Über den Gewinn von Kontroversen und den Verlust von Kostbarkeit
Vorab eine ebenso persönliche wie überraschende Wahrnehmung: Ich sitze als Zuhörer im Forum „Digitale Kulturvermittlung“. An der Stirnfront des Arbeitsraums hängt ein dekoratives Kunstobjekt, vielleicht zweimal zwei Meter groß. Davor ein Panel aus drei Vermittlerinnen, die anhand ihrer Arbeitspraxis die Entwicklungstrends der aktuellen Digitalisierung anhand ihres Berufsfeldes diskutieren. Eine von ihnen verdeckt einen Teil des Kunstobjekts. Vor ihr eine Menge technischer Geräte, Computer, Beamer, Verteiler, Drähte, Lautsprecher, die in Gang gesetzt werden, nicht funktionieren, Irritation der Vortragenden hervorrufen, durch Unaufmerksamkeit auf den Boden fallen, wieder angeschlossen werden, jedenfalls eine Menge an Aufmerksamkeit erregen und sich dabei als eine machtvolle Instanz zwischen mich und das Bild an der Wand schieben.
Aber um das Bild an der Wand ging es ja gar nicht. Vielmehr um eine Bestandsaufnahme des state of the art von Vermittlung im Zeitalter der digitalen Medien. Dazu vermittelte der Kongress „netz.macht.kultur“ der Deutschen Kulturpolitischen Gesellschaft, der vorige Woche in Berlin stattfand, eine Reihe sehr eindrücklicher Beispiele von kulturellen Einrichtungen, die zur Zeit erfolgreich versuchen, mit viel Engagement die von Thomas Krüger, dem Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung, konstatierten „bewahrpädagogischen Duldungsstarre“ zu überwinden.
Und doch machte mir die räumliche Situation im Forum unmittelbar bewusst, dass die neuen technologischen Errungenschaften auch eine Form der Entfremdung darstellen. Ich erfahre ganz sinnlich, dass sich zwischen mich und das Kunstwerk immer mehr Personen und Apparate zu schieben versuchen, die nach erfolgreichem „Interagieren“ vorgeben, eine Brücke zwischen mir und der Kunst schlagen zu wollen und mich doch im selben Ausmaß ganz unmittelbar räumlich von eben dieser Kunst entfernen.
Digitale Vermittlung zwischen Annäherung und Entfremdung
Ungewollt wurde damit die Sitzanordnung bei diesem Forum zum Ausdruck einer Widersprüchlichkeit der Einschätzung der Konsequenzen der Digitalisierung des Kulturbereichs, der die gesamte Veranstaltung durchzogen hat. Es gehört zu den
Qualitäten der guten Vorbereitung dieses Kongresses, dass diese Gegensätzlichkeiten von Anfang an zum Ausdruck kommen durften und sich in zum Teil diametral unterschiedliche Positionen zu artikulierten vermochten.
Um an dieser Stelle möchte ich nur einige wenige Diskussionsfäden auszugreifen: So informierte die Content Managerin des Städel-Museums Frankfurt über eine Vielzahl neuer Kommunikationsformen, die das Haus seinen (potentiellen) NutzerInnen anbieten. Facebook, Twitter, Friendfeed, Lifestream, Flickr, Youtube oder Blog bilden die Bestandteile der von Daniela Bamberger sieben Tage in der Woche Tag und Nacht gemanagten Vernetzung mit der Städel-Community, im Rahmen derer die NutzerInnen elektronisch Fragen stellen, Kommentare abgeben, sich auf ihre Ausstellungsbesuche vorbereiten, ihre eigenen Galerien anfertigen oder für den Zubau spenden können. Und natürlich können die NutzerInnen auch über die Führungsthemen abstimmen, was mich zur Frage bringt, was das für die Themen bedeutet, die nicht erstgereiht wurden – und damit für diejenigen, die sich als eine für irrelevant erklärten Minderheit dafür interessiert hätten.
Wie überhaupt ein Hang zu einer „Vermainstreamung“ unübersehbar ist, wenn die Rückmeldungen auf die Ausstellung „Sandro Botticelli“ genau jene Klischees zu verfestigen scheinen, die Kunstvermittlung einst aufgebrochen ist, zugunsten neuer sinnlich-ästhetischer Erfahrungsräume hinter sich zu lassen. Jedenfalls lassen die bekannt gemachten Feedbacks in ihrer inhaltlichen Bescheidenheit vermuten, dass sich die RückmelderInnen in ihren diesbezüglichen Erkundungen nicht sehr weit vorgewagt haben.
Für eine Kultureinrichtung wie das Städel-Museum ist es sicher ein entscheidender Wettbewerbsvorteil, auf diese Weise mehr über die Gewohnheiten und Erwartungen seiner potentiellen NutzerInnen zu erfahren. Und doch kann man bei der Beobachtung dieser neuen Formen der digitalen Interaktion auch den Eindruck einer massenhaften Verfestigung bestehender Attitüden bekommen.
