„Stell Dir vor, es gibt Kulturpolitik und keiner geht hin“
Da saßen wir also vor ein paar Tagen zu viert zusammen, um nachzufragen, wie es um die die europäische Kulturpolitik bestellt ist. Das Depot hatte den Autor Doron Rabinovici, den Geschäftsführer der European Cultural Foundation André Wilkens und mich eingeladen, uns über die aktuelle kulturelle Verfasstheit Europas auszutauschen. Als Moderatorin konnten die Veranstalter die Historikerin Heidemarie Uhl gewinnen, die bereits vor 16 Jahren eine Podiumsdiskussion zum selben Thema geleitet hatte. Unsere Aufgabe sollte es u.a. sein, deutlich zu machen, was sich in der Zwischenzeit geändert hat. Wer nicht kam, das war das Publikum. Offenbar hatte sich von der Ankündigung niemand angesprochen gefühlt. Also richteten sich unsere acht Augen vorerst auf den Eingang, ob nicht doch jemand den Weg in das Diskurszentrum finden würde. Großes Aufatmen, als schließlich ein Besucher samt Aktentasche den Raum betrat und wir uns in Witzeleien ergingen, ab welcher Besucherzahl eine Veranstaltung regulär stattzufinden hätte. Vorweggenommen, wir haben für in der Folge auch mit dem Besucherdiskutiert, sehr anregend sogar; es wurde eine Art Privatissimum, aus dem die Referent*innen und hoffentlich auch der, für den die Veranstaltung gedacht war, angeregt herausgegangen sind. Jetzt kann man lange darüber diskutieren, was Menschen abgehalten hat, eine solche Veranstaltung zu besuchen. Die Diskutant*innen werden es hoffentlich nicht gewesen sein: Immerhin wurde André Wilkens, der kulturpolitisch vielfältig tätig war, eigens aus Amsterdam eingeflogen und auch von Doron Rabinovici und Heidemarie Uhl weiß ich, dass sie in anderen Zusammenhängen durchaus auf Publikumsinteresse stoßen. Also bleiben die üblichen Verdachtsmomente: Regen, Programmdichte, Parallelveranstaltungen, vielleicht auch mangelnde Öffentlichkeitsarbeit.
Gibt es überhaupt noch jemand, der über Kulturpolitik sprechen will?
Meine Vermutung aber geht dahin, dass sich hier ein grundsätzlicheres Problem zeigt. Immerhin könnte es sein, dass sich in dieser Form der Besuchsverweigerung ein tiefergehendes Desinteresse an Fragen der Kulturpolitik im Allgemeinen und europäische Kulturpolitik im Besonderen ausdrückt. Dann wäre es die Irrelevanz des Themas, das selbst die Akteure des Kulturbetriebs nicht mehr hinter dem Ofen hervorholt, geschweige denn Menschen, die Kultur gelegentlich konsumieren. Falsch, mag der Leser/die Leserin einwenden: Knapp vor den Wahlen gab es doch im Depot eine kulturpolitische Diskussionsveranstaltung, an dem –bis auf die freiheitlichen –alle Kultursprecher*innen der wahlwerbenden Parteien teilgenommen haben und zu der die Massen geströmt sind. Auffallend aber war, dass die politische Dimension dessen, worum es gehen sollte, bereits damals kaum der Rede wert erschien. Die Besucher*innen interessierte vor allem, mit welchen Versprechen in Sachen Förderung und allenfalls noch in Sachen Verbesserung der sozialen Lage der Kulturschaffenden die Wahlwerber*innen auftreten würden. Grundtenor: Kulturpolitiker*innen sollen die notwendigen Mittel zur Verfügung stellen und uns ansonsten in Ruhe lassen. Ihnen nimmt ohnehin niemand mehr ihre gesellschaftspolitischen Ambitionen ab.
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