
Rotunda de Ranelagh für alle
Langsam breitet sich die Dunkelheit im Zuschauerraum aus, die Gestalten in den engen Sitzreihen verlieren ihre Konturen und kollektive Erwartung macht sich breit. Und die ZuhörerInnen und ZuschauerInnen vergessen, dass sie Teil einer starr konstruierten Publikumsformation geworden sind, die darauf angelegt ist, der Vielfalt der Individualitäten der BesucherInnen das Gebot der Uniformisierung überzustülpen.
KonzertbesucherInnen haben gelernt, vor allem sogenannte klassische Musik in „Reih und Glied“ wahrzunehmen. Dazu gehört, die eigene Körperlichkeit beim Eintritt in den Saal hinter sich zu lassen. Die Funktion des Zuhörerkörpers reduziert sich darauf, die Ohren an die auf der Eintrittskarte angegebene Stelle zu tragen. Spätestens mit den ersten Takten der Musik wird jede weitere körperliche Äußerung wie Kopfdrehen, Aufrichten oder gar Husten, Schnäuzen oder Sprechen als störend oder unhöflich empfunden, weil es die Aufnahmefähigkeit der benachbarten Ohren beeinträchtigt. In diesem Setting ist es die Fähigkeit, den Körper zu negieren, die über die Zuschreibung des Attributs „kultiviert“ entscheidet (Die Ausnahme bietet bestenfalls eine Minderheit von LogenbesucherInnen, die sich mit dem Kauf einer teureren Karte und allenfalls einem Lorgnon ausgerüstet auch ein größeres Maß an körperlicher bzw. sinnlicher Freiheiten erkauft haben).
Öffentliches Hören jedenfalls des klassischen Repertoires ist offenbar nichts für den ganzen Menschen. Der geschulte Zuhörer weiß, sich körperlich zu disziplinieren, mehr noch, seine Körperlichkeit für die Dauer des Konzerts auszuschalten (immerhin stilles Atmen ist erlaubt) und damit die Wahrnehmung von seinen physischen Grundlagen abzulösen.
Die militärische Ordnung als Maßstab des kulturellen Verhaltens
Da drängen sich die Parallelen mit dem Heereswesen unmittelbar auf. Auch in der militärischen Ordnung verschwindet die individuelle Körperlichkeit, die aufgeht in die Bildung einer kollektiven Formation. Wehe dem einzelnen Rekruten, der aus der Reihe tanzt oder meint, sich am Kopf kratzen zu können, wenn ihm danach ist. Sein Körper mutiert zu einem Bestandteil einer militärischen Funktion und ist als solcher völlig irrelevant. Und auch in diesem Fall bedurfte es eines langen Trainings – vulgo Drill – bis der Soldat (nach wie vor seltener die Soldatin) verinnerlicht hat, dass sein/ihr Körper nur insofern zählt, als er zur Bildung einer gemeinsamen Kampfmaschine beizutragen vermag.
Und noch eine Assoziation will mir nicht aus dem Kopf: die Schulklasse. Auch hier galt die längste Zeit eine unhintergehbare Norm, Tische und Stühle der SchülerInnen so auszurichten, dass die Körper der SchülerInnen in einer, dem Lehrer gegenüber stehenden Phalanx verschwinden konnten. Auch die lernenden Jugendlichen wurden (und werden bis heute) darauf getrimmt, sich ihres ganzen Körpers für die Unterrichtszeit zu entledigen und sich stattdessen mit Hilfe einiger weniger (unvermeidlicher) Körperteile darauf zu konzentrieren, was über die Ohren – in diesem Fall in Form kognitiver Wissensvermittlung – auf- bzw. mit der Hand (seltener mit dem Mund) wiedergegeben werden konnte.
Diese Ordnung schien die unabdingbare Voraussetzung, allen zur selben Zeit denselben Unterricht angedeihen zu lassen, in der Erwartung, dass dieser – individuelle Unterschiede hin oder her – auf die gleiche Resonanz fallen würde.
Viele von uns – ich eingeschlossen – sind mit der Vorstellung aufgewachsen, bei diesen, Körperlichkeit ebenso wie Individualität ausschaltenden, Organisationsformen in zentralen gesellschaftlichen Bereichen handle es sich um den Ausdruck einer quasi naturwüchsigen Ordnung, die um den Preis des völligen Chaos nicht in Frage gestellt werden dürfe.
