Statt einer Weihnachtsgeschichte: Was wir von ungarischen Jugendlichen lernen können
Vor dem letzten Run auf Weihnachten habe ich mir und meiner Familie drei Tage in einem Hotel in der südlichen Steiermark gegönnt. Die Broschüre des Hotels verweist auf 167 Produkte, die als Teile des Frühstücksbuffets angeboten werden. In der Tat haben sich zum Einstieg in den Tag die Tische mit den verschiedensten Köstlichkeiten gebogen und ich habe mich erinnert, wie das war, als ich als kleiner Junge mit meinen Eltern Urlaub gemacht habe und es zum Höchsten der Gefühle gehört hat, von der Wirtin frische Semmeln, Butter und Marmelade, später vielleicht noch ein Stück Wurst und Käse vorgesetzt bekommen zu haben. Die Erinnerung weckt heute geradezu unvermittelbare nostalgische Gefühle, wenn die Gäste mit allen nur denkbaren Gaumenreizungen verwöhnt werden.
Wenn ich mich im Speisesaal umsehe, dann sitzen hier nicht einige auserwählte Nachkommen Ludwig XIV sondern ganz durchschnittliche Menschen. Zu vermuten ist, dass sie allen möglichen Berufen nachgehen, deren Ausübung ihnen vielleicht Sorgen bereiten oder aber Freude macht; er setzt sie jedenfalls in Stand, sich dieses Angebot zu einem überschaubaren Preis zu leisten. Und so repräsentieren sie eine Form der Demokratisierung von materiellem Luxus, den ich mir in meinen Jugendjahren nicht einmal im Traum habe vorstellen können. Geht man ein paar Schritte weiter zur Rezeption, dann liegt dort auch geistige Nahrung auf. Es handelt sich vor allem um die täglichen Boulevard-Blätter, die die Gäste konsumieren können. Darüber hinaus können sie noch einen Blick in die danebenliegende „Bibliothek“ werfen, die im Wesentlichen aus einigen zerlesenen Konsalik-Exemplaren besteht.
Die Tische biegen sich während der Intellekt verhungert
Als unvoreingenommener Beobachter könnte man annehmen, dass mit der Vervielfältigung des kulinarischen Angebotes eine vergleichbare Ausweitung auch des ideellen bzw. intellektuellen Angebotes einhergehen würde. Diese Vermutung steht ja durchaus im Einklang mit – freilich schon etwas in die Jahre gekommenen – kulturpolitischen Konzepten, nach denen Kulturpolitik eine Fortsetzung von Sozialpolitik sein sollte, deren Aufgabe es sei, mit einer sozialpolitisch motivierten Umverteilung materieller Ressourcen eine ebensolche mit immateriellen, damit geistigen oder kulturellen Ressourcen zu bewirken. Im Vergleich zu einem solchen Anspruch ist das Ergebnis ernüchternd wenn wir am eigenen Leib erfahren, dass heute einem durchschnittlichen Leistungsträger einerseits diverseste Köstlichkeiten in unbegrenzter Menge zur Verfügung gestellt werden während er sich andererseits mit einem drögen Einheitsbrei eines medialen Ressentimentsproduktionsbetriebs begnügen soll.
Und niemandem scheint es aufzufallen. Im Gegenteil, gerade die VertreterInnen der Partei, die kulturpolitisch einst aufgebrochen sind, die Menschen mit einer vergleichbaren Vielfalt kultureller Güter auszustatten, erweisen sich heute als die größten Unterstützer eines Boulevards, der wie kein anderes Medium für das Ende eines vielstimmigen öffentlichen Diskurses steht. Er gilt ihnen heute als die letzte verbliebene Stimme des Volkes, die in der Lage wäre, überhaupt noch politische Botschaften an das Elektorat zu vermitteln, während dieses sich am Frühstückstisch delektiert.
