
Tot, einfach nur tot – Versuch über die Endlichkeit als kulturellen Wert
150 Menschen sterben in einem Flugzeugunglück unter Umständen, die bislang niemand für möglich gehalten hat. Es trifft Junge, Alte, Gebildete, Einfältige, Reiche, Gruppen, Paare, Alleinstehende, Arme, Kreative, Sicherheitsbedürftige, Lustige, Traurige, Gläubige, Ungläubige gleichermaßen unverdient. Sie alle haben, ungeachtet ihrer individuellen Eigenschaften, das Ende ihres Lebens erlebt. Ihre unterschiedlichen Charakteristika haben ihnen nicht geholfen, dem Tod zu entkommen (allenfalls sind sie im Angesicht dessen, was da auf sie zugekommen ist, unterschiedlich damit umgegangen).
Wir empfinden dieses Ende als einen Skandal, als ungerecht, schrecklich, ja unfassbar. Und doch kommen wir um den Umstand nicht herum, dass auch unser Leben früher oder später zu Ende gehen wird; die Begleitumstände mögen weniger grausam sein; der Skandal der Endlichkeit bleibt und trifft die einen so und die anderen so, aber er trifft.
Die Osterfeiertage halten zumindest für die Gläubigen der christlichen Religionen nach den Widrigkeiten des Diesseits den Mythos der Auferstehung in ein besseres Jenseits bereit. Das damit verbundene Versprechen auf ein Weiterleben zielt darauf ab, den Schrecken vor dem sicheren Ende in dieser Welt, wie immer es sich gestalten wird, zu nehmen. In unserer kulturellen Verfassung gehört Jesus zu den wenigen, die es bisher geschafft haben, den Wechsel zwischen den verschiedenen Welten zu vollziehen. Unbefleckte Empfängnis zu Beginn, Märtyrertod samt Aufstieg in den Himmel am Ende, sollen Zeugnis dafür ablegen, dass diese andere Welt wirklich existiert, jedenfalls für alle, die diesen religiösen Erzählungen einen realen Gehalt zuschreiben.
….aber der Hund wollte nicht
Es gibt auch noch eine weniger jenseitige Variante. Davon erzählt der Schweizer Autor Thomas Hürlimann in der Wochenzeitschrift Die Zeit (Ausgabe 13/2015) vom 26. März 2015 in seiner kurzen Geschichte seiner eigenen, durchaus irdischen, weil medizinischen Auferweckung nach einem Schlaganfall. Er erinnert darin an die Erweckung des toten Lazarus. Obwohl dessen Schwester Martha Jesus mit den Worten: „Er riecht schon“ davor gewarnt hätte, habe dieser befohlen, das Grab nochmals zu öffnen, um dann „mit lauter Stimme zu schreien: „Lazarus, hierher, heraus!“ Und der bereits verwesende Leichnam folgte Jesu Befehl und betrat nochmals diese Welt. Es gibt Interpretationen, wonach Lazarus der Forderung nur sehr widerwillig nachgekommen sei. Immerhin habe ihn Jesus mit seinem barschen Zuruf wie einen Hund behandelt: Aber der Hund wollte nicht.
Während Jesus in seiner Eigenschaft als Gottessohn in Menschengestalt nach seiner Pendelmission weiterhin einen prominenten Platz in den christlichen Narrativen einnimmt, verschwand Lazarus als irdischer Wiedergänger weitgehend von der religiösen Bildfläche. Er wurde zwar heiliggesprochen, freilich ohne über – diese Entscheidung begründende – besondere Eigenschaften zu verfügen. Darüber hinaus musste er sich mit der Rolle des Namensgebers von mittelalterlichen Lazarus-Spielen zufrieden geben, in dem Hinterbliebene zu Tisch solange weinend zusammengesessen sind, bis Musik zumindest die Bühnenfigur des Verstorbenen reanimierte und so das Trauermahl in ein Freudenfest verwandelt werden konnte. Und so fragt Hürlimann angesichts Lazarus‘ Unscheinbarkeit: „Wo mag er heute sein?“ und darüber hinaus: „Wie hält er seine eigene Endlosigkeit eigentlich aus?“.
Am Beispiel des Lazarus von Bethanien könnten schon Zweifel aufkommen, ob es überhaupt eine Wunschvorstellung sein kann, das einmal begonnene Leben (mit all den damit verbundenen Konsequenzen?) bis in alle Ewigkeit fortzusetzen. Stattdessen könnte es schon Sinn machen, dass irgendwann Schluss ist; zumal das Schicksal des Lazarus, auf ewig irgendwo in dieser Welt herumzuirren – selbst wenn es gottgewollt ist – schlicht nicht zu ertragen ist.
