Schule.Macht.Rechtspopulismus
Einer der Vorteile von PISA liegt darin, dass zumindest für eine kurze Zeitspanne in einer breiteren Öffentlichkeit über Schule gesprochen wird. Völlig unverständlich ist mir aber, warum die veröffentlichten PISA-Ergebnisse für Österreich 2015 nicht unmittelbar zu einem breiten Aufstand empörter BürgerInnen führt, denen vor Augen geführt wird, dass ihre Kinder vom Schulsystem systematisch benachteiligt werden. Dies umso mehr, als ein Großteil der österreichischen Bevölkerung von den (mangelnden) Bildungswirkungen von Schule betroffen ist.
Offensichtlich hat sich die Öffentlichkeit daran gewöhnt, zur Kenntnis zu nehmen, dass rund ein Drittel der PflichtschulabgängerInnen als eine „Risikogruppe“ eingeschätzt wird, die Probleme mit den elementaren Kulturtechniken haben: Lapidar heißt es in einem Interview des PISA-Experten Andreas Schleicher: „In Österreich gehört jeder dritte Schüler in zumindest einem Testgebiet in die Gruppe der ‚Risikoschüler‘, die ‚gravierende Mängel‘ aufweisen … Mehr als ein Zehntel der österreichischen Schülerinnen und Schüler sind sogar in allen drei Gebieten in der Risikogruppe.“
Der österreichische Staat gibt alleine für den Pflichtschulbereich rund 6 Mrd. Euro aus. Und doch gelingt es dem Schulsystem nicht, ein Drittel der jungen Menschen trotz Absolvierung von 9 Jahren Schulpflicht mit den Kompetenzen auszustatten, die sie brauchen würden, um ihr Leben in sinnhafter Weise zu gestalten. Bei den meisten von ihnen können wir davon ausgehen, dass sie keinen befriedigenden Zugang zum Arbeitsmarkt finden und – wenn überhaupt – nur in sehr eingeschränkter Weise am öffentlichen Leben teilnehmen werden können.
Im Vergleich dazu mag der Befund, dass sich der Geschlechterunterschied in den Naturwissenschaften einmal mehr verschlechtert hat, vor allem diejenigen, die in den letzten Wochen einmal mehr auf eine vorgeblich „natürliche Rolle der Frau“ verweisen, weniger beunruhigen. Ein Skandal bleibt es allemal.
Alle bisherigen Investitionen für die Katz?
Völlig unverständlich bleibt mir das offensichtliche öffentliche Dreinfinden in den Umstand, dass Kinder von höher gebildeten Eltern noch immer deutlich besser abschneiden als solche von Eltern mit bescheidenen Bildungsabschlüssen. Geht es nach den PISA-Daten dann erreicht der Nachwuchs der ersten Gruppe in allen drei zentralen Bereichen, Lesefähigkeit, Mathematik und Naturwissenschaften, fast 100 Punkte mehr als Kinder von Eltern mit lediglich Pflichtschulabschluss; eine Differenz, die rund zwei Lernjahren entspricht. „Bildungsvererbung“ findet also in großem Umfang ungebrochen statt und das Schulsystem in seiner jetzigen Ausgestaltung wirkt ganz offensichtlich aktiv daran mit, dass das so bleibt, möglicherweise bewirkt es sogar, dass sich die Chancen der Herkunftsbenachteiligten immer weiter verschlechtern.