Man kann diese Unverhältnismäßigkeit freilich auch als einen Großversuch kollektiver Korrumpierung interpretieren, im Rahmen dessen den Menschen der Mund mit Delikatessen aller Art vollgestopft wird, während sich der Kopf mit sedierendem Gedankenmüll begnügen muss. Und er scheint ja auch irgendwie zu funktionieren, wenn den Menschen dazu in einer Endlosschleife das Lied von der Krise vorgespielt wird, das sie in einem Mix aus diffusen Schuldgefühlen und Verlustängsten davon abhält, sich vom reich gedeckten Frühstückstisch zu erheben und noch einmal „nach etwas ganz anderem“ zu verlangen.
Zum Setting dieses Korrumpierungsangebot gehört freilich auch, dass es sich nicht wirklich „an alle“ richtet. Alle soziologischen Untersuchungen deuten darauf hin, dass mittlerweile ein gutes Drittel der Bevölkerung auf dem Weg durch die krisengeschüttelte Leistungsgesellschaft abgeschüttelt worden ist und dementsprechend keinen Platz mehr am Frühstückstisch findet. Dieses Drittel kommt in der öffentlichen Wahrnehmung (abgesehen von spektakulären Straftaten) gar nicht mehr vor und wird auch von politischen Maßnahmen nicht mehr angesprochen. Am unsichtbaren Rand der Gesellschaft stellt es bestenfalls einen Störfall dar, den es mit wirkungsvollen Sicherheitsmaßnahmen in Grenzen zu halten gilt. Die Gründe, warum die „Nochmehrheit“ von deren Existenz nichts wissen will, liegen auf der Hand: Sie repräsentieren als eine konkrete Drohung genau das, was alle anderen mit zunehmender Gewalt zu vermeiden versuchen: zu „versagen“, abzurutschen, rauszufallen und damit den Boden für die jeweiligen privilegierten Existenzgrundlagen unter den Füßen zu verlieren. Also bleiben wir sitzen – und denken uns weiter nichts dabei.
Partizipatives Theater oder Theater als politische Anstalt heute
Das Hotel befindet sich nur wenige Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt und ist so auch ein beliebter Erholungsort für ungarische Gäste (die sich aus ganz handfesten politischen Gründen einen Aufenthalt in einem solchen Ambiente nicht haben vorstellen können). Ich selbst bin unmittelbar vom Frühstückstisch weg nach Budapest gefahren, um an einer Veranstaltung der Theatergruppe Kretakör zur demokratischen Bildung junger Menschen teilzunehmen. Und mir war als beträte ich eine spiegelverkehrte Welt. Vorneweg: Das Büffet war wesentlich bescheidener. Es bot keine großen Überraschungen. Es ging schlicht darum, satt zu werden. Dafür wurde ich zum Beobachter einer intensiven, Energie geladenen und vielstimmigen Diskussion um Ausgrenzung, Benachteiligung, Tabus und Machtansprüche, wie ich sie in Österreich schon lange nicht mehr miterleben durfte.
Der Hintergrund: Kretakör hat mit seinem Intendanten, Árpad Schilling, vor einigen Jahren einen weitgehenden Bruch mit dem etablierten Theaterbetrieb herbeigeführt. Schilling wollte nicht mehr weiter auf den großen Theaterbühnen als internationaler Regiestar gehypt werden. Stattdessen begann er, sein Konzept einer partizipativen Theaterarbeit zu realisieren, um so den Lebensrealitäten von Menschen, die erst gar keinen Bezug zum professionellen Theaterschaffen herzustellen vermögen, näher zu kommen. Mit seinem alternativen Theaterverständnis geriet die Truppe alsbald in Opposition zu einem ungarischen Herrschaftssystem, das US-Senator McCain zuletzt als „neofastischiste Diktatur, die sich mit Wladimir Putin ins Bett legt“ bezeichnet hat. Die Strafe folgte auf dem Fuß, da Kretakör heute jegliche öffentliche Förderung durch den ungarischen Staat entzogen wird und so in seinem Bestand gefährdet ist.