Die Fortsetzung des Wettbewerbs auf technologisch avanciertem Niveau?
Auf struktureller Ebene machte der Einblick in die Städel’sche Erfolgsgeschichte seiner digitalen Neuverortung im öffentlichen Raum ein gravierendes kulturpolitisches Problem deutlich. Immerhin suggeriert der Eintritt in den digitalen Raum den Abbau hierarchischer Verhältnisse, der allen TeilnehmerInnen gleichberechtigte Zugangschancen verschaffen würde. Ausgeklammert wird (und wurde auch während des Kongresses) der Umstand, dass dieser Eintritt in diese Arena die Bereitschaft zur Mitwirkung an einer neuen Form des Kampfes um Aufmerksamkeit bedeutet.
Ja, alle haben die Chance, ihre spezifischen Inhalte und ihre daran geknüpften Kommunikationsangebote anzubieten. Und doch ist zu vermuten, dass mit der Eröffnung dieser neuen Runde des Wettbewerbs mit technologisch aufgerüsteten Mitteln nicht alle Angebote per se den gleichen Grad an Aufmerksamkeit finden werden, etwa wenn es darum geht – wie das das Dresdener Beigeordnete für Kultur drastisch auf den Punkt gebracht hat – eine Balance zwischen dem Besuch einer Block-Buster-Auststellung im Städel-Museum in Frankfurt und dem einzigen erhaltenen Wohnort des Komponisten Carl Maria von Weber in seinem Heimatort Dresden herzustellen.
Der Verlust der Kostbarkeit
Dazu noch eine heikle Anmerkung; Angesichts des immer unübersichtlicheren Angebots im digitalen Raum ist mir der Verlust des Begriffs „Kostbarkeit“ aufgefallen. Das ist möglicher Weise kein Zufall. Gegen seine Verwendung suggeriert der digitale Raum, dass immer schon alles da ist und nur darauf wartet, endlich wahr genommen, genutzt, kommentiert oder sonst wie verwendet zu werden. Da ist nichts mehr, was angesichts suggerierter medialer Allverfügbarkeit die Zuschreibung „kostbar“, weil einzigartig, zumindest besonders herausragend verdienen würde; ein Umstand, der auch etwas über die Änderungen unserer kulturellen Wertvorstellungen insgesamt erzählt, die sich nicht mehr am Mangel sondern am Überschuss kultureller Angebote orientieren, die, nach den Vorgaben der Industrie auf Gedeih und Verderb, an die potentiellen NutzerInnen herangetragen werden müssen während sie für den großen Rest der NichtnutzerInnen als Wert überhaupt nicht mehr erkannt werden.
Das Ende von Kulturpolitik im digitalen Raum?
Im Verhältnis von ProduzentInnen und RezipientInnen machte dieser Kongress einen gravierenden Unterschied im kulturpolitischen Zugang deutlich. Wurden und werden im physischen kulturellen Raum immer wieder kulturpolitische Maßnahmen überlegt (und da oder dort auch umgesetzt), um eine auf vielfältige Nutzung gerichtete Nachfrage Rechnung zu tragen, so hat sich im digitalen Raum die Kulturpolitik als steuernde Kraft weitgehend verabschiedet (ihr wird in der Zuschreibung als überkommenes Verwaltungshandeln zur Fortschreibung bestehender Ungleichheiten bestenfalls eine beharrende, die aktuelle Dynamik bestenfalls bremsende Wirkung zugesprochen).
Kein Kulturpolitiker weit und breit, der noch einmal versuchen wollte, im Kontext der digitalen Medien das Mitwirkungsverhalten einzelner Bevölkerungsgruppen zu beeinflussen. So konnte man im Lauf des Kongresses den Eindruck gewinnen, der digitale öffentliche Raum sei restlos „entpolitisiert“ und würde weitgehend den Marktkräften im Spannungsverhältnis von Angebot und Nachfrage überlassen. Sie alleine seien in der Lage, dank der neuen technischen Möglichkeiten der Interaktion die Verhältnisse vor allem zwischen den Institutionen und ihren NutzerInnen neu zu bestimmen.
Anders im Bereich der Produktion, für die sich die Kulturpolitik noch einmal deutlich zuständig erklärte. Dabei ging es vor allem um die Aufrechterhaltung des bisherigen Urheberrechtsverständnisses: Während sich der für Kultur zuständige deutsche Staatsminister Bernd Neumann bereits in seiner Eröffnungsrede sehr deutlich für den Fortbestand eines, aus vordigitalisierten Zeiten stammenden subjektzentrierten Urheberrechts auch im virtuellen Raum aussprach, verkündete der niederländische Medientheoretiker Geert Lovink auf Grund der völlig geänderten Produktionsverhältnisse den „Tod des Urheberrechts“. Und zwischen diesen beiden Extremen schwang dann auch die Diskussion während der gesamten Konferenz, die durch die jüngste kriminalpolizeiliche Sperre der Filmplattform „kinot0“ besondere Brisanz erlangte.