Der mit der Veröffentlichung von PISA-Daten auf immer neue Weise offenkundig werdende Charakter von Schule als eine machtvolle gesellschaftliche Trennungsinstanz widerspricht jeglicher bildungspolitischer Rhetorik; kein namhafte/r Bildungspolitiker/in weit und breit, der/die sich offen für eine Schule aussprechen wollte, die dazu da wäre, die sozialen Gräben zu vertiefen. Der Befund stellt aber auch alle Bemühungen der letzten Jahre in Frage, Schule als Ganzes zu verbessern: Seit den 1970er Jahren hat sich die Anzahl der Lehrkräfte mehr als verdoppelt (während sich die Anzahl der SchülerInnen zuletzt verringert hat); auch die finanzielle Ausstattung ist überdurchschnittlich gestiegen; das Parlament beschließt fast in Permanenz Novellierungen von schulgesetzlichen Regelungen, die Qualifikation der Lehrkräfte wurde akademisiert und neue Unterrichtsmethoden haben zumindest partiell Einzug in den Schulalltag gefunden. Und doch versagt Schule mehr denn je in der Erfüllung ihrer zentralen bildungspolitischen Aufgabe, Chancengleichheit über die sozialen Barrieren hinweg herzustellen. Dieser Widerspruch scheint – mit Ausnahme einiger unermüdlich Engagierter für eine umfassende Schulreform – niemanden mehr hinter dem Ofen hervorzuholen.
Entzauberung eines Mythos – Wer glaubt heute noch an die gesellschaftsverändernde Rolle von Schule?
Einer der Gründe für die gesellschaftliche Lethargie könnten darin liegen, dass der Glaube an die gesellschaftsverändernde Funktion von Schule weitgehend verloren gegangen ist. Während Schulpolitik in den 1970er Jahren sich noch als ein essentieller Beitrag zu einer umfassenden Gesellschaftsreform verstanden hat (und in der Tat vielen jungen Menschen aus sozial schwachen Milieus ermöglicht hat, in einen privilegierten Mittelstand aufzusteigen), scheint diese Erwartung heute in vielfacher Weise gebrochen. In dem Maß, in dem die sozialen Sicherungssysteme zunehmend gefährdet erscheinen und sich eine zunehmend unversöhnliche Kluft zwischen Arm und Reich auftut, erwartet niemand mehr von Schule, dass sie in der Lage wäre, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. In der neoliberalen Dynamik, die nach Jahren der Verspätung auch Österreich erfasst hat, reduziert sich die Funktion von Schule zunehmend auf die Entdeckung und Förderung einiger weniger individueller Talente, während der zunehmend größere Rest seinem Schicksal überlassen bleibt.
Fast scheint es so, als hätten sie die Verhältnisse umgekehrt: Schule wird nicht mehr als letzte verbleibende soziale Integrationsmaschine angesehen. In der sozialen Realität von heute fungiert sie vielmehr als ein Spiegelbild wachsender sozialer Verungleichung, die immer weniger vor den Schultoren Halt macht und folglich den Schulalltag prägt.
„Rette sich, wer kann!“ lautet folglich die Devise des Konfliktforschers Wilhelm Heitmayer, der sich viele aus dem verunsicherten Mittelstand anschließen, wenn es darum geht, das eigene Kind vor allen Maßnahmen zu schützen, die darauf gerichtet sind, den herrschenden Desintegrationstendenzen entgegenzuwirken. In seinem jüngsten Kommentar „Die Sprache der Schulreform bedarf dringend einer Abrüstung“ macht der vormalige Wiener Stadtschulratspräsident Kurt Scholz noch einmal deutlich, mit welcher brutalen verbalen Härte der Kampf seitens derer, die sich mittels Bildung einen Platz an der Sonne erkämpft haben, gegen ihre potentiellen KonkurrentInnen aus sozial schwachen Milieus geführt wurde und bis heute wird:
„So wurde Schulversuchen zur Integration körperbehinderter Kinder unterstellt, SchülerInnen zu ‚Schulversuchskaninchen‘ zu machen. So wie man hier die Assoziation zu Tierversuchen herstellte, sprach man beim Ausbau ganztägiger Schulformen von Zwangstagsschule und riskierte die Assoziation zur Zwangsarbeit. Die Lehrpläne seien randvoll mit Bildungsmüll, individualpsychologische Schulversuche führten zur Kuschelpädagogik, Schulneubauten seien Lernfabriken, der Taschenrechner ein Bildungsverfall, Schulverbünde Eintopfschulen, und überhaupt sei, so jüngst ein Massenblatt, die Bildungspolitik ein ‚staatlich organisierter Bildungsbetrug‘.“Die WortführerInnen dieser Rhetorik haben in Zeiten wachsender Verrohung kein Problem damit, dass Schule zur Zeit rund 30% aller jungen Menschen entlässt, die nicht oder nur sehr ungenügend dafür gerüstet sind, ihr Leben selbst zu gestalten. Ihr oberstes Ziel beschränkt sich darauf, dass ihre Kinder in der Schule weiterhin ungestört unter sich bleiben können. Unter dem Eindruck obiger Abwertungsversuche jeglicher Schulreform zur besseren sozialen Integration steht nicht zu erwarten, dass diese herkunftsprivilegierte Gruppe freiwillig bereit sein könnte, ihre hegemoniale Position innerhalb des Schulsystems kampflos abzugeben; stattdessen steht zu befürchten, dass sich ohne ein heftiges bildungspolitisches Kräftemessen – das, wie mir scheint, zur Zeit weder politisch gewollt noch von der großen Anzahl an Benachteiligten aktiv unterstützt wird (siehe die aktuellen Reaktionen auf PISA) – Schule nicht mehr in ihre zentrale Rolle als gesellschaftliche Anstalt zur Bearbeitung sozialer Gegensätze zurückfinden wird.