Auch wenn man nicht gleich mit solch schweren Geschützen wie John McCain auffährt, so deutet doch vieles darauf hin, dass Ungarn dabei ist, sich von seinen demokratischen Errungenschaften sukzessive zu verabschieden und dabei zu einem „ungeheuer bedrückenden Land“ zu werden. Das Herrschaftssystem Viktor Orbáns ist simpel und läuft auf eine Aufspaltung in „Wir“ und die „Anderen“ hinaus. Wer zu den „Wirs“ gehört, bekommt Anerkennung und Unterstützung, wer zu den „anderen“ gehört wird diskriminiert und allenfalls gleich ganz eliminiert. Zu diesem Konzept gehört auch ein primitiver Kunstbegriff, wonach Kunst in erster Linie positiv, erbaulich, jedenfalls nicht kritisch gegenüber dem allgegenwärtigen nationalen Gedanken sein darf.
Ganz offensichtlich wird die Theatergruppe Kretakör heute zu den „Anderen“ gerechnet, die in den Augen der offiziellen ungarischen Kulturpolitik ihr Recht auf Existenz verspielt hat. Die Antwort von Schilling und seinen KollegInnen besteht darin, eben diese „Anderen“ ins Zentrum ihrer Arbeit zu rücken. Dafür wechseln sie schon mal die Seiten, lassen das Theater als Kunstform hinter sich und begleiten junge AktivistInnen bei der Entwicklung ihres sozialen und politischen Engagements. Dazu gehört u.a. das Projekt „Home – Junge Menschen als gesellschaftliche Akteure“, das Dank des Goethe-Instituts realisiert werden kann und eine mehrtägige Begegnung von Jugendlichen aus Budapest, aus Miskolc (der viertgrößten Stadt Ungarns mit einem großen Anteil an Sinti und Roma) und aus Berlin ermöglicht hat. Die TeilnehmerInnen erhielten vielfältige Gelegenheiten, mehr über die Lebensverhältnisse ihrer KollegInnen zu erfahren und ihre (politischen) Schlüsse daraus zu ziehen. Als externer Beobachter hat mich die Energie und die Leidenschaft fasziniert, mit der sich die jungen Menschen in die Diskussion zur Fragen von Gerechtigkeit und Diskriminierung eingebracht haben, ohne – trotz des aktuellen Ausmaßes der Problemstellungen – in Defaitismus, Zynismus oder Resignation abzugleiten.
Was in einem Land gefördert wird, wird im anderen verboten
Es waren vor allem die ungarischen Jugendlichen, deren Lebensverhältnisse sich zum Teil sehr prekär gestalten, die am motiviertesten waren, wenn es darum ging, sich zu positionieren und eine offensive Haltung zur Verbesserung ihrer Situation zu entwickeln. Im Vergleich dazu erwiesen sich die deutschen Jugendlichen als tendenziell zurückhaltender und nachdenklicher im Anspruch, konkrete Veränderungsszenarien zu entwickeln. Die Gründe dazu lieferte u.a. Thomas Krüger von der deutschen Bundeszentrale politischer Bildung, wenn er im Rahmen der Begegnung davon berichtet hat, dass in Deutschland über 2.000 Initiativen gefördert würden, die sich mit politischer Bildung beschäftigen, während in Ungarn gerade die letzten Versuche, politische Bildung auf der Agenda zu halten, eliminiert werden. In dem Zusammenhang berichteten die ungarischen KollegInnen auch von jüngsten bildungspolitischen Maßnahmen, die zu einer weiteren Zentralisierung (und damit zentralen Kontrolle) der ungarischen Schulen geführt hätten, um politisch sicher zu stellen, dass der Unterricht ausschließlich regierungskonformen Vorgaben entspricht.
