Schule, Demokratie und soziale Integration
Es soll in Zukunft also teuer werden, die Schule zu schwänzen. Die Diskussion um die Erhöhung von Strafbeträgen im Fall von Schulpflichtverletzung (eigentlich Unterrichtspflichtverletzung) war von ÖVP-Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz medienwirksam inszeniert worden. Jetzt zeigt er sich zufrieden darüber, dass die Bildungsministerin seinem Druck nachgegeben hat. Und wir alle bekommen einmal mehr mit, wie das bildungspolitische Kräfteverhältnis in Österreich ausgestaltet ist.
Er funktioniert also noch, der Stigmatisierungsreflex, der den ZuwanderInnen den Generalverdacht der Schulverweigerung umhängt (sonst hätte die Forderung ja auch aus dem Wirtschafts- oder Sozialressort, eigentlich aber vom Bildungsressort kommen können). Als ob es nicht zum guten Ton vieler Eltern ganz ohne Migrationshintergrund gehören würde, sich am Stammtisch damit zu brüsten, die Schule regelmäßig „gestagelt“ zu haben, werden mit diesem politischen Profilierungsversuch eines konservativen Nachwuchspolitikers die überdurchschnittlichen Bemühungen vieler migrantischer Eltern, die sich „einen Haxn“ ausreißen, um ihren Kindern den sozialen Aufstieg zu ermöglichen, diffamiert.
Warum gibt es kein Individualrecht auf Blödheit?
Völlig undiskutiert geblieben ist in diesem Zusammenhang die Aufrechterhaltung einer staatlich verordneten Schulpflicht. Woher nimmt der Staat – zumal in Zeiten zunehmender Individualisierung – sich überhaupt noch das Recht, junge Menschen (bzw. deren erziehungsberechtigte Eltern) erheblich in ihrer Freiheit einzuschränken, selbst zu entscheiden, ob sie überhaupt und wenn ja, wo und in welcher Form sie an vom Staat organisierten Bildungsprozessen teilnehmen wollen? Lernen kann man schließlich auch woanders und unter anderen Umständen. Warum nicht selbst entscheiden? Warum zwangsbeglückt werden, wenn die Frage ansteht, ob das Kind nicht auch ohne schulischen Unterricht seinen Weg gehen kann? Dies umso mehr, als uns die Medien täglich mit jeder Art von inferioren Identifikationsfiguren überschwemmen, die es geschafft haben, gerade mit ihren öffentlich zur Schau gestellten Lernschwächen (möglicherweise gerade deswegen) gesellschaftliche Bedeutung zu erlangen.
Öffentliche Schule als Ort, die bestehenden Realitäten zu internalisieren
Nun gibt es seit vielen hundert Jahren Schulen. Ihr Besuch blieb in der Regel den Mitgliedern ausgewählter Schichten vorbehalten, die mit dem dort erworbenen Wissen für sich beanspruchten, gesellschaftliche Führungspositionen einzunehmen. Maria Theresia, die in Österreich als erste die allgemeine Schulpflicht eingeführt hat, hatte dabei nichts weniger im Sinn als alle jungen Menschen mit dem – bisher einer kleinen sich selbst verpflichtenden Elite vorbehaltenen – Wissen vertraut zu machen. Ihre Erwartungen an die Schule richteten sich vielmehr auf das Einüben von Untertanenmentalität, damit auf unabdingbaren Gehorsam samt Treueschwur auf die Herrscherfamilie bis in den Tod. Und so konnte Joseph II. in einem Schreiben an seine Mutter die Ziele der für alle verpflichtenden Schule auf den Punkt bringen: „Ein bisschen rechnen, ein bisschen schreiben, ein bisschen lesen sollen die Kinder lernen, aber um Gottes willen nicht viel mehr – denn das macht rebellisch und wir brauchen brave Untertanen“.
