
Stummheit und Mitwirkung – Wie auf Persönlichkeitsentwicklung abzielende Bildung dem traditionellen Kulturbetrieb den Boden unter den Füssen wegziehen könnte.
Als Agnostiker ist mir bewusst, welch anhaltend großen Einfluss die katholische Kirche auf unser Zusammenleben hat. Um mich daran zu erinnern, besuchte ich in Stift Geras den Gottesdienst in der Osternacht. Ich gebe zu, ein wenig kam ich mir wie ein Voyeur vor, der an einem Ritual teilnimmt, bei dem nicht nur die Aufforderung zur Anbetung „der heiligen Wunden Christi, die leuchten in Herrlichkeit“ Befremden ausgelöst hat.
Jetzt markiert Ostern, als das höchste Fest im Kirchenjahr, den Beginn einer Freudenzeit, die allen Gläubigen die Überwindung des Todes (wenn auch in einem besseren Jenseits) augenscheinlich machen will. Dieser Freude aktiv Ausdruck geben aber durfte nur der amtshandelnde Priester, der in der Stiftskirche Geras bis an die Grenzen seiner schauspielerischen und gesanglichen Möglichkeiten ging. Das anwesende Kirchenvolk war hingegen bis auf Litanei-artige Wiederholungen von „Wir bitten Dich, erhöre uns“ auf eine weitgehend stumme Rolle festgelegt. Es erduldete – jedenfalls nach meinem Eindruck – den mehrstündigen Verlauf der Messe, mehr als es an ihm aktiv mitwirkte. Da feierte also einer für alle diejenigen, die ihm dabei zusahen.
Derart sensibilisiert besuchte ich wenige Tage später die säkularisierte Form des Gottesdienstes, ein klassisches Konzert. Und es stellte sich ein ganz ähnlicher Eindruck ein, wenn in diesem Fall nicht Priester sondern MusikerInnen den Part des aktiven Gestaltens übernahmen, während das Publikum gekommen war, das Dargebotene passiv wahrzunehmen. In dieser traditionellen Rollenaufteilung haben die BesucherInnen gelernt, sich bis auf den Schlussapplaus ruhig zu verhalten, um das, um was es geht – in diesem Fall die Musik – zur gewünschten Wirkung kommen zu lassen.
Stillhalten will gelernt sein
Jetzt ist diese Fähigkeit zum Stillhalten dem Menschen nicht in die Wiege gelegt. Sie muss, gegen eine Reihe durchaus kreatürlicher Widerstände als eine besondere Kulturleistung gelernt, mehr noch, derart verinnerlicht werden, dass damit verbundene Zwänge als solche gar nicht mehr wahrgenommen werden. Nur auf diese Weise sind Menschen sogar bereit, für die freiwillige Zurücknahme ihrer ganzkörperlichen Bedürfnisse zu bezahlen, in der Hoffnung, genießen zu können, wofür sie gekommen sind: Kunst als Religionsersatz.
Jetzt gibt es einzelne MusikerInnen, die beginnen, diese traditionelle Rollenverteilung zu unterlaufen und auch dem klassischen Konzertpublikum zumindest in rudimentärer Weise eine aktive Rolle zuzuweisen. So trifft Bobby McFerrin die Lust des Publikums, etwas gemeinsam zu machen, auch wenn sich dieses noch auf die Einladung zum Nachsingen einzelner Töne einer pentatonischen Tonleiter beschränkt. Geht es nach den enthusiasmierten Reaktionen, dann beginnt sich hier ein Publikum (mit-)gestalterisch zu emanzipieren.
Der Bildungstheoretiker Max Fuchs hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Kultur und Bildung als zwei Seiten einer Medaille anzusehen wären. In der Aussage liegt möglicher Weise der Schlüssel zur Erklärung des anhaltenden Selbstverständnisses eines stummen Konzertpublikums, das seine Entsprechung in der hierarchischen Organisation der traditionellen Schule des 19. (und wohl auch noch in weiten Teilen des 20.) Jahrhunderts findet. Auch hier ging es um das Erlernen einer weitgehend stummen Rolle angesichts der Performance einer Lehrkraft, der kraft ihres Amtes die einzige aktiv gestaltende Rolle zukam.