Brauchen wir eine Kultur der Unsterblichkeitsproduktion?
Zur Beantwortung dieser Fragen hat der Ägyptologe Jan Assmann ein kulturtheoretisches Konzept des Todes parat, im Rahmen dessen er so etwas wie eine anthropologische Grundkonstante konstituiert, wonach der Mensch nicht ohne den Versuch, einen Raum und eine Zeit zu schaffen, in denen er über seinen begrenzten Lebenshorizont hinausdenken und seine Linien des Handels, Erfahrens und Planens ausziehen kann leben kann. Daraus erwächst ihm ein Kulturbegriff, der zwar um den Tod und die eigene Sterblichkeit weiß, dieses Wissen aber mithilfe von Phantasmen der Unsterblichkeit oder zumindest einer gewissen Fortdauer über unser allzu kurzes Erdendasein zu konterkarieren muss, weil ansonsten der Mensch erst gar nicht in der Lage wäre zu leben und sein Handeln nicht als sinnvoll erfahren könne.
Es ist wahrscheinlich mehr als kühn, gegenüber einer Fachautorität wie Assmann einen Gegenentwurf entwickeln zu wollen. Weil ich aber dieser Idee der Unsterblichkeit (als kulturelles Versprechen) so gar nichts abgewinnen kann, lohnte es vielleicht doch, für sich ein Leben zu beanspruchen, dessen Qualität darin liegt, dem Hier und Jetzt auf immer neue Weise Sinn abzugewinnen – und es damit gut sein zu lassen. Das hat seinen Preis. Immerhin ist es im Rahmen dieses Konzeptes nicht möglich, den Tod mit Hilfe eines herbeigedachten Fortlebens, sei es hierorts oder jenseits, zu relativieren sondern ihn als das zu nehmen, was er ist. Als ein gültiges Ende – jedenfalls insofern, als darüber hinaus nichts gesagt, gedacht oder gefühlt werden kann – das es gilt, in die Endlichkeit des eigenen Lebens (so lange es eben dauert) zu integrieren. Im Umkehrschluss zu Assmann: Ein sinnvolles Leben ist nur dann möglich, wenn es um seinen Anfang und sein Ende weiß und sich danach ausrichtet
Wie oft denken wir jeden Tag an den eigenen Tod?
Während es offenbar eine beliebte Forschungsfrage ist, wie oft Männer im Gegensatz zu Frauen pro Tag an Sex denken würden, sind mir vergleichbare Studien zum Thema Tod nicht bekannt. Ungeachtet des Umstandes, dass die mediale Berichterstattung übergeht an Meldungen über tödliche Katastrophen, Anschläge, Kriegshandlungen oder Massenunfällen, steht viel für die Vermutung, dass die „Anwendung“ auf das eigene Leben mehr denn je vermieden wird. Es sind immer die anderen, die es trifft. Und wir bleiben mit der Angstlust zurück, dass es uns – zumindest diesmal – nicht getroffen hat. Statt dessen finden wir uns wieder als Teil einer medial vermittelten Emotionalisierung , die als unhinterfragte Vermeidungsstrategie seine Wirkung entfalten kann, wenn es darum geht, sich gerade nicht mit den Konsequenzen für das eigene Leben auseinander zu setzen.
Der Bezug, der sich in diesem Zusammenhang für kulturelle Bildung ergibt, fragt ganz einfach danach, wie sie es mit dem Tod hält. Vielen ist es ja wahrscheinlich eine Zumutung, mit jungen Menschen, von denen die meisten noch ein ganzes Leben vor sich haben, ausgerechnet das Thema Tod zu verhandeln (und das möglichst ganzheitlich). Und doch entscheidet eine frühe Einübung in die eigene Endlichkeit darüber, ob es später gelingt, den Tod als die einzige Sicherheit ins eigene Leben zu integrieren.
Kultur als Fähigkeit, dem Wert der Endlichkeit in einem Reservoir der Unendlichkeit einen Sinn abzugewinnen
Kulturelle Bildung soll neugierig machen, mithelfen, die Welt mit allen Sinnen wahrzunehmen, den Gestaltungswillen zu befördern. Das funktioniert nur, wenn wir in der Lage sind, die Welt als unendliches Erfahrungsreservoir begreifen, in dem wir uns auf Grund unserer sinnlichen Begrenztheit das eine oder andere Puzzlestück herauspicken und zu einem Konstrukt des Möglichkeitssinns zusammenfügen. Wollen wir vermeiden, dass das Wissen um die prinzipielle Unmöglichkeit, die Welt als Ganzes wahrzunehmen, zuallererst als eine narzistische Kränkung wahrgenommen wird, fände sich mit kultureller Bildung ein ideales Spielfeld, diese menschliche Unvollständigkeit als einen Auftrag zu interpretieren, sich die Welt mit den eigenen endlichen Mitteln auf immer neue Weise nach je eigenem Vermögen zu gestalten. Im Gegensatz dazu stünde die Kultivierung von Allmachtsphantasien, sie suggerieren, trotz der eigenen Endlichkeit das Ganze erfahren zu können, nicht in den Widrigkeiten des Heutigen, sondern in der Eigenschaftslosigkeit eines ewigen Morgen.