Schule und Politik als kommunizierende Gefäße: Die Zunahme an gesellschaftlicher Dummheit geht einher mit der Zunahme einer Rechtspopulismus-affinen WählerInnenschaft
Neben der systematischen Benachteiligung von immer mehr Menschen durch das System Schule zeichnet sich noch eine weitere, nicht weniger nachteilige Konsequenz ab. Sie besteht in der Vermutung, dass Schule mit der Produktion einer wachsenden Anzahl von „RisikoabsolventInnen“ der Vergrößerung des Reservoirs an Rechtspopulismus-affinen WählerInnen unmittelbar zuarbeitet. So weisen alle Wahlanalysen der jüngsten Zeit darauf hin, dass es vor allem nicht bzw. schlecht ausgebildete Menschen sind, die eine Affinität zu einfachen politischen Lösungen haben. Mit diesen Eigenschaften tragen sie wesentlich zum Erstarken des rechtspopulistischen und rechtsradikalen politischen Lagers bei.
Der deutsche Politikwissenschafter Herwig Münkler ist in einem Interview nicht vor der provokanten These zurückgeschreckt, wonach „große Teile des Volkes dumm“ wären: Man müsse anerkennen, so Münkler, dass es große Teile des Volkes gebe, die aus den Bildungsangeboten herausfallen, in der Sache nicht oder nur sehr wenig informiert sind, die sich auch keine Mühe geben, diese Defizite zu kompensieren und stattdessen glauben, alles besser zu wissen, was der Fall ist. „Also: sie sind dumm."
Das ist eine mehr als gefährliche Aussage: Nicht unzufällig hat der Präsidentschaftskandidat der FPÖ (und heftiger Befürworter des Ausbaus von Angeboten der direkten Demokratie) Norbert Hofer mit dem Einbekenntnis seiner Wahlniederlage gemeint, dass das Volk in einer Demokratie immer Recht habe.
Was er – nicht nur an dieser Stelle – nicht hinzugefügt hat, ist die unhintergehbare Voraussetzung einer entwickelten Demokratie, die zuallererst in der Existenz sie tragender informierter und reflektierter BürgerInnen zu suchen ist. Und hier zeigt sich anhand von PISA, dass Schule immer weniger in der Lage ist, das Gros der jungen Menschen mit hinreichender demokratischer Expertise auszustatten, die notwendig wäre, den aktuellen Verfallserscheinungen repräsentativer politischer Entscheidungsfindung aktiv entgegenzuwirken. Stattdessen entlässt sie ein Heer von Jugendlichen, die keinen tieferen Sinn in einer konstruktiven Weiterentwicklung des demokratischen Systems sehen. Ihr künftiger Lebensweg als „Opfer“ scheint ihnen selbst weitgehend schicksalhaft vorgezeichnet. Dementsprechend groß ihr destruktives Potential, das darauf drängt, sich gleichermaßen gegen sich selbst als gegen den Rest der Gesellschaft zu richten.
