Über ein altes „Gesetz gegen Schmutz und Schund“ aus dem Jahr 1950 und was davon bis heute weiter wirkt
Vor ein paar Tagen fand in Moskau eine Kulturministerkonfrenz zum Thema „Governance of Culture – Promoting Access to Culture“ statt. Nun treffen sich Kulturminister in regelmäßigen Abständen. Dass sie für ihr Treffen in Russland ausgerechnet den Titel „Governance in Culture“ haben, ist allemal erstaunlich. Das Putin-Regime steht ja für alles mögliche, keinesfalls aber für die Überwindung hierarchischer Government- Strukturen zugunsten „somehow more advanced, frictionless, voluntaristic-consensuel and more freedom-protecting approach to socio-political regulation“ (zitiert nach Andrew Jordan u.a. in “The Rise of New Policy”). Die jüngsten Verhaftungen von Kulturschaffenden in Russland lassen jedenfalls nicht auf einen friktionslosen, an der Freiheit der Kunst orientierten, Umgang mit kritischen KünstlerInnen denken.
„governance“ schlägt „government“
Der deutsche Soziologe und Politikwissenschafter Claus Offe ist in einem Beitrag „Governance: An ‚Empty Signifier‘?“ bereits 2009 der grundsätzlichen Frage nachgegangen, was es mit der erstaunlichen Konjunktur des Begriffs „governance“ auf sich hat, der ganz offensichtlich versucht, tradierte Formen von „government“ als strikte Herrschaftsform hinter sich zu lassen. Er kam damals zu einem durchaus widersprüchlichen Schluss, wenn er den inhaltlichen Anspruch, „cognitive and moral resources of citizens“ in den Prozess der politischen Entscheidungsfindung einzubeziehen mit den Realitäten einer zunehmend „manipulative, depoliticizing, discriminating, paternalistic, patronizing and populist“ Politikgestaltung ins Verhältnis setzt. Und in der Tat ist es gerade dieser Widerspruch, der mir dazu einfällt, wenn ich von einer Veranstaltung auf höchster politisch Ebene in einer „gelenkten Demokratie“ mit dem Ziel einer gewollten Einbeziehung der BürgerInnen – und sei es in der Kultur – lese.
Bitte notieren: „Reinventing Cultural Policy?“ – eine Konferenz zu europäischer Kulturpolitik am 3. Juni an der Universität für angewandte Kunst Wien
Dazu eine Vorinformation: Die Universität für Angewandte Kunst plant für den 3. Juni eine ganztägige Veranstaltung zum Thema „Reinventing Cultural Policy? – Good Governance and Cultural Policy“. Mir kam die Aufgabe zu, die Veranstaltung inhaltlich auszurichten und ich hoffe sehr, dass wir zusammen mit einer Reihe europäischer Gäste, u. a. Helmut Anheier von der Hertie-Universität Berlin, Kathrin Watson von der European Cultural Foundation, Asu Aksoy von der Bilgi University Istanbul, Vesna ?opi? vom slowenischen Kulturministerium oder Dessy Gavrilova vom Red House in Sofia neue Entwicklungstrends der Kulturpolitikkonzeption und -umsetzung werden diskutieren können. Aus Österreich haben sich u. a. Gerfied Stocker vom AEC Linz, Matthias Naske, der neue Leiter des Wiener Konzerthauses und Sabine Vogel von der Angewandten angesagt.
Der Titel der Moskauer Konferenz hatte aber auch noch einen zweiten Teil, der mit „Promoting Access to Culture“ ein weiteres Catchword der aktuellen Kulturpolitik vor sich hertrug. Es ist ja durchaus erfreulich, dass „Access to Culture“ zur Zeit aller Orten Konjunktur hat; relativiert wird diese Freude freilich durch die Unbestimmtheit der Aussage, wessen Zugang da unter welchen Umständen und zu welcher Kultur gefördert werden soll (bzw. was jetzt anders sein soll als in Zeiten, als sich KulturpolitikerInnen ab den 1970er Jahren darin überboten, einen „weiten Kulturbegriff“ oder die „Demokratisierung der Kultur“ zu propagieren).
Aber vielleicht gibt es mehr Klarheit nach der Lektüre der Dokumente, die in Moskau verlesen und verfasst worden sind: Ministerin Claudia Schmied hielt eines ihrer emphatischen Plädoyers zugunsten der „Teilhabe an Kunst und Kultur und die Schaffung des Zugangs zu Kunst und Kultur“, die sie als „grundlegende Werte der Demokratie und Menschenrechte“ bezeichnete. Eine mögliche Präzisierung ergab sich aus ihrem Hinweis, der Ort der Konferenz, das Bolshoi-Theater , würde hervorragend zu diesem Thema passen, zumal es ihr besonders wichtig wäre, „kulturelle Stätten – Theater, Museen – zu öffnen, vor allem für die junge Generation“. Als Problem formulierte sie, dass der Zugang zu Kunst und Kultur nach wie vor wesentlich von der Herkunft und damit von der Macht der Vergangenheit dominiert würde: „Es ist immer noch so, dass Menschen meinen‚ für die Oper bin ich nicht gut genug, da gehöre ich nicht dazu.“ Diese Barrieren im Kopf – so meinte sie gegenüber ihren MinisterkollegInnen – müssten überwunden werden.
