Schönheit zwischen „Mehr als schön ist nichts“ und „Mehr als schön ist alles“
„Mehr als schön ist nichts“ – Mit diesem Satz beginnt der neue Roman von Martin Walser „Der sterbende Mann“. So ein Satz muss einem erst einmal einfallen, hab ich mir beim ersten Lesen gedacht. Und einen solchen Satz auch noch ganz an den Anfang zu stellen, das ist schon mehr als mutig, eigentlich halsbrecherisch für einen Autor, der danach noch eine Geschichte erzählen will.
Zugeschrieben wird dieser Satz dem „Herrn Schriftsteller“ von der Romanfigur Theo Schadt. Dieser ist ein ehemaliger Inhaber des Unternehmens „DER VERSCHÖNERER“ und nach dem Verrat seiner Existenzgrundlagen (und einer Krebsdiagnose) drauf und dran, seinem Leben ein Ende zu setzen. Schadt schreibt dem Schriftsteller. In seinem Brief wehrt er sich gegen den Satz mit dem Argument seiner eigenen körperlichen Unscheinbarkeit. In seiner Zurückweisung verweist er auf sein Äußeres, für das es nach Schadt keinen Grund gäbe, es schön zu finden. Statt dessen beanspruche er für sich, gewöhnlich zu sein; im Übrigen weigere er sich, sich die Maske der Schönheit aufsetzen zu lassen; als Klischee sei sie nur insofern von Wert, als sie suggeriere, das Leben könne so weitergehen, wie es eben geht.
Der Koran als höchste Erscheinungsform arabischer Poesie
Lektürewechsel: Während der Weihnachtsfeiertage habe ich mich festgelesen an Navid Kermani, einem der herausragenden VermittlerInnen zwischen Orient und Okzident, deren Überlegungen zur Destruktion überkommener wechselseitiger Zuschreibungen wir in diesen Tagen so dringend bedürfen. In seiner Aufsatzsammlung „Zwischen Koran und Kafka – West-östliche Erkundungen“ findet sich ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Koran. Darin macht Kermani deutlich, dass es in vorislamischer Zeit vor allem die altarabische Dichtung mitsamt ihrer Hochsprache ('arabya) gewesen sei, die das ansonsten in mannigfache Stämme aufgeteilte Siedlungsgebiet auf der arabischen Halbinsel (von einer Größe, die rund ein Drittel Europas ausmacht) zusammengehalten hätte. Mohammed sei also in einer Welt aufgewachsen, in der Poesie (und nicht irgendwelche religiöse Lehren) als (einzig) verbindendes Element eines gemeinsamen arabischen Selbstverständnisses einen sehr hohen Stellenwert gehabt hätte. Seine Verkündigungen sind folglich zuallererst als Beitrag zur Dichtkunst verstanden worden; um als Prophet wahrgenommen zu werden, musste er sich dagegen verwehren, als Dichter behandelt zu werden. Ansonsten musste er fürchten, dass sein Anspruch auf göttliche Offenbarung in Frage gestellt werden würde; ein Umstand, auf den im Koran selbst immer wieder Bezug genommen wird.
Trotz dieser Versuche der Richtigstellung in der Entstehungszeit dieser Heiligen Schrift – meint jedenfalls Kermani – verdanke sich der Erfolg von Mohammeds Lehren vor allem seiner Sprachgewalt und damit der schieren ästhetischen Wirkung seiner melodischen Rezitation. Mit dieser herausragenden ästhetischen Qualität seines Gründungstextes setze sich der Islam vom Christentum ab, für das nicht die Schönheit der göttlichen Eröffnung die hervorstechendste Eigenschaft bilde sondern eine moralisch-ethische Botschaft (die erst mit dem wachsenden gesellschaftlichen Machtanspruch in eine entsprechend prunkvolle ästhetische Form gebracht worden ist). Diese Form der Rationalisierung des ästhetischen Erlebnisses habe im Islam zu einer eigenen theologisch-poetologischen Doktrin geführt, wonach sich die Unübertrefflichkeit und Unnachahmlichkeit des Koran vorrangig aus der ästhetischen Vollkommenheit seiner sprachlichen Formulierungen ergäben, die von keinem irdisch beschränkten Menschen erdichtet werden können. Eine solche Doktrin ermögliche einen ästhetischen Gottesbeweis, dessen westliche Entsprechung sich bestenfalls im Geniekult des 19. Jahrhunderts wiederfinde, im Rahmen dessen Kunstwerke in den Status des Göttlichen erhoben wurden.