Entindividualisierung und Entkörperlichung als Zeiterscheinung des aufkommenden Massenzeitalters
Erst ganz allmählich dämmert uns, dass das so nicht sein muss, dass wir es vielmehr mit spezifischen Zeiterscheinungen zu tun haben, die eng an die Vorgaben der industriellen Produktionsweise gebunden waren und sind. Es galt, Gruppen möglichst effizient zu organisieren, ohne dabei weiter Bedacht auf individuelle Besonderheiten zu nehmen. Was darüber hinaus die ganz besondere Andersartigkeit jedes einzelnen Menschen ausmacht, wurde – wenn überhaupt wahrgenommen – in erster Linie als störend empfunden, die es galt, auszumerzen, wenn ihre Träger ganz bestimmte, weitgehend standardisierte Leistungen zu erbringen hatten.
Wir erleben heute das langsame Ende dieses, auf reduktiven Organisationsformen beruhenden, Industrialismus und – spät aber doch – merkt auch der Kultur- und der Bildungsbetrieb (vom Militär fehlt mir die eigene Anschauung), dass es höchste Zeit ist, sich von liebgewordenen Gewohnheiten, Menschen ihre Besonderheiten auszutreiben, zu verabschieden. Bleibt nur noch, die daraus resultierenden Konsequenzen zu ziehen.
Schule zwischen individuellen Ansprüchen und institutionellen Wirklichkeiten
Alle in und rund um Schule Tätigen wissen (zumindest im Kopf), dass sich junge Menschen nicht beliebig und wenn ja, nur zu deren Schaden, in vorgegebene Organisationsschemata pressen lassen. Auch junge Menschen sind, jeder und jede für sich, etwas Besonderes; sie alle haben eine Vorgeschichte und sind ausgestattet mit spezifischen Eigenarten, Verschiedenheiten, Qualitäten und Potentiale. Dieser Umstand stellt bei näherem Hinschauen keine Bedrohung sondern den eigentlichen Reichtum der jungen Generation dar.
Dazu gehört auch die Zurkenntnisnahme, dass sie über einen eigenen Körper verfügen, den sie immer weniger bereit sind, auf dem Weg ins Klassenzimmer hinter sich zu lassen, um sich voll und ganz auf einige wenige Hirnleistungen zu konzentrieren. Ihr Körper (und die Mode- und Schönheitsindustrie hat da eine Menge dazu beigetragen) ist ihnen wichtiger denn je und damit ein entscheidender Teil ihrer Persönlichkeit, von dem sie sich auch in der Unterrichtszeit nicht mehr bereit sind, abzuspalten.
Die Antwort der Bildungspolitik auf diese neue Form der Ganzheitlichkeit heißt „Individualisierung“, in der Hoffnung, damit den verschiedenen Persönlichkeiten der SchülerInnen im Unterricht besser (weil in individuell fördernder Weise) Rechnung tragen zu können. Das Problem der Umsetzung zeigt sich vor allem in einem institutionellen Abwehrverhalten, weil in uns allen tief eingeschrieben ist, dass Schule im letzten nur in bewährter Reih-und-Glied-Manier funktionieren kann.
Selbstverständlich kann man da oder dort die Tische und Stühle umstellen oder außerhalb des Regelunterrichts spezielle Neigungsgruppen einrichten, was jedoch bleibt, ist das Fehlen der institutionellen Anerkennung, dass jeder junge Mensch besonders ist und damit ein Recht hat, besonders behandelt zu werden. Würde diese – im Prinzip banale Erkenntnis – in die künftigen Organisationsformen von Schule integriert, so bin ich überzeugt, wir würden sie sich nicht mehr wiedererkennen.
Und zuletzt gar auch noch der klassische Konzertbetrieb oder Die Welt steht nimmer lang, lang, lang………
Und der Kulturbetrieb? Weite Teile des Konzertbetriebs haben sich längst von militärischen Ordnungsphantasien ihres zumeist jugendlichen Publikums verabschiedet. Sie wissen, dass Musikerleben eine zutiefst ganzkörperliche Tätigkeit ist und schaffen in ihren Settings die Möglichkeit, Musik- und Körpererlebnis zu einem großen Ganzen verschmelzen zu lassen.
Der klassische Konzertbetrieb tut sich da noch viel schwerer. Zwar werden für spezielle Jugendkonzerte („Proms“) schon mal Stuhlreihen abmontiert, um den ZuhörerInnen die Gelegenheit zu geben auch während des Konzertes schon mal herumzuspazieren oder sich gar auf dem Boden niederzulassen. Für ernsthafte Konzertveranstaltungen hingegen gelten jedoch weiterhin die traditionellen Publikumsordnungen, die allesamt drauf hinauslaufen, im vermeintlichen Dienst der Musik die Individualität der ZuhörerInnen möglichst weit zurückzudrängen.