Und was, wenn noch mehr in die Oper gehen wollen?
Offenbar in Erfüllung dieses kulturpolitischen Auftrags hat sich der Staatsoperndirektor Dominique Meyer nach langer Zeit dazu entschlossen, speziell für Kinder die Oper Pollicino von Hans Werner Henze auf die Hauptbühne zu bringen. Ob sie den erwünschten Zweck erfüllen wird, bleibt nach den Kritiken abzuwarten. Was aber in jedem Fall bleibt, das ist ein quantitatives Problem: Ich weiß nicht, wie sich die Auslastungszahlen zuletzt für das Bolshoi-Theater entwickelt haben. In Wien hat erst vor kurzer Zeit Direktor Meyer stolz seine aktuellen Auslastungszahlen mit 99,19% angegeben. Von allfälligen Anbauplänen zur Vergrößerung des Zuschauerraumes, um all die aufzunehmen, die neuerdings „access to culture“ bekommen sollen, ist mir nichts bekannt. Darüber hinaus erinnere ich mich an einschlägige Maßnahmen der angesprochenen „Kulturstätten“ bereits in den 1980er Jahren, wenn kulturpolitische Vorgaben dazu führten sollten, neue Publikumsschichten anzusprechen und an sich zu binden. Diese wurden durchaus kontrovers diskutiert, wenn etwa Claus Peymann den Altersdurchschnitt der durchschnittlichen BurgtheaterbesucherInnen nachhaltig verjüngte und dabei gleich auch das Programmangebot veränderte. Oder wenn Gerard Mortier für viel Unmut bei den etablierten BesucherInnen der Salzburger Festspiele sorgte, die sich damit anfreunden mussten, neben StudentInnen Platz nehmen zu müssen.
Meine Vermutung: Ein auch noch so gut gemeinter kulturpolitischer Wille wird in absehbarer Zeit die Millionen junger Menschen in Österreich nicht zu Stammgästen der angesprochenen Einrichtungen machen, deren Existenz sie der von Claudia Schmied angesprochenen „Macht der Vergangenheit“ verdanken (das trifft wohl auch auf das Landestheater in Linz erst zu, das erst vor wenigen Tagen neu eröffnet wurde). Mit Ausnahme einer kleinen Minderheit wird das Gros der jungen Menschen – in Zukunft mehr denn je – auf vielfältige andere kulturelle Angebote verwiesen sein, die ein weitgehend kulturpolitikfreier Freizeitmarkt bereithält. Das eigentliche kulturpolitische Problem liegt daher nicht im Umstand, dass nicht alle Menschen die Angebote der angesprochenen Kultureinrichtungen nutzen können oder wollen, sondern dass die Kulturpolitik einen blinden Fleck entwickelt hat, der sie übersehen lässt, was für Mehrheiten kulturell von Belang ist. Auf dieses Defizit haben die in Moskau vertretenen KulturministerInnen durchaus Bezug genommen, wenn sie im Final Document u.a. die Forderung erheben „to insist on the need to reflect on the consequences of changes in cultural production, consumption and in the means by which culture is diffused, especially through the digital revolution, which influences strongly the cultural environment”.
Der Kulturbetrieb als machtvolles staatliches Erziehungsinstrument
Just zum Zeitpunkt der Konferenz berichtete in der Ö1-Radiosendereihe „betrifft: Geschichte“ die Medientheoretikerin Edith Blaschitz von einem kulturpolitischen Kuriosum der besonderen Art: 1950 beschloss der österreichische Nationalrat ein Bundesgesetz „über die Bekämpfung unzüchtiger Veröffentlichungen und den Schutz der Jugend gegen sittliche Gefährdungen“. Den Hintergrund dazu lieferte der Versuch aller politischen Lager, wenngleich das christlich-konservative am aktivsten war, der Durchdringung der österreichischen Gesellschaft mit vergleichsweise jungen Kulturmedien, allen voran dem Film, aber auch Comics oder Jazz-Musik einen gesetzlichen Riegel vorzuschieben.
Ganz offensichtlich hatten die damaligen Kulturpolitiker klare Vorstellungen über die kulturellen Ausdrucksformen, die die Stärke und Bedeutung Österreichs und seiner Bevölkerung ausmachen würden – und was nicht. Durchgesetzt werden sollte ein, in eine vermeintlich bessere Vergangenheit gerichteter Kulturbegriff, der sich politisch klar und deutlich von einer abweichenden, „minderwertigen“ Kultur abgrenzen ließe. Auch ganz ohne offizielle Losung von „Access to Culture“ wurde der Besuch von Museen, Bibliotheken, darüber hinaus von Einrichtungen der etablierten bildenden Kunst oder der klassische Musik propagiert. Vor allem Kinder und Jugendliche sollten von allem „Belastenden“ und „Hässlichen“, die mit den neuen kulturellen Ausdrucksformen transportiert werden, ferngehalten und – wie könnte es anders sein – dadurch zu Demokratie, Frieden und Humanismus erzogen werden.