Das Ende des Kunstspiels
Noch einmal einen ganz anderen Ton schlug der mit seiner Studie „Die Erlebnisgesellschaft“ bekannt gewordene Soziologe Gerhard Schulze in seinem Vortrag „Strukturwandel und Öffentlichkeit 2.0“ an. In Weiterentwicklung der gleichnamigen Habilitationsschrift von Jürgen Habermas konstatierte er eine fundamentale Veränderung dessen, was bislang als „öffentlicher Raum“ gegolten hat. Unter der Überschrift „Marginalisierung“ vermeldete Schulze „den Verlust der Kunst“ als Leitmedium der gegenwärtigen pluralistischen Gesellschaften. Stellte für die bürgerliche Öffentlichkeit die Kunst noch das höchste Gut dar, um auf diese Weise als Quelle des bürgerlichen Selbstbewusstseins zu firmieren, so habe sich diese Qualität zunehmend an die Ränder verschoben. Damit mutiere das Kunst-Spiel nicht mehr die Eintrittskarte ins gesellschaftliche Leben sondern die Bereitschaft, sich in eine von vielen Nische zu begeben: „Wenn ich in die Oper gehe, bin ich nicht (mehr) am Puls der Öffentlichkeit, vielmehr suche ich eine Nische auf. Gleiches gilt für Einkaufzentren, Kneipen, Automobilmessen, Fernsehformate oder Swinger Clubs. An die Stelle eines gemeinsamen Kristallisationskerns sind zahllose Andockmöglichkeiten für ebenso zahllose Interessen, Idiosynkrasien und Obsessionen getreten“. Der Bezug zum Tagungsthema: Die Digitalisierung aller Lebensbereiche beschleunige den Trend zur Marginalisierung und führe darüber hinaus zur Auflösung des „Kunstspiels“: „Die digitale Öffentlichkeit hat das Kunstspiel hinter sich gelassen. Damit verbindet sich eine Einebnung in zweierlei Hinsicht: eine Egalisierung der Werke und eine Demokratisierung der Rezipienten“.
Für die einen mag dieser Befund einer, die Fundamente der Profession erschütternden narzisstischen Kränkung gleichkommen, wenn damit die gesellschaftliche Deutungskraft ihres idealistisch aufgeladenen Gegenstands Kunst und Kultur relativiert wird. Für die anderen hingegen mögen die Ausführungen Schulzes, der für einen Wissenschafter in erstaunlich neokonservativer Attitüde schon einmal das Theaterschaffen der letzten Jahre als insgesamt „idiotisch“ wegzuwischen vermochte, entlastend wirken, weil sie sich damit ohne Berührungsängste in das überbordende Angebot eines weitgehend digitalisierten Marktes einzuordnen vermögen.
Folgt Österreichs Kulturpolitik bereits Schulzes Marginalisierungsthesen?
Aus österreichischer Sicht war vor allem erstaunlich, dass eine solche, durchaus auf Kontroverse angelegte kulturpolitische Fachveranstaltung in Zeiten, in denen „Rettungsschirme für Banken mit Sparpaketen für Kultureinrichtungen“ (Thomas Krüger) korrelieren, überhaupt stattfinden kann. Hierorts scheint sich die Szene bereits weitgehend damit abgefunden zu haben, dass die österreichische Kulturpolitik die Schulze’schen Befunde der Marginalisierung antizipiert hat, um gar nicht mehr auf die Idee zu kommen, dass ihre Weiterentwicklung unmittelbar an die Aufrechterhaltung diskursiver Räume geknüpft ist. Dass einzelnen Akteuren die Bereitschaft zur Diskussion nicht verloren gegangen ist, zeigte die große Zahl kulturpolitischer ExilantInnen bei dieser Fachtagung, zu der auch die SPÖ-Kultursprecherin Sonja Ablinger gehörte.
Das Stapferhaus und seine aktuelle Ausstellung „Home – Willkommen in der virtuellen Heimat“ als Beispiel von Good Practice
Zum Abschluss möchte ich auf ein besonderes Beispiel von Good Practice hinweisen, das auch bei „netz.macht.kultur“ vorgestellt wurde. Es geht um die Ausstellung „Home – Willkommen im digitalen Leben“, die vom Stapferhaus im schweizerischen Lenzburg ausgerichtet wurde. Als ein Angebot an die BesucherInnen, sich mit den vielfältigen Einflüssen der digitalen Technologien auf unsere Lebens- und Arbeitsformen auseinander zu setzen, schafft sie nicht nur interaktive Räume sondern – wie in den Satzungen des Stampferhauses vorgesehen – ganz unmittelbar Kultur.
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