Erst die politische Pragmatik macht aus einem vielschichtigen Kunstwerk eine unbedingte Handlungsanleitung
Da bedurfte es schon großer Anstrengungen, den Koran von der Zuschreibung als – wenn auch – höchste Form der Dichtung zu befreien. Dies vor allem vor dem Hintergrund eines, die weitgehend inkonsistenten Clanstrukturen übersteigenden Machtanspruchs. Damit forderte die neue Generation der Koranexegeten die gesamte Stammesstruktur der arabischen Gesellschaft und ihren Polytheismus radikal heraus. Sie sahen es als ihre vorrangige Aufgabe, die Einheit Gottes wie der Gemeinde als unbedingtes Prinzip der Einheit durchzusetzen. Dazu mussten sie die bislang herausragende Stellung der Dichter, die sich in vorislamischer Zeit als Gralshüter der gemeinsamen arabischen Hochsprache verstanden hatten, um mit ihr einen weitgehend unveränderbaren Fortbestand der tribalen Ordnung sicher zu stellen, brechen und durch eine für alle Gläubigen verbindliche Heilslehre ersetzen.
Der Sieg der politischen Pragmatik über die Poetik wirkt bis heute nach und kann in den nach wie vor auf mannigfache Ungleichheit beruhenden, post-kolonialen Settings in einer simplen Gegenüberstellung von Gläubigen und Ungläubigen nur zu leicht auf immer neue Weise aufgerufen werden. Er macht aber nur zu leicht den Fortbestand theologischer Traditionen vergessen, die nie aufgehört haben, den poetischen Charakter des Koran zu verteidigen. Ihnen zufolge verfehlt eine wörtliche Auslegung des sich aus vielen Quellen speisenden Textes völlig den ursprünglich poetischen Charakter des Textes. Stattdessen macht gerade die Ambiguität seine göttliche Besonderheit aus, ohne die er aufhörte, poetisch zu sein und zu einem ideologischen Manifest verkam. Kermani nennt in diesem Zusammenhang islamische Gelehrte wie den Iraner Abdolkamdim Sorusch oder den Ägypter Nasr Hamid, die auf der Vieldeutigkeit des Koran insistieren und eine immer wieder erneuerte und veränderte Interpretation als zentrale Voraussetzung für die Schönheit, die Poesie und die Musikalität des überlieferten Textes nennen: Nur wenn der Koran als Offenbarung und zugleich als Literaturdenkmal und Klangwerk rezipiert wird, eröffnet sich ein Kosmos von Zeichen, Bedeutungen und Interpretationen, die ihn auf mannigfache Weise lesen und erst so seine Schönheit zum Ausdruck kommen lassen. Angesichts der gewaltbereiten Refundamentalisierungsversuche lassen sich die aktuellen Auseinandersetzungen um den Koran, die heute in der islamischen Welt ausgetragen werden, zumindest auch als ein Ringen um seine ästhetische Dimension begreifen; eine Auseinandersetzung, der wir vor allem vor dem Hintergrund des Rufes nach einem mit Europa kompatiblen Islam mehr Aufmerksamkeit widmen sollten.
Und wo bleibt die Schrecklichkeit in der Ästhetik? – Schönheit als Ambivalenz zwischen Unaushaltbarkeit und Gefälligkeit
Theo Schadt wirft dem Herrn Schriftsteller vor, sich mit seinem Satz auf das Äußerliche des Schönen zu beschränken. Er trifft damit den Kern einer spezifisch postmodernen Entleerung des Schönheitsbegriffs, der sich mit seiner oberflächlichen Erscheinung zufrieden gibt. Weitgehend ausgemerzt wurde im Zuge einer solchen Zurichtung, in der die Schönheit weitgehend mit Gefälligkeit in eins gesetzte wird, das Doppelbödige, das die Vorstellung des Schönen von je her ausgezeichnet hat. Bei Rainer Maria Rilke etwa ist das Schöne in seinen Duineser Elegien „nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen“. Damit verweist der Dichter auf eine unhintergehbare Ambivalenz des Schönen, das in seinem Vollsinn ohne dem Schrecklichen nicht zu haben ist; ob wir wollen oder nicht, das Schöne verweist immer auf ein Unaushaltbares, Unerträgliches, Unfassbares, das sein Schein, nein, nicht ins Gegenteil verkehrt sondern überhaupt erst erträglich und aushaltbar macht. Als solches schirmt uns das Schöne vom Schrecklichen ab, ohne es freilich damit auch schon zum Verschwinden zu bringen. Dazu Byung-Chul Han: „Das Schöne ist kein Bild, sondern ein Schirm“.