Der kulturellen Bildung kam dabei eine unmittelbar herrschaftserhaltende Rolle zu. Und wenn heute immer noch dem Verlust der vielfältigen musischen Fähigkeiten der Pflichtschullehrer in der Monarchie nachgetrauert wird, dann sollten wir nicht vergessen, dass es in erster Linie patriotische und katholische Lieder waren, die die Kinder auf dem Weg zu ihrer Bestimmung als pflichtbewusste Befehlsempfänger auf den Lippen geführt haben.
Hundert Jahre nach Einführung der Demokratie – mit einigen Unterbrechungen – gibt es die allgemeine Schulpflicht immer noch. Und mit ihr den Fortbestand einer kategorialen Zweiteilung von Schule entlang unterschiedlicher sozialer Gruppen, deren Grenzziehungen zwar in den letzten Jahren durchlässiger geworden sind, ihre Begründung zur weiteren Aufrechterhaltung aber weiterhin in einer jahrhunderte alten Tradition autoritärer Herrschaft (inklusive damit verbundener Lehrerprivilegien) haben.
Die Ziele der Schule von heute sind von gestern
Was es aber gibt, das ist ein Schulorganisationsgesetz aus 1962, das die Ziele einer Schule für alle jungen Menschen folgendermaßen definiert: „Die österreichische Schule hat die Aufgabe an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklung und ihrem Bildungsgang entsprechenden Unterricht mitzuwirken. Sie hat die Jugend mit dem für das Leben und den künftigen Beruf erforderlichen Wissen und Können auszustatten und zum selbsttätigen Bildungserwerb zu erziehen.“
Schon beim ersten Überlesen ist augenscheinlich, wie hohl und nichtssagend diese programmatischen Sätze in den letzten 50 Jahren geworden sind. Allein der Begriff einer vermeintlich alle jungen ÖsterreichicherInnen umfassenden „Jugend“ hat sich nach den Ergebnissen der Jugendforschung in viele unterschiedliche Bestandteile aufgelöst. Nicht zu reden von der überkommenen Sicherheit, mit der hier von – offenbar für alle gleichermaßen gültigen – „sittlichen, religiösen und sozialen Werten“ ausgegangen wird. Und dann noch der nostalgische Erinnerungshinweis zum „Wahren, Guten und Schönen“, der bestenfalls noch verhaltenes Schmunzeln auslöst.
Vielleicht aber ist ja auch bedeutender, was nicht im Zielekatalog enthalten ist, etwa ein Bezug auf die demokratischen Grundlagen jeglichen Schulunterrichts – ein erstaunliches Defizit, das viel über die bildungspolitische Denkweise in der jungen Demokratie der 1960er Jahre erzählt.
Am wirkmächtigsten hat sich zweifellos der Anspruch herausgestellt, die Schüler mit einem, für den „Beruf erforderlichen Wissen und Können auszustatten“. Es ist diese Zielausrichtung, unter der die Effizienz von Schule heute nahezu ausschließlich bemessen wird, wenn PISA und andere Vergleichstests öffentlich verhandelt werden.
Was spricht in pluralistischen Marktwirtschaften (noch) dafür, individuelle Berufsqualifikation nicht dem Markt und damit der individuellen Entscheidung zu überantworten?
Wohl nicht nur in mir entsteht dabei die Frage, ob es für den Erwerb berufsspezifischer Fähigkeiten eines öffentlichen Schulsystems überhaupt noch bedarf. Wenn aller Orten privatisiert wird, warum nicht auch in der Vermittlung einschlägiger Berufsqualifikationen? Ein Prozess, der im Bereich der Höheren Schulen (Fachhochschulen) ohnehin bereits in vollem Gange ist, mit dem Konsequenz, dass das Benotungssystem der öffentlichen Schule – Zentralmatura hin oder her – immer mehr an Bedeutung verliert, um durch fallspezifische Aufnahme- und Einstellungstests wesentlich effizienter ersetzt zu werden.