Es ist heute kaum mehr nachvollziehbar, mit welcher Härte vor allem die neuen visuellen Medien bekämpft wurden, wenn hunderttausende Mitglieder der Katholischen Aktion sich gegen jegliche Filmveröffentlichung wandten und Comics als Quelle allgemeinen Analphabetentums gebrandmarkt wurden: „Sie schaffen eine Atmosphäre der Grausamkeit und des Abwegigen. Sie vermitteln verbrecherische oder sexuell abnorme Ideen. Sie schwächen die natürlichen Kräfte, ein gesundes und anständiges Leben zu führen“, so der erste Leiter des „Buchklubs der Jugend“ und Hauptinitiator des Schmutz-und-Schund-Gesetzes Richard Bamberger.
Niemand glaubt heute mehr, dass „in weniger als hundert Jahren der letzte Neger (…) und Polareskimo seine analphabetische Unschuld verliert und Comics liest, während in den zivilisierten Ländern von Tausend nicht einer mehr lesen kann“ (Stefan Andres zitiert von Bamberger). Also könnten wir das Thema abhaken und uns damit begnügen, mit welcher Nonchalance sich damals der oberste Hüter des guten Buches einer politisch inkorrekten Sprache bedienen konnte, ohne – wie heute – mit Forderungen konfrontiert zu werden, die von ihm empfohlenen „guten“ Bücher gefälligst politisch korrekt umzuschreiben.
Wirkt das Gesetz bis heute?
Warum ich zögere liegt an dem Umstand, dass – bei aller Pluralisierung der kulturellen Ausdrucksformen, die mittlerweile auch Österreich erreicht haben – zumindest zwei zentrale Elemente der damaligen kulturpolitischen Kontroverse bis heute in Kraft zu sein scheinen: Zum einen ist da die ungebrochene Ideologie, der Besuch von „Kulturstätten“ hätte per se positive Auswirkungen – nicht nur auf den Besucher selbst, sondern gleich auf die ganze Gesellschaft. Offenbar ist da nichts übriggeblieben von den kritischen kulturpolitischen Analysen vor allem der 1970er Jahre, wonach diese Einrichtungen in erster Linie eine kulturelle Hegemonie einer kleinen Gruppe repräsentieren würde, um sich damit von der Mehrheit abzugrenzen. Sie haben selbst im linken Lager auf dem Marsch durch die Institutionen trotz all der damals ausgestoßenen Drohrufe wie dem von Pierre Boulez „Schlachter die heiligen Kühe!“ keine nachhaltige Wirkung entfaltet.
Die nachhaltige Diskriminierung der „neuen Künste“
Und da ist zum anderen der Befund, dass just diejenigen Einrichtungen, die 1950 gegen jeglichen kulturellen Modernisierungsprozess in Stellung gebracht worden sind, bis heute zu den großen Nutznießern staatlicher kulturpolitischer Priorisierung zählen. Als ob nichts geschehen wäre, geht an sie ungebrochen das Gros öffentlicher Kulturförderung, während diejenigen Kunstformen, die damals ausschließlich unter dem Aspekt der Jugendgefährdung verhandelt wurden, bis heute von Brosamen öffentlicher Berücksichtigung leben müssen. Weitgehend auf einen kommerziellen Markt verwiesen, stellt sich für ihre ExponentInnen gar nicht die Frage, ob es gelingt, „Access to Culture“ zu geben; sie sind schlicht existentiell darauf angewiesen, auf interessierte NutzerInnen zu treffen (die es im übrigen ziemlich seltsam finden würden, mit der Inanspruchnahme des jeweiligen Angebots der zunehmenden Demokratieverdrossenheit Abhilfe schaffen zu sollen).
Die Gegenüberstellung „Kampf gegen Schmutz und Schund“ da und „Access to Culture“ dort verweist einerseits auf den Umstand, wie nachhaltig kulturpolitische Wirkungen sein können und andererseits, dass „Promoting Access to Culture“ möglicherweise auf bestehenden kulturpolitischen Strukturen aufsitzt, als wir es fürs Erste wahrhaben wollen. Zu vermuten ist, dass sich neue Möglichkeiten des Zugangs zu dem, was staatlicherseits unter Kultur verstanden werden will, erst dann ergeben, wenn erstens öffentliche Kulturpolitik den ehedem diskriminierten Kunstformen einen auch materiell gleichwertigen Stellenwert einräumt und wenn sie zweitens das kulturelle Selbstverständnis der Menschen, denen „Access to Culture“ gewährt werden soll, nicht weiterhin als irgendwie defizitär und unzulänglich, sondern als solches ins Zentrum kulturpolitischen Handelns rückt.
Ob sich daraus schon ein Szenario des Übergangs von kulturpolitischem „government“ zu „governance“ entwickeln lässt, sei dahingestellt. Ein Versuch, einem überkommenen Kulturpessimismus entgegenzuwirken, der sich heute vor dem Hintergrund der massenhaften Nutzung von Computerspielen durch junge Menschen derselben Sprache bedient wie gegenüber dem Filmschaffen der 1950er Jahre, wäre es allemal.
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