet. Dabei zeigte sich in der Diskussion rasch, dass es sich dabei nicht um eine schiere Übertragung gleicher Inhalte auf ein neues Medium handelt, sondern um eine grundsätzliche neue inhaltliche Ausrichtung, die nach zum Teil völlig anderen Kommunikationsgrundsätzen funktioniert als der Printjournalismus. Als nur ein Indiz dafür erwähnte Pilz den Umstand, dass im Rahmen von „nachtkritik.de“ allein zehn Personen damit beschäftigt sind, die Kommunikation mit RückmelderInnen aufrecht zu erhalten.
Wenn die digitale Revolution so augenscheinlich den traditionellen Printmedienbereich erfasst hat, dann wurde für mich unmittelbar spür- und begreifbar, dass diese Entwicklung früher oder später auch auf den Kulturbereich übergreifen und diesen nachhaltig zugunsten einer Neubestimmung künstlerischer Inhalte, im Rahmen eines zunehmend interaktiven Verhältnisses zwischen ProduzentInnen und RezipientInnen, verändern wird. Hier entsteht eine Herausforderung nicht nur für die Salzburger Festspiele, die in ihrer Tragweite – jedenfalls im Rahmen dieses Symposiums – noch keine Sprache gefunden hat.
Der Philosoph, der Bantu und der eurozentrische Rassismus
Und noch von einer Enttäuschung muss ich berichten. Sie bestand in den Wortmeldungen des Ästhetikprofessors Bazon Brock, der einmal mehr seine Thesen von der kategorialen Differenz zwischen Kultur (auf die wir uns nichts einbilden brauchen, weil wir nolens volens hineingeboren werden) einerseits und den zivilisatorischen Errungenschaften von Kunst und Wissenschaft (die wir uns mühsam erarbeiten müssen) andererseits vortrug. Eine solche kategoriale Trennung würde uns erlauben, aus kulturellen Abhängigkeiten herauszutreten und uns entlang der künstlerischen und wissenschaftlichen Errungenschaften über die kulturellen Grenzen hinweg zu verständigen.
So weit so gut. Im Bemühen um möglichste Anschaulichkeit dekuvrierte er sein Konzept mit einem Bericht über einen „Bantu“, der nie etwas anderes als den Urwald gesehen hätte, dann aber „zu uns nach Europa“ gebracht worden wäre, um innerhalb von 12 Jahren zum Jetpiloten ausgebildet zu werden, als Spätform eines eurozentristischen Rassismus. Immerhin gab es aus dem Publikum Stimmen, die mit dem Ruf „Jetzt reicht es!“ nicht mehr an sich halten konnten.
In der Ära Pereira drehte sich in der öffentlichen Wahrnehmung der Festspiele alles um Geld und um Auslastungszahlen. Dieser Diskurs machte deutlich, wie sehr das Unternehmen kulturpolitisch weitgehend ungebremst die Werte einer neoliberalen Ökonomie mittlerweile verinnerlicht hat. Pereiras Ziel bestand darin, einem möglichst großen, zahlungskräftigen und mit gleichen Geschmacksvorlieben ausgestatteten Publikum die „großen Hadern“ auf höchstem künstlerischem Niveau zu präsentieren.
Der designierte Intendant Markus Hinterhäuser, der sich die Zeit nahm, während des gesamten Verlaufs des Symposiums präsent zu sein (und sich dabei so manche Übergriffe einer bemutternden Präsidentin gefallen lassen musste), steht dagegen für die besondere Qualität von Kunst als Fähigkeit zur Unterscheidung. Diese Qualität könnte mithelfen, im Zuge der wachsenden Ausdifferenzierung der europäischen Gesellschaften, dem Trend der Geschmacksuniformierung entgegen zu wirken. Mit der Ausdifferenzierung des künstlerischen Angebotes käme es den unterschiedlichen Bedürfnissen und Erwartungen entgegen, die ein künftiges Publikum so oder so charakterisieren wird.
Noch dominiert ein in die Jahre gekommenes, betuchtes Stammpublikum. Und da die Menschen immer älter werden, mag das Konzept ja noch ein paar Jahre aufgehen. Was danach passiert, darauf konnte das Symposium keine Auskunft geben; wohl aber darüber, wie schwer es noch fällt, sich nicht ausschließlich an einer (besseren) Vergangenheit zu orientieren, sondern den Mut aufzubringen, sich den gesellschaftlichen Widersprüchen von heute zu stellen und daraus den Auftrag abzuleiten, handlungsleitende Haltegriffe auf einem – zum Teil absichtsvoll – noch sehr vernebelten Weg in die Zukunft zu suchen.
LETZTE BEITRÄGE
- Hilfe, die Retter nahen
- Kunst, Kultur und Grenzen – Warum Grenzen für ein lebendiges Zusammenleben notwendig sind
- Alles neu macht der Mai – Eine andere Zukunft des Kulturbetriebs ist möglich
- Hype um Chat GPT
- Die Autonomie der Kunst
- Liberale Bürgerlichkeit, hedonistische Massendemokratie oder antidemokratischer Autoritarismus
- Dürfen die das?
- Kulturpolitik in Zeiten des Krieges
- „Das Einzige, was uns zur Zeit hilft, das sind Waffen und Munition“
- Stehen wir am Beginn eines partizipativen Zeitalters? (Miessen)