Wiederkehr der Politik der Gefühle?
Wenn aber rationale Argumente bei der politischen Entscheidungsfindung gar nicht mehr nachvollzogen werden können (weil dafür die elementaren Bildungsvoraussetzungen fehlen), dann überwiegt der emotionale Zugang, der eine wachsende Anzahl von WählerInnen einfach aus dem Bauch heraus entscheiden lässt. Der österreichische Autor Josef Haslinger hat dafür bereits in den 1980er Jahren den Begriff der „Politik der Gefühle“ geprägt. Damals ging es um Kurt Waldheim als möglichen Bundespräsidenten (auch kein wirkliches Ruhmesblatt der österreichischen politischen Kultur). Heute sind es die Wutbürger, die ihren Gefühlen freien Lauf lassen, weil sie die Realität in ihrer Komplexität schon lange nicht mehr durchschauen und wohl auch gar nicht mehr durchschauen wollen. Da kommt das rechtspopulistische Schüren von Ressentiments wahlweise gegen ZuwanderInnen, Muslime, Eliten, KünstlerInnen oder anderes Gesindel nur recht, wenn es vorrangig darum geht, mit den Widersprüchlichkeiten der je eigenen Gefühle fertigzuwerden. Auf der Strecke bleibt der rationale Diskurs um bestmögliche politische Lösungen.
Mit Kultureller Bildung die Sau rauslassen?
In dem Zusammenhang überkommt mich immer wieder die Sorge über die zwiespältige Funktion Kultureller Bildung. Immerhin ist das ja der Fachbereich, der wie kein anderer vorgibt, in besonderer Weise den ganzen Menschen und damit auch und gerade die Gefühle anzusprechen und ihnen einen sinnlichen Ausdruck zu geben.
Als eine „Schule der Gefühle“ kann Kulturelle Bildung unzweifelhaft viel dazu beitragen, die eigenen Gefühle besser kennenzulernen, einzuordnen und deren Wirkung auf sich und andere besser einschätzen zu können. Als Einladung, sich damit von den Mühen der Entwicklung und Durchsetzung sachlicher Argumente verabschieden und stattdessen auf die Eruptivkraft von Gefühlen setzen zu können, steht sie im Verdacht, an einer umfassenden Emotionalisierung mitzuwirken, die drauf und dran ist, ein „postfaktisches Zeitalter“ einzuläuten.
Die aktuelle Hochkonjunktur der politischen Gefühle könnte sich für den Bereich der Kulturellen Bildung als ein Alarmzeichen erweisen, wenn sich Kulturelle Bildung – in künstlicher Gegenüberstellung zum großen Rest schulischer Bildung – als Alternative zum herrschenden auf rationalen Verkehrsformen fixierten Unterrichtsangebot hochstilisiert wird. Stattdessen ist es in der langen Tradition der Aufklärung gerade der Mix von ratio und emotio, der gute Bildung auszeichnet (einer Bildung übrigens, die in ihrem umfassenden Anspruch der Spezifikation „kulturell“ erst gar nicht mehr bedürfte).
Kulturelle Bildung erscheint heute – zumindest in Österreich – weiter weg denn je, wenn es darum geht, die unterschiedlichen Startchancen junger Menschen in und rund um Schule zu verbessern. Von ihr als möglichem Beitrag zur Lösung der wachsenden sozialen Desintegration in und außerhalb der Schule spricht angesichts der aktuellen PISA-Daten niemand. Das sollte zu denken geben. Immerhin hätte es der Kulturelle Bildungssektor wie kein anderer Fachbereich in der Hand, mit SchülerInnen unterschiedlicher sozialer Herkunft noch einmal gemeinsame Utopien für eine bessere Welt zu entwickeln, mit Kopf, Herz und Hand. Dass sich ihre VertreterInnen dabei – zumindest ein kleines Stück – aus ihrer apolitischen Deckung herauswagen müssten, steht auf einem anderen, von PISA bisher noch nicht erfassten Blatt.
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