
Über den Verlust künstlerischer und intellektueller Ansprüche
Im letzten Blog-Eintrag habe ich von den erstaunlichen Bemühungen der australischen Kulturpolitik berichtet, den kulturellen Besonderheiten der indigenen Bevölkerung zu entsprechen. Die ausgestellten Objekte indigener KünstlerInnen im Ian Potter Centre an der Schnittstelle zwischen Kulturgegenstand und Kunstwerk provozieren mich, über das keineswegs geklärte Verhältnis von Kunst und Kultur und damit den Inhalt von Kulturpolitik nachzudenken.
Ausgangspunkt dafür waren für mich die Erfahrungen beim World Summit for Arts and Culture: Dort war völlig klar, dass der überwiegende Anteil der Delegierten sich einem „weiten Kulturbegriffsverständis“ verpflichtet fühlt, das sich auf ein kulturelles Selbstverständnis möglichst aller Menschen und nicht nur einer kleinen Gruppe von KünstlerInnen bezieht.
Sie wussten sich dabei in einer Linie mit der UNESCO-Deklaration für kulturelle Vielfalt, die 2001 verabschiedet wurde und festschreibt, „dass Kultur als Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften angesehen werden sollte, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen, und dass sie über Kunst und Literatur hinaus auch Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen umfasst“.
Soweit, so gut. Immerhin lässt sich ein über die traditionelle Kunstproduktion hinausweisender Definitionsversuch von „Kultur“ als Ergebnis einer politischen Emanzipationsleistung interpretieren, die nicht nur einer überwiegend europäisch gebildeten Elite „Kultur“ zuspricht sondern allen Menschen in allen Weltgegenden, zumindest soweit sie sich symbolischer Kommunikationsformen bedienen.
Dazu hat z. B. die Birmingham School of Cultural Studies mannigfache Anregungen geliefert, wenn es in den 1960er und 1970er Jahren darum ging, das bis dahin vorherrschende Verständnis von „Kultur“ als Herrschaftsmittel einer selbsternannten Elite zu decouvrieren und in entsprechender Gegenwehr einen anderen, weiten Kulturbegriff dafür zu nutzen, um im Klassenkampf den unterdrückten Teilen der Gesellschaft eine neue Erfahrung als politische Subjekte zu verschaffen.
Von diesen, mit kulturellen Mittel geführten politischen Emanzipationsversuchen ist vor allem eines geblieben: Der zunehmend pejorative Gebrauch des Begriffs „Hochkultur“, der vor allem im Soziologenjargon mittlerweile zu einem Schimpfwort verkommen ist.
Es gibt also einigen Grund, das weltweite Postulat eines weiten Kulturverständnisses als eine erfolgreiche Abwehr spätkolonialer eurozentristischer Kunstvorstellungen zu feiern, bliebe da nicht ein fragwürdiger Nebeneffekt. Dieser besteht für mich in einer zunehmenden Kunst- und darüber hinaus Intellektuellen feindlichen Haltung nicht nur der in Melbourne versammelten kulturpolitischen Gemeinde. Sie affirmierte in naivem Stauen die diversen Folklore-Darbietungen ohne jeden Anspruch auf ihre gesellschaftspolitische Verortung; jede noch so vorsichtige kritische Reflexion wäre nachgerade einem Affront gleichgekommen.
Diese Erfahrungen habe ich nicht nur in Melbourne gemacht. Sie scheinen mir mittlerweile konstitutiv für weite Teile des Diskurses insbesondere rund um das Thema arts education, der zunehmend dabei ist, sich von „The Arts“ als eine professionellen Form der Auseinandersetzung der Welterfahrung mit ästhetischen Mitteln verabschieden. Als besonders Beispiel habe ich die Beobachtungen in Anne Bamfords „Wow-Factor“ in Erinnerung, wenn dort – als besonderer Beitrag der sogenannten Entwicklungsländer – das Lackieren der Fingernägeln von jungen Frauen oder das kunstvolle Zusammenstecken der Frisuren zum Maßstab von arts education gepriesen wird. Da ist es nur konsequent, wenn die „UNESCO-Road-Map for Arts Education“ in eine ganz ähnliche Richtung weist.
Vor ein paar Tagen konnte ich ein Gespräch mit Carmen Mörsch, die als Leiterin des Bereichs Art Education an der Zürcher Hochschule der Künste an der Formulierung einer „alternativen Road-Map“ arbeitet, führen. Dabei machte sie mich auf den möglichen kolonialen Charakter dieser Form der Zelebration eines derart kunstfreien Kulturbegriffs aufmerksam. Immerhin blende dieser die Existenz von KünstlerInnen und Intellektuellen gerade in den Drittweltländern aus und erschwere dieser – politisch ohnehin überdurchschnittlich gefährdeten Gruppe – die notwendige Anerkennung.
Für die kulturpolitischen VertreterInnen aus den Industriestaaten liegt der Vorteil auf der Hand: Sie müssen sich auf die Mühen eines oft mühsamen Kunstdiskurses erst gar nicht mehr einlassen. Sie können sich auf die Affirmation eines kuriosen kulturellen Verhaltens beschränken, ohne verunsichernde Reflexionsleistungen erbringen zu müssen. Frei nach dem Motto: „Uns die Kunst (auch wenn sie uns in unserer täglichen Arbeit nicht tangiert) und den anderen die Kultur, die vermeintlich unmittelbar und daher anstrengungslos wahrgenommen werden kann“ hat sich hier ganz offensichtlich eine neue Ungleichheit herausgebildet, der es sich lohnen würde, genauer nachzugehen.
Mit der Erfahrung aus Melbourne scheint mir der Anspruch von Kunst als einer elaborierten Form der Welterfahrung, die über die jeweiligen kulturellen Kontexte ihrer Entstehung hinausweist, zunehmend aus der kulturpolitischen Diskussion ausgeblendet. Da droht eine neue Form der intellektuellen Selbstgenügsamkeit, die nur allzu leicht die politischen Intentionen, die die ursprünglichen Konstruktionsversuche eines weiten Kulturbetriffsverständnisses begleitet haben, vergessen macht.
Was bleibt ist die naive Wahrnehmung unterschiedlicher kultureller Phänomene unter weitgehender Ausgrenzung derer, die über das professionelle Rüstzeug verfügen würden, diese Phänomene einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Und die gibt es nicht nur in Europa, sie gibt es auch in der südlichen Hemisphäre und wir wären gut beraten, sie – schon aus Gründen der eigenen kulturellen Weiterentwicklung – in wertschätzender Weise wahrzunehmen und in der Folge in den kulturpolitischen Diskurs einzubeziehen.
Pius Knüsel, Direktor von Pro Helvetia war einer der prominenten Gegenstimmen, wenn er verlangt hat, die grassierende Abwertung von Kunst unter vermeintlich fortschrittlichen Vorzeichen innerhalb des kulturpolitischen Diskurses zu überdenken.
Tun wir das nicht, können wir uns möglicher Weise die weitere kulturpolitische Diskussion überhaupt schenken. Immerhin hat die zunehmende Marktorientierung der letzten Jahre auch und gerade im Kulturbereich gezeigt, dass die Kulturindustrie weit eher in der Lage ist, uns mit den noch so exotischen kulturellen Ausdrucksformen bekannt zu machen, mehr jedenfalls, als sich die Betreiber einschlägiger kulturpolitischer Maßnahmen auch nur träumen lassen.
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