Bildung auf der Suche nach der Realisierung eines neuen Menschenbildes
Die Hintergrundfolie dafür bildet ganz offensichtlich ein an breite Bevölkerungsschichten vermitteltes Menschenbild, das sich an Vorgaben wie Gehorsamkeit, Ergebenheit und Nützlichkeit orientieren sollte. Bereits zu Beginn der allgemeinen Schulpflicht definierte der sonst so aufklärerisch denkende Joseph II Schule als eine „Maschine“, deren erste Aufgabe es wäre, „disziplinierte und funktionstüchtige Untertanen“ hervorzubringen, die in der Lage wären, sich unter den herrschenden Gegebenheiten nützlich zu erweisen. Als solche wurden sie für mittlere und höhere Bildung als ungeeignet angesehen. Diese sollte einer kleinen Elite in Vorbereitung auf deren Zukunft als „tüchtige Staatsdiener“ vorbehalten bleiben. Michel Foucault, dessen Lektüre zuletzt etwas aus der Mode gekommen ist, hat sich vor allem in seiner Studie „Überwachen und Strafen“ mit der Internalisierung damit verbundener Wertvorstellungen beschäftigt, die sich in der Institutionalisierung dafür am besten geeignet erscheinender Settings (wie in der traditionellen Schulklasse) niederschlägt und in unser aller Köpfe – so meine Vermutung – bis heute weiter wirkt.
Damit aber wächst in mir die Vermutung, die Stummheit des Kirchenvolkes oder des Konzertpublikums ist nicht in einem Fall der Erinnerung an den Opfertod Jesu und im anderen Fall der andächtigen Wertschätzung eines Werkes eines österreichischen Komponisten geschult (das vielleicht auch), sondern einer von Schulbeginn an eingeübten Haltung, die die einige wenige agierend macht und die vielen anderen schweigend.
Auffallend ist nun, dass sich eine den demokratischen Grundsätzen verpflichtete Bildungspolitik seit zumindest hundert Jahren bemüht, diese Formen schulischer Prägung zu überwinden und an dessen Stelle ein Menschenbild zu setzen, das die Entwicklung einer umfassenden und damit (mit-)gestaltungsfähigen Persönlichkeitsbildung zum Ziel hat. Die Verkehrsformen in vielen Klassenzimmern erinnern daran, wie nachhaltig wirksam Beharrungskräfte sein können, deren Interessen stark genug sind, die Erinnerung an die von Foucault beschriebene Internalisierung ungleicher Verhaltensformen institutionell lebendig zu halten.
Und doch genügt ein Blick in ein durchschnittliches Klassenzimmer einer öffentlichen Schule, die sich die Erziehung zu Selbstständigkeit, Eigenverantwortlichkeit oder Mitgestaltung auf die Fahnen geschrieben hat, welche Änderungen Schule zur Zeit durchläuft. Klassenzimmer sehen rein äußerlich anders aus, als noch vor 30 Jahren. Aber auch die SchülerInnen und LehrerInnen verhalten sich anders, wenn sie versuchen, eine neue Lehr- und Lernkultur mit Leben zu erfüllen. Unterstützt werden sie darin von vielfältigen Änderungen der Rahmenbedingungen, die darauf angelegt sind, Joseph II mit hundertjähriger Verspätung hinter sich zu lassen. Diese reichen von der Neudefinition staatlicher Lernziele bis hin zu einer zeitgemäßen LehrerInnenausbildung, die diese auf neue Rollen und im Rahmen der Organisation, gemeinsam mit den SchülerInnen gestalteter Lehr- und Lernprozesse festlegen.
Die Arbeitswelt gibt einmal mehr die Richtung vor
Eine der wesentlichen Triebkräfte für diese Entwicklungen im Bildungsbereich liegt in den geänderten Anforderungen der Arbeitswelt. Während die industrielle Produktionsweise das Menschenbild des widerspruchslosen Befehlsempfängers aufrecht hielt, der sich gezwungen sah, bestimmte Anteile seiner Persönlichkeit am Arbeitsmarkt zu verkaufen, so erweisen sich moderne Arbeitsformen zunehmend so komplex, als dass sie noch von Arbeitskräften alten Typs aufrecht erhalten werden könnten. Statt dessen gefragt sind „KoproduzentInnen“, die in der Lage sind, sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit in die laufenden, sich permanent ändernden Verfahren einzubringen und diese aktiv mitzugestalten. Entsprechend flexibel gestaltet sind die Arbeitssettings, in denen vor allem Einfühlungs- und Problemlösungskompetenzen zählen, die die Voraussetzungen bilden für die Nutzung der kreativen und innovativen Potentiale der MitarbeiterInnen zur dynamischen Mitgestaltung der laufenden Arbeitsprozesse.
Gehen die geänderten Anforderungsprofile ausgerechnet am Kulturbetrieb vorbei?