Was steht also in einer, auf der Grundlage von Angebot und Nachfrage errichteten, Gesellschaft dagegen, auch die Entscheidung, eine Schule zu besuchen (oder eben nicht) zu privatisieren und damit der Freiheit der Individuen zu überantworten. Die Antwort habe ich – wie schon im letzten Blog angedeutet – bei Axel Honneth in seinem Beitrag „Die Schule der Demokratie“ in der Zeitschrift „Die Zeit“ gefunden. Er weist der öffentlichen Schule neben dem Erwerb beruflicher Qualifikationen zwei weitere entscheidende – leider in der gegenwärtigen Fassung des Zielekatalogs des Schulorganisationsgesetzes nicht aufgeführte – Aufgaben zu: den Ausgleich von sozial verursachten Bildungsdefiziten und die Vorbereitung auf die Rolle als StaatsbürgerIn in einer demokratisch verfassten Gesellschaft.
Nun hat die neoliberale Durchdringung aller Lebens- und Arbeitsbereiche mit Wertvorstellungen, die vorrangig auf individuelle Vorteilsoptimierung gerichtet sind, auch auf das System Schule nachhaltige Auswirkungen gehabt. Auf der Strecke geblieben ist dabei die Idee von Schule als ein Gemeinschaft stiftender Ort. Eine diesbezügliche Verwirklichung wird heute eher mit der Teilnahme an kommerziell organisierten Events mit Starbesetzung gesucht als im Klassenzimmer, in dem für das Überleben im täglichen Konkurrenzkampf geübt wird.
Liegen die Ursachen von „Post-Demokratie“ in der „Ante-Schule“?
Wenn wir heute allerorten von der Schwächung der Demokratie die Rede ist (siehe dazu etwa das Buch „Postdemokratie“ von Colin Crouch), dann könnte dies auch daran liegen, dass Schule darauf „vergessen hat“, die dafür notwendigen Grundlagen zu schaffen. Während sich konservative und rechtspopulistische Politiker im Moment mit Vorschlägen überbieten, dem demokratischen System mit Mitteln der „direkten Demokratie“ neues Leben einzuhauchen (um bei der Gelegenheit ihre eigene Position als gesellschaftliche Interessensträger weiter zu schwächen) wird die fehlende Wahrnehmung der öffentlichen Aufgabe von Schule als Erziehungsinstanz von jungen Menschen zu StaatsbürgerInnen, die in der Lage, bereit und willens sind, die ehemals schwer erkämpften demokratischen Errungenschaften mit Sinn und Leben zu erfüllen, erst gar nicht thematisiert. Die inferiore Stellung, die „politische Bildung“ in den meisten Schulen einnimmt (und ihre VertreterInnen neidvoll auf die gegenwärtige Hausse kultureller Bildung blicken lassen) spricht für sich.
Honneth zufolge entscheidet die Wahrnehmung des Auftrags an die Schule, die jungen Staatsbürger auf ihre Rolle als Träger der demokratischen Verfasstheit der Gesellschaft in der sie leben, vorzubereiten, wesentlich über den Zustand einer Gesellschaft. Ein solcher Auftrag aber kann nicht beliebig individualisiert werden. Er ist auf eine gemeinsame Erfüllung gerichtet, wodurch eine Legitimation von Schulpflicht entsteht, die sich mit der Beschränkung auf die Rolle eines öffentlichen Zulieferers von Fachkräften am Arbeitsmarkt immer weniger überzeugend vermitteln lässt. (Umso mehr als das damit verbundene Versprechen auf wirtschaftliche Prosperität und damit verbundenem allen zugänglichen Wohlstand in Zeiten der Krise immer unglaubwürdiger wird).
Schule als Ort, an dem sich verschiedene soziale Gruppen begegnen
Auch die zweite öffentliche Aufgabe, die Honneth der öffentlichen Schule zuweist, ist an die Aufrechterhaltung einer öffentlichen Schulpflicht gebunden. Gerade dort, wo alle Befunde darauf hindeuten, dass die gegenwärtige Organisation von Schule bestehende soziale Ungleichheiten tendenziell verschärft denn vermindert, kommt dem Auftrag des „Ausgleichs von Bildungsdefiziten“ besondere Bedeutung zu. Immerhin ist Schule der einzig verbliebene öffentliche Ort, an dem dieser Ausgleich unmittelbar und in gegenseitigem Wahrnehmen (und möglichen Überwinden) existierender sozialer Ungleichheiten stattfinden kann.