Vor ein paar Tagen bin ich im Rahmen eines Aufenthaltes in London mehr oder weniger zufällig in die National Gallery geraten. Zuallererst völlig überrascht von der schieren Menge der BesucherInnen (obwohl direkt vor der Galerie auf dem Trafalgar Square ein riesiges Open Air Konzert anlässlich St. Patrick Day stattfand), die an diesem Sonntag Nachmittag die Schauräume bevölkerten. Also ließ ich mich in der Menge treiben und kam in einen Raum, der ausschließlich den Stadtansichten Canalettos gewidmet ist.
Auf einem der Bilder fand ich eine Innenansicht der „Rotunda de Ranelagh“, ein großer Konzertsaal des 18. Jahrhunderts, in dem, wie ich zu Hause nachgelesen habe, 1765 auch der neunjährige Mozart musiziert hat. Das unmittelbar ins Auge Stechende an dieser Abbildung ist die völlig andere räumliche Gewichtung von Publikum und MusikerInnen. Es ist ganz offensichtlich das Publikum, für das und rund um das dieser Raum errichtet worden ist. Der Auftrag der ZuhörerInnen ist es nicht, ihre Körper in Reih und Glied zum Verschwinden zu bringen, ganz im Gegenteil, sie können und sie sollen sich zeigen, vor, nach und während des Konzertes; ihnen in ihrer Besonderheit gilt die erste Aufmerksamkeit. An einer Seite die Bühne (die auch mit einer Orgel ausgestattet ist), auf der musiziert wird, nicht in Form von l’art pour l’art sondern um die Menschen im Mittelpunkt zur Geltung zu bringen.
Sie werden vielleicht einwenden, die Musik käme in diesem Setting nicht entsprechend zur Geltung und müsse sich die Aufmerksamkeit der ZuhörerInnen mit anderen sinnlichen Erfahrungen teilen. Aber sie erfüllt – könnte man einwenden – eine essentielle Funktion in der Schaffung eines kommunikativen Raumes, der bei den ZuhörerInnen Saiten zum Schwingen bringt, die ansonsten stumm geblieben wären. Darüber hinaus bin ich mir nicht sicher, ob dieses Publikum nicht über ein sehr ausdifferenziertes Wahrnehmungsrepertoire verfügt hat, das es ihnen durch erlaubt hat, durchaus die Qualität der gespielten Musik zu erkennen.
Und vielleicht werden Sie noch einen gravierenden Einwand hinzufügen, der darin besteht, dass es sich bei den damaligen BesucherInnen um ein sehr spezifisches aristokratisches Milieu gehandelt hat, das man nicht verallgemeinern kann, weil es Muße genug hatte, um inmitten ihrer hochstilisierten Kommunikationsformen sehr verfeinerte musikalische Rezeptionsweisen zu entwickeln.
Nun ist der klassische Musikbetrieb von heute – trotz vieler reger Bemühungen, mit Hilfe einer neuen Generation von Musikvermittlungsprogrammen neue Zielgruppen zu erreichen – wahrscheinlich ähnlich exklusiv wie anno 1965. Der Gründe liegen nicht mehr in der Zugehörigkeit einer Gott gegebenen Machtelite sondern in der anhaltenden Notwendigkeit, das Publikum im obigen Sinn zuzurichten. Die schieren BesucherInnenzahlen belegen, dass das bei jungen Menschen immer weniger gut funktioniert, weil sie sich solche rigiden Formen der Disziplinierung und Entkörperlichung durch „Kultur“ nicht mehr gefallen lassen, egal, ob ihnen die Musik, die da von der Bühne kommt, besser oder schlechter gefällt. Dies umso mehr, als die „Individualisierung“, die zur Zeit in der Schule zaghaft erprobt wird, im Kulturbetrieb (der sich ansonsten gerne als Avantgarde gesellschaftlicher Entwicklungen ausgibt) nicht nochmals beschnitten werden kann.
Mein Vorschlag: Nehmen wir uns ein Beispiel an den Aristokraten des 18. Jahrhunderts und demokratisieren wir sie. Bauen wir die Konzertsäle einer vergangenen Ära kultureller Entkörperlichung (und damit wohl auch Entsinnlichung) um in „Rotunden von Ranelagh für alle“. Und wir werden erstaunt feststellen, dass klassische Musik nicht nur in einem starren Korsett der Einweg-Verfahren vermittelt werden muss, sondern, dass man sich dazu bewegen, mit und in ihr kommunizieren und sich und seine Umgebung dabei als Ganzes erfahren kann.
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