Zurück zum klassischen Konzert. Da fällt zu aller erst auf, dass – im Unterschied zum Klassenzimmer – das Setting suggeriert, als hätte seit dessen Entstehungszeit der angedeutete grundlegende gesellschaftliche Transformationsprozess nicht stattgefunden. Geht es nach dem äußeren Schein, dann setzt die Organisation des klassischen Konzerts ungebrochen auf den Absolventen einer traditionell obrigkeitlichen Schule, in der der/die Lehrer/in spricht und die SchülerInnen schweigen. Wenn diese aber heute in der Schule nicht mehr auf die stumme Wahrnehmung vorbereitet werden, sondern auf aktive Mitgestaltungen ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse, warum soll diese Einladung dann ausgerechnet im Kulturbereich (deren VertreterInnen sich immer wieder gerne als Avantgarde, zumindest als Seismographen gesellschaftlicher Entwicklungen apostrophieren lassen) nicht gelten. Warum sollen sie ausgerechnet dort noch einmal auf eine Haltung zurückgeworfen werden, die sie andernorts gelernt haben, um alle möglichen inneren und äußeren Widrigkeiten zu überwinden.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr vermute ich, dass in der Beantwortung dieser Frage der Schlüssel zum aktuell grassierenden kulturpolitischen Anspruch auf „Access to Culture“ liegt. Immerhin wird damit ein fundamentaler Widerspruch wachsender Ungleichzeitigkeit angesprochen, der schlicht darauf hinausläuft, dass Bildung, die sich einem aktiv mitgestaltenden Menschenbild verpflichtet weiß, immer weniger auf das traditionelle Kulturangebot vorzubereiten vermag. In dem Maße, in dem Menschen über die dafür notwendigen Prädispositionen nicht mehr verfügen, gelingt es auch noch so guten Formen der „Vermittlung“ nicht mehr, um diese Kluft zwischen Angebot und Nachfrage zu überwinden. Und Bobby McFerrins Versuche, Mitwirkung zu organisieren, bleiben so eine nette historische Anekdote, die freilich das grundsätzliche Problem der „Mitwirkung“ eines ebenso gestaltungswilligen wie gestaltungserprobten Publikums nicht zu lösen vermag.
Entwicklung zwischen massenhafter Partizipation und umfassender Verbeliebigung
Auf der Suche nach diesbezüglicher Orientierung bin ich auf zwei sehr gegensätzliche Aussagen gestoßen, die möglicher Weise den Grundwiderspruch beschreiben, in dem wir uns befinden. Da ist zum einen die Analyse des deutschen Psychologen und Unternehmensberaters Peter Kruse der mit der Allgegenwart des Internet eine gesellschaftliche Revolution zugunsten neuer Mitwirkungsformen heraufdämmern sieht. Mit ihr eröffneten sich im Prinzip allen Menschen bislang ungeahnte Partizipationschancen. Entsprechend würden überkommene Hierarchien zwischen wenigen „Aktivisten“ und den vielen „Passivisten“ gestürzt, weil sie in ihren traditionellen Rollen immer weniger in der Lage wären, das gesellschaftliche Gefüge zu beeinflussen.
Dem fundamental entgegengesetzt stehen die Überlegungen des Architekten Markus Miessen, der in seinem Band Albtraum Partizipation naiven Vorstellungen einer aktiven Beteiligung aller an allen Entscheidungen eine vehemente Absage erteilt. Statt dessen setzt er ungebrochen auf die Unverzichtbarkeit eines von einzelnen ExpertInnen mühsam erworbenen und repräsentierten Wissens, das es in seiner Wirksamkeit – auch und gerade in demokratisch verfassten Gesellschaften – vor Beschädigung durch noch so viele anonyme Mausklicks zu verteidigen gälte.
Übertragen auf den Konzertsaal steht damit ein hochelaboriertes Wissen und damit verbundene Fähigkeiten einzelner KünstlerInnen dem wachsenden Mitgestaltungsanspruch von Menschen, deren zufälliges Zusammentreffen sich immer weniger auf die Zuschreibung eines stummen Publikums reduzieren lässt, gegenüber.
Die Zukunft wird zeigen, ob im Zuge der Realisierung eines neuen Menschenbildes durch Bildung das klassische Kulturgut, mangels Fortbestands einer genügenden Anzahl passiver RezipientInnen, zunehmend den Charakter musealer Artefakte für einige wenige verbleibende ExpertInnen annehmen wird. Oder ob es gelingt, neue Verkehrsformen in Gang zu setzen, die eine neue Qualität des Zusammenwirkens – zwischen ehemaligen Wissens- und GestaltungsmonopolistInnen und dem großen Rest der Bevölkerung, der nicht mehr zum mehr oder weniger andächtig staunenden Schweigen gebracht werden kann und will – zum Ausdruck zu bringen vermag.
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