Wenn heute vor allem von konservativer Seite stereotyp ins Treffen geführt wird, eine möglichst frühe Trennung sei notwendig, auf dass (sozial) Starke nicht von (sozial) Schwachen behindert würden, so hat das mit einer öffentlichen Aufgabe von Schule in einer demokratischen Gesellschaft nichts zu tun. Ganz im Gegenteil – es ergibt sich ein öffentlicher Auftrag, der alle Mitglieder der Gesellschaft in gleicher Weise berücksichtigt überhaupt erst dadurch, dass Schule die Aufgabe übernimmt, junge Menschen mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen zu „vergemeinschaften“, auf dass sie einander wahrnehmen, kennen und wertschätzen lernen können.
Mit dieser Funktionszuschreibung von Schule als Ort der sozialen Begegnung zeigt sich der ganze soziale Zerstörungswille, auf dem eine frühe Selektion entlang verschiedener individueller Begabungen (die zumeist einhergeht mit unterschiedlicher, weil sozial definierter Durchsetzungskraft) beruht. Und wir würden die Wirksamkeit von Schule nicht mehr ausschließlich an den PISA-Ergebnissen messen, sondern an der Meisterung – zugegeben mit dem bestehenden Personal und seinen Qualifikationen immer schwerer zu erfüllenden – eines integrativen Anspruchs, der darauf gerichtet ist, den sozialen Desintegrationskräften entgegenzuwirken.
Vielleicht sollte der Integrationsstaatsekretär eher überlegen, welche Sanktionen sich anwenden ließen, wenn Schule ihrer Aufgabe der Demokratieerziehung und des Einübens in ein Miteinander über soziale Grenzen hinweg, nicht nachkommt. Er würde sowohl den SchülerInnen als auch der Gesellschaft damit einen größeren Dienst erweisen, als die Bildungsministerin dazu zu zwingen, denjenigen, die sich im gegenwärtigen Schulsystem nicht wiederfinden, mit finanziellen Sanktionen zu drohen (weil das ja angeblich die einzige Sprache ist, die die Menschen verstehen).
So gesehen spricht eigentlich nichts gegen eine Neufassung des überkommenen „Zieleparagraphen“ des Schulunterrichtsgesetzes, der sich – längst überfällig – neben der individuellen Berufsvorbereitung endlich auch explizit auf den sozialen Integrationsbedarf und die Erziehung zur Staatsbürgerlichkeit als Voraussetzung eines – auch in Zukunft gelingenden – demokratisch verfassten Gemeinwesens beziehen sollte, um den Anspruch auf Schulpflicht weiterhin aufrechtzuerhalten.
Und noch etwas: Wussten Sie, dass Mathematik die Leistungen im Bereich der kulturellen Bildung verbessert?
Und weil wir gerade bei Neufassungen sind noch eine Anregung: Im Diskurs kultureller Bildung wird gerne auf die positiven Effekte hingewiesen, die kulturelle Aktivitäten auf den Erwerb mathematischer oder sonstiger Fachkenntnisse haben kann (in der Hoffnung, damit aus einer Position der Defensive doch noch im Konzert der sogenannten „harten Fächer“ mitspielen zu dürfen).
Wie wäre es einmal mit einer umgekehrten Argumentation, um damit die bestehenden Macht- und Einflussverhältnisse zum Tanzen zu bringen? Was hindert uns, danach zu fragen, ob der Erwerb fachwissenschaftlicher Kenntnisse positive Effekte beim Erwerb kultureller Kompetenzen nach sich zu ziehen vermag bzw. ob und wie sich diese messen lassen. Und bei einem der nächsten Fachkongresse zu kultureller Bildung werden dann die Ergebnisse präsentiert, die eindrucksvoll zeigen, wie gut der Mathematikunterricht bei der Realisierung von gemeinsamen Tanzprojekten beizutragen vermag…
Bildquelle: http://bit.ly/MRHjULLETZTE BEITRÄGE
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