Die kulturelle Leistung solcher Bildungsbemühungen bestünde darin, einen besonderen Wert in einem diesseitigen Leben mit all seinen Unwägbarkeiten zu erkennen, sich diesen zu stellen und auszusetzen. Gerade mit Hilfe des Mediums Kunst haben wir ein hervorragendes Vehikel, uns in einen Abenteuerspielplatz des Lebens zu begeben, in dem dem menschlichen Gestaltungswillen (fast) keine Grenzen gesetzt sind. Es bleibt eine einzige Sicherheit, die darin liegt, dass es einmal zu Ende gehen wird.
Was wir uns mit einer Integration des Todes ins Leben ersparen würden, zeigen die gegenwärtigen Grausamkeiten, die auf dem Willen gründen, die menschliche Endlichkeit zu vermeiden und durch ein wie immer ausgeschmücktes Jenseits, in der diese Endlichkeit außer Kraft gesetzt erscheint, zu ersetzen. Das Ergebnis ist eine paradoxe Todessehnsucht, im Rahmen dessen der – manchmal sogar freiwillige und vorzeitige- Tod als notwendige Durchgangsstation interpretiert wird, um dorthin zu gelangen, wo die Kräfte der Endlichkeit überwunden erscheinen. Zurück bleibt die Verachtung für eine Welt, die es nicht schafft, den Tod so ins Leben zu integrieren und in der wir nicht in der Lage sind, die Hoffnungen auf ein ewiges Leben zu Ende gedacht als das zu erkennen, was es ist, als eine unlebbare Horrorvision. Immerhin ist da weit und breit keiner mehr, der uns erzählen wollte, ob da drüben einer ist,der da riefe: „Lazarus, hierher, heraus!“ Und wir uns allenfalls auch dort wie ein Hund fühlen müssten.
Setzt Unsterblichkeit Eigenschaftslosigkeit voraus?
Thomas von Aquin schrieb den Eigenschaftlosen die Eigenschaft zu, die Auferstehung von den Toten vorweggenommen zu haben. Wenn ich das richtig interpretiere, dann hieße das, dass Menschen mit einem schwachen Charakterprofil der Auferstehung gar nicht mehr bedürften. Man könnte die Aussage aber auch so deuten, dass selbst im Rahmen der christlichen Mythologie das ewige Leben nur um den Preis des Verlustes von Eigenschaften zu haben ist.
Das klingt nicht sehr attraktiv, gerade in Zeiten der Individualisierungseuphorie. Erleichterung mag es denjenigen schaffen, die sich mit ihren, notwendig unvollkommenen Eigenschaften zunehmend allein einer Welt gegenübersehen, die in all ihrer Unübersichtlichkeit schwer auf ihnen lastet. Die Alternative – geht es jedenfalls nach Thomas von Aquin – ähnlich unerfreulich, wenn wenig dafür spricht, dass nach einer Vollamputation unserer Eigenschaften noch viel von uns übrig bliebe, was den Begriff Leben rechtfertigen würde (vielleicht war das ja der eigentliche Grund für Lazarus Zurückhaltung bei seiner oktroyierten Auferstehung, die ihn als Eigenschaftslosen bis auf weiteres in der religiösen Geschichte herumirren lässt). Angesicht dessen lohnt da vielleicht doch noch einmal der Versuch, einem endlichen Leben den Sinn abzuringen, der unseren Anstrengungen, mit unseren Unzulänglichkeiten in einem unauslotbaren Diesseits zurande zu kommen, entspricht. Und es damit genug sein lassen.
Über das Leben, das keines ist ohne das Wissen um sein Ende
Von Erich Fried gibt es das Gedicht „Es ist was es ist sagt die Liebe“. In einer Umdeutung der Karfreitagsliturgie versuche ich eine Assoziation: „Es ist was es ist sagt der Tod“ und interpretiere diese als eine Ermutigung zu einem bewußten Leben, das zu genießen nur möglich ist, wenn es sein Ende miteinschließt.
Bildnachweis: Bazon Brock©l a b e t e / Flickr.com (geänderte Version)
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