Über den Versuch angesichts des Zustands der Welt das Erhabene wieder zu einem Bestandteil des ästhetischen Vokabulars zu machen
Ich bin auf Han gekommen auf der Suche nach einem Begriff, der uns im Rahmen aktueller Auffassungen von Schönheit völlig abhandengekommen zu sein scheint: die Erhabenheit (und mit ihm gleich auch die Rede von der Edelheit). Kein Schaden, könnte man vorschnell sagen in einer auf säkularen und demokratischen Grundsätzen beruhenden Gesellschaft. Und doch bleibt ein Zweifel, ob mit der Ausmerzung dieser hehren Begrifflichkeiten nicht auch gleich wesentliche Qualitäten in unseren Vorstellungen über Schönheit verlustig gegangen sind, ohne die die ganze Tragweite der ästhetischen Anschauung dessen, was in der Welt der Fall ist, nicht erfasst werden könne.
Byung-Chul Han hat jüngst ein kleines Büchlein zum Thema „Die Errettung des Schönen“ veröffentlicht. Ich war froh, darin zu lesen, dass ich offenbar nicht der Einzige bin, der mit dem Verlust des Erhabenen hadert. Han sieht im Auseinanderfallen von Schönheit und Erhabenheit ein spezifisches Phänomen der Neuzeit, das das Schöne auf seine reine Positivität reduzieren würde (und damit das Erhabene für obsolet erklären könnte). In seinen Überlegungen verweist er auf einen nicht identifizierten antiken Autor Pseudo-Longinus, der mit seiner Schrift „Über das Erhabene“ (Peri Hypnos) großen Einfluss auf die poetologische Diskussion genommen hat. Geht es nach ihm, dann zählt zum Schönen die Negativität des Überwältigenden bzw. Erschütternden unabdingbar dazu. Es ist diese Negativität, welche die Schönheit überhaupt erst begründet, wenn sie uns durch den schönen Schein hindurchblicken lässt. Das sind dann die kathartischen Momente, die uns die Konfrontation mit Kunst (als Form der sinnlichen Erfahrung von Welt) nicht aushalten lassen, weil der Eindruck einfach zu stark ist, uns überfordert, ja schmerzt und uns so im Innersten in einer Weise berührt, die uns in unserem Sosein nicht aushalten lässt, um uns im Augenblick zu zwingen, uns neu zu erfinden (und das Leben zu verändern).
Vielleicht haben wir uns auch deshalb vom Erhabenen verabschiedet, weil es kein unmittelbares Wohlgefallen hervorzubringen vermag und stattdessen Schmerz und Unlust. Aber beides ist in der Welt oft zu gewaltig, als dass wir mit unseren beschränkten Wahrnehmungskräften damit zurande kämen. Die Verweigerung, sich ihm auszusetzen, erzählt so auch etwas vom grassierenden Unwillen, sich – zumal vom Kunstschönen – überhaupt noch erschüttern und überwältigen zu lassen. Dazu sind wir mittlerweile viel zu abgeklärt. Und doch benehmen wir uns mit der Weigerung, uns noch einmal dem Erhabenen zu stellen, „sich mit dem radikal Anderen unseres Selbst zu konfrontieren, auf dass es aus sich selbst herausgerissen wird auf den Anderen hin, dass es außer sich gerät“ (Han).
Auf der Suche nach einer anderen Schönheit, die uns hinter ihrer schönen Erscheinung die Welt zu erkennen gibt, so wie sie ist und sie nicht vor uns verbirgt
Und doch spricht einiges dafür, eine solche Verweigerungshaltung aufzugeben und sich daran zu erinnern, dass das Schöne und das Erhabene einen gemeinsamen Ursprung haben. Dessen eingedenk könnten wir uns noch einmal auf die Suche nach einer anderen Schönheit, nach einer Schönheit des Anderen machen, die über die Erfahrung des Schönen als einfach konsumierbares Gut hinausweist (Das wäre wohl auch eine wegweisende Aufgabe für kulturelle Bildung in Zeiten wachsender gesellschaftlicher Polarisierung rund um den aktuellen Flüchtlingszuzug, die sich ansonsten gerne auf die Produktion von Glück und Wohlgefallen in schwieriger Zeit beschränkt).
Einen Anfang auf dieser Suche könnte die Einsicht Kermans machen, dass die aktuelle, durch den Zuzug von Muslimen ganz unterschiedlicher Ausrichtung angeheizte Islamdebatte grundlegende ästhetische Implikationen mit sich führt. Wenn wahr ist, dass der Islam von Beginn an nur als ein poetisches Projekt zu begreifen ist, das erst im Zuge seines politischen Machtanspruches seiner ästhetischen Qualitäten beraubt worden ist, dann es geht es – zumindest auch – darum, die ursprüngliche Schönheit dieses Glaubens (samt seiner interpretativen Vielfalt) wieder zur Erscheinung zu bringen. Die aktuell begangenen Grausamkeiten im Namen des Islam machen eine solche Anschauung schwer, ja unmöglich. Und kommen wir als diejenigen, die der Kunst eine gesellschaftliche Bedeutung zuweisen, nicht darum herum, in einen „Raum jenseits autorerotischer Subjektivität“ (Han) einzutreten, um sich dort auch dem Schrecklichen und der Unerträglichkeit – sei es im eigenen Verhalten oder dem anderer – auszusetzen und so, und nur so Schönheit in ihrem Vollsinn zu erfahren?
Auch in Martin Walsers Roman geht es nicht um den vordergründigen Schein des Schönen. Es geht ums Sterben, konkret ums Sterbenwollen eines 72jährigen, der mit dem Verrat durch seinen besten Freund, dem Leben nichts mehr abgewinnen kann. Außer: Sich in einem Suizid-Forum mit anderen Lebensmüden zu verständigen. Theo Schadt tritt dort mit der gleichgesinnten Aster in Kontakt, woraus sich ein ebenso intensiver wie zukunftsloser Austausch ergibt.
Am Ende wartet der Tod; Schadt kommt nochmals auf den Satz zu Beginn zurück und spannt endgültig den konstitutiven Bogen auf für eine Schönheit zwischen „nichts“ und „alles“.
Er schreibt an den Herrn Schriftsteller:
Das muss Ihnen noch mitgeteilt werden: Ihr Satz "Mehr als schön ist nichts" darf verbessert werden: Eine, die selbst aufgehört hat, war mehr als schön. Sie war alles. Sie war alles. Und noch einem die auch selbst aufgehört hat, war auch mehr als schön. Sie war alles. Nur, dass Sie das wissen. In der Hoffnung, es rege Sie an, Ihr Theo Schadt“Und der antwortet:
Lieber Herr Schadt, leben wie in derselben Parallelwelt? Das hieße doch, dass die Hand leer läuft, das Zeit Frist heißt, dass das Universum gähnt, dass du aufhörst zu sein, dass Geschichte ein Stück Papier ist, auf dem nichts steht. Ihr sogenannter Schriftsteller.Martin Walser ist 89 Jahre alt.
Post Skriptum: Die Süddeutsche Zeitung veröffentlicht zur Zeit eine Artikelserie mit dem Titel; „Was ist deutsch“, Unter dem Titel „Kultur ist kein Integrationskurs“ nahm zum Thema auch Shermin Langhoff, Direktorin des Berliner Gorki-Theaters Stellung. Der letzte Satz ihres Beitrags: „Es ist schön hier, aber schöner wär', wenn's schöner wär.“
Es wär schön, wenn es in der aktuellen öffentlichen Konfusion eine vergleichbare Übung auch in Österreich gäbe. Mit dem Titel „Und wer bin ich?“ würde ich gerne in meinem nächsten Blog-Beitrag einen Anreiz geben.
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