Vor allem die politisch bewussten ungarischen Jugendlichen wurden in ihrer Haltung bestätigt, dass ihre einzige Chance im klugen Aufbegehren gegenüber einem zunehmend repressiven Kurs des Regimes Orban liegt (auch wenn dieses von anderen Beobachtern angesichts einer grassierenden Konformität der ungarischen Jugendlichen als „Tropfen auf einem heißen Stein“ interpretiert wurde). Im Vergleich dazu stellen sich die Umstände für die deutschen Jugendlichen als scheinbar völlig anders dar: Ihnen suggerieren Einrichtungen wie die Bundeszentrale politischer Bildung das Bemühen des Staates, einer schleichenden Demokratiemüdigkeit vor allem unter Jugendlichen entgegen wirken zu wollen. Dies betrifft insbesondere das schon angesprochene abgehängte Drittel der Bevölkerung, das PolitikerInnen jedweder Couleur nicht mehr als Partner erkennt und stattdessen glaubt, sich auf das Urteil der jeweiligen Peers ihrer Gruppe verlassen zu können.
Für eine Kulturpolitik, deren Kraft aus der Leidenschaft erwächst
Vieles spricht dafür, dass die teilnehmenden Jugendlichen gestärkt von diesem Treffen nach Hause gefahren sind. Jedenfalls konnten sie sich mit vielfältiger intellektueller Nahrung stärken, die es ihnen leichter machen sollte, den zum Teil sehr widrigen Umständen, die sie erwarten, stand zu halten. Dass sie dabei von Theaterleuten begleitet wurden, hat möglicher Weise nicht dazu geführt, dass sie jetzt besser über Theater Bescheid wissen. Dank der Interventionen von Kretakör aber haben sie etwas von der Leidenschaft mitbekommen, wenn es darum geht, ein ideelles Ziel auch gegen Widerstand zu verfolgen und sich daran zu erheben. Das miterleben zu dürfen – ich gebe es zu – hat mir mehr Kraft gegeben als das üppigste Buffet.
Und Kräfte werden wir brauchen. Die Weigerung auch nur zur Kenntnis zu nehmen, welcher umfassende Transformationsprozess in Richtung einer „illiberalen Demokratie“, unmittelbar an den Grenzen Österreichs, da vor sich geht, ist auch ein Ergebnis einer grassierenden kleinbürgerlichen Attitüde zur Aufrechterhaltung eines materiellen Wohlstands um jeden Preis, der kein kulturelles bzw. intellektuelles Äquivalent gegenüber steht. Immerhin ist es nicht ganz ausgeschlossen, dass sich Ungarn in Zukunft nicht mehr auf das Klischeebild eines Schlaraffenlandes für billige Zahnregulierungen, Pediküren, Frisuren und Fressgelage reduzieren lässt, sondern als Prototyp eines auf andere Länder überschwappenden Politikmodells, in dem uns wesentlich mehr genommen wird als der einfache Zugriff auf materielle Güter.
Es gäbe also gute Gründe, den 167 Produkten zum Frühstück auch ein gleichwertiges intellektuelles
Angebot beizugeben. Die Jugendlichen von Miskolc haben den Beweis erbracht, dass man daraus Lebendigkeit, Sinn und Perspektive generieren kann. Folgte man ihnen in ihrem Willen zur Veränderung, dann hat es noch nie so einen guten Grund für viele neue Produkte auch und gerade der Kulturpolitik gegeben. Aber das wäre schon fast ein Neujahrswunsch.
Das kommende Weihnachtsfest ist eine gute Gelegenheit, uns für Ihre Treue als LeserInnen zu bedanken. Dazu wünsche ich Ihnen etwas von der Energie, die ich von den Jugendlichen in Budapest mitbekommen habe. Hier dabei sein zu können macht Sinn, auch wenn das Allermeiste noch zu tun ist.
BIldnachweis: © Jay Vice, Buffet Surpreme flickr.com/photos